Licht am Ende des Tunnels

⋄ Die Energieversorgung im Gazastreifen ist unzureichend, unzuverlässig und wird weitgehend von Israel kontrolliert.

⋄ Solarenergie ist eine Möglichkeit, unabhängig und dezentral zusätzliche elektrische Energie zu gewinnen.

⋄ Drei Autoren der Hebräischen Universität Jerusalem untersuchten die Entwicklung der Solarenergie im Gazastreifen.

⋄ Die Autoren werteten Satellitenbilder mittelseines selbstlernenden Programms aus, dass automatisch Solaranlagen erkennt.

⋄ Die Autoren zeigen, dass die Bedeutung der Solarenergie im Gazastreifen bisher deutlich unterschätzt wurde. Sie macht mittlerweile etwa 25% des Energiemixes aus.

Solarenergie wird heutzutage vorrangig unter dem Aspekt der ökologischen Wende diskutiert. Als Mittel der Geopolitik wird die sie jedoch noch in der Forschung unterschätzt. Dabei wissen gerade Marxist*innen um die enge Verknüpfung der Entwicklung der Produktionsmittel mit den Produktionsverhältnissen. In einer Welt, in der der Zugang und die Kontrolle über Energieressourcen zu einem der bedeutendsten geopolitischen Faktoren darstellt, ist die Solarzelle plötzlich zum Akteur geworden. Solarzellen lassen sich dezentral installieren und wartungsarm betreiben. Politische oder ökonomische Monopole in der Energieversorgung können somit leichter hintergangen werden. Sie sind zudem für eine breite Masse erschwinglich. Einzig von den Naturkräften sind sie abhängig; der unkontrollierbaren Wolkenbildung und dem regelmäßigen Stand der Sonne.

Itay Fischhendler, Lior Herman und Lioz David von der Hebräischen Universität in Jerusalem untersuchten die Verbreitung der Solarenergie im Gazastreifen und ordneten ihre Stellung im Konflikt mit Israel ein.

Moist Light Tunnel Underpass Concrete Away Gloomy

Energieversorgung im Gazastreifen

Der Gazastreifen ist der Brennpunkt des Nahostkonflikts. Im Rahmen des Osloer Friedensprozesses wurde die Verwaltung an die Palästinensische Autonomiebehörde abgetreten. Seit 2006 regiert die Hamas – eine der Folgen der Operation Gegossenes Blei – und erleichtert so paramilitärischen Verbänden den bewaffneten Kampf gegen Israel. Israel selbst verhängt seit 2007 eine Seeblockade und kontrolliert restriktiv die Einfuhr industrieller Güter an den Grenzen.

120 MW der elektrischen Leistung stammen direkt aus dem israelischen Netz, während 80 MW von einzigen örtlichen Elektrizitätswert produziert werden, welches aber von israelische Öllieferungen abhängig ist. Privat werden zusätzlich Dieselgeneratoren und Solaranlagen genutzt. Da der Energiebedarf Gazas auf etwa 450 MW geschätzt wird, muss die Unterversorgung auch als Schranke der industriellen Entwicklung angesehen werden. 45% der Bevölkerung sind arbeitslos. Die Verknappung der Energie befördert Korruption und damit die Herrschaft der Hamas. Und die Hamas-Regierung liefert wiederum den Vorwand für Restriktionen seitens Israel gegen die Palästinenser*innen.

So merkwürdig es zunächst klingen mag. Ein politischer Konflikt fördert unter Umständen den Ausbau regenerativer Energien. Zwar verhindern die Restriktionen, die labile Sicherheitslage und der Streit um die begrenzten Flächen den Ausbau großer Werke, aber auf der Suche nach importunabhängigen Mitteln der Energiegewinnung nimmt die Sonnenergie eine immer bedeutendere Stellung ein. Der unfunktionale Energiemarkt, die geringe Kaufkraft der Palästinenser*innen und die Sicheheitslage verhinderten bisher, dass sich die ausländische Bourgeoisie für Investitionen in den Solarsektor interessierte. Daher beruht der Ausbau der Kapazitäten hauptsächlich auf Spenden multinationaler (UNO, EU, …), nationaler und unabhängiger Hilfsorganisationen, sowie Crowd Funding. Da sich die Autonomiebehörde für die Frage von Solarenergie bisher kaum interessierte, war die Installation schnell und unbürokratisch möglich. Auf diese Weise entstand innerhalb weniger Jahre eine von der Hamas unabhängige Infrastruktur.

Machine Learning zur Analyse von Produktionsmitteln

Da der Großteil der Solarzellen für den privaten Haushalt gebraucht wird und nicht ins Verbundnetz eingespeist wird und da es noch keine vollständige bürokratische Erfassung der Kapazitäten durch Behörden gibt, standen die Autor*innen der Studie vor dem Problem, wie der Umfang an Solarstromerzeugung überhaupt zu bestimmen sei. Im Spannungsfeld des Nahostkonflikts wäre eine Umfrage sicher schwer gefallen. Daher bedienten sich die Autoren einer indirekten Observationsmethode. Sie kauften sich für die Jahre 2012, 2014, 2015, 2018 und 2019 Satellitenbilder des Gazastreifens und entwickelten ein Programm, welches mittels Machine Learning selbstständig die Anzahl und Größe installierter Solaranlagen ermitteln konnte. Mindestvoraussetzung war eine Kantenlänge von anderthalb Metern.

Fast interessanter als die Ergebnisse ist die Methode und ihr Potential. Es fehlt nicht an Literatur, welche Fragen von Klasse und Sozialstruktur mit denen des Raums, der Raumgestaltung und Geographie verbinden. Lassen sich Fragestellungen der Klassen- und Machtanalyse auf geographisch sichtbare Indikatoren herunterbrechen, stünde marxistischen Wissenschaftler*innen ein kostengünstiges und im wahrsten Sinne des Wortes materialistisches Verfahren zur Verfügung, um Erkenntnisse unabhängig von großen bürgerlichen Meinungsforschungsinstitute zu gewinnen. Ein guter lernender Algorithmus erfordert unbesehen einiges an Hirnschmalz und Erfahrung, aber auch diese Programme und Verfahren werden zunehmend standardisiert und damit leichter zugänglich.

Die Resultate: Massiver Ausbau der Solarenergie

Hischhendler, Herman und David konnten mit Hilfe ihrer Analyse aufzeigen, dass die Solarkapazitäten im Gazastreifen seit 2012 exponentiell gewachsen sind. Mit 25% an der Gesamtversorgung ist der Gazastreifen damit einer der regionalen Spitzenreiter. Die Entwicklung begann in den dicht besiedelten Gebieten, wie Großstädten und Flüchtlingslagern und dehnte sich mit der Zeit in die Dörfer und Vorstädte aus. Die größten Anstiege waren in Friedenszeiten zu beobachten, vermutlich als Vorbereitung auf eine Reeskalation der gewaltsamen Auseinandersetzungen. 99% aller Solaranlagen befinden sich auf Hausdächern, sodass Landflächen für anderweitige Nutzung zur Verfügung stehen. Die Solarkapazitäten konnten als weit höher als bisher angenommen, beziffert werden.

Die Fallstudie zum Gazastreifen besticht durch Design und Fragestellung. Die Vernetzung der geopolitischen Konfliktforschung mit Fragen der Produktivkraftentwicklung unter dem besonderen Aspekt erneuerbarer Energien ist spannend. Ähnliches ist für Nordkorea zu beobachten, wo die unsichere Versorgungslage mit elektrischer Energie dazu führte, dass viele Bürger*innen privat auf dem Balkon Solarplatten anbringen. Für den Gazastreifen wäre die Aussicht spannend, durch neue Formen der Energieversorgung sowohl von den korrupten Strukturen der Hamas als auch von der Willkür israelischer Sanktionen unabhängig zu sein und somit einen kleinen Schritt in Richtung einer unabhängigen Zivilgesellschaft bzw. einer autonomeren Arbeiter*innenklasse zu gehen.

Auf Grund fehlender Informationen wurde von den Autoren eine Auswertungstechnik benutzt, für die zwar einige grobe Schätzungen gemacht werden, die aber auf Primärdaten beruht und niedrige Zugangsvoraussetzungen hat. Vielleicht können Raumanalyse und Klassenanalyse, gestützt auf moderne Datenverarbeitung und unter der Bedingung zielgerichteter Fragestellungen in Zukunft ein fruchtbares Amalgam bilden.

Literatur

Itay Fischhendler, Lior Herman & Lioz David (2022): Light at the End of the
Panel: The Gaza Strip and the Interplay Between Geopolitical Conflict and Renewable Energy
Transition, New Political Economy, 27:1, S. 1-18.

Ein Kommentar

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert