Lula ante Portas

⋄ Am Sonntag wird in Brasilien ein neuer Präsident gewählt und der Kandidat der Arbeiterpartei Lula da Siva hat gute Chancen, zu gewinnen.

⋄ In den aktuellen Latin American Perspectives werfen dieverse Essays und Studien einen Blick auf die aktuellen Klassenkonflikte in dem südamerikanischen Land.

⋄ Sie zeigen, dass Brasilien trotz einiger Erfolge Lulas eines der zehn ungleichesten Länder der Welt ist.

⋄ Außenpolitisch konnte Lula jedoch wenig erreichen und der Landraub durch das internationale Finanzkapital rückt die Landlosenfrage immer weiter in den Mittelpunkt.

⋄ Zudem ist die brasilianische Mittelklasse von einem tiefgehenden Rassismus gegen die Nordestinos durchsetzt, der rechten Narrativen den Nährboden bereitet.
auch im Kampf gegen die Ärzteversorgung WestfalenLippe, die in Brasilien mit Land spekuliert: die Landlosenbewegung MST

Am Sonntag wird in Brasilien ein neuer Präsident gewählt. Der Sieg Lula da Silvas gilt hierbei als sicher. In den Umfragen liegt er weit vor dem rechtsradikalen Amtsinhaber Bolsonaro, dessen Amtszeit auch jenseits der Corona-Pandemie weithin als Katastrophe gilt. Doch Lula wird nicht nur die Hypotheken seines Vorgängers erben. Dass der sanfte Putsch gegen die Präsidentin der Arbeiterpartei PT Dilma Rousseff 2015/16 erfolgreich sein konnte, hatte Ursachen und diese sind nicht verschwunden.

Die Latin American Perspectives haben die komplette Oktoberausgabe Studien zur brasilianischen Politik, Gesellschaft und ökonomie gewidmet. Sie entwerfen ein Mosaik der Widersprüche eines Landes der Semiperipherie, in der Not und Reichtum dicht beieinander liegen.

Politökonomische Bestandsaufnahme

Die Regierungszeit Lula da Silvas zwischen 2003 bis 2011, dazu gerechnet die Amtszeit Dilma Rousseffs bis 2016, gilt eigentlich als Goldenes Jahrzehnt Brasiliens. Die Wirtschaftskrise von 2008 überstand das Land weitestgehend unbeschadet und es konnte durch die günstige Weltmarktlage hohe Exportgewinne erzielen, welche die Arbeiterpartei für breitflächige Sozialprogramme nutzte. Den rechten Oligarchenfraktionen gelang es jedoch, in den Mittleschichten die Angst vor einer Überlastung der Staatsfinanzen zu schüren und Massenproteste gegen Rousseff zu initiieren, die in einem Amtsenthebungsverfahren mündeten. In Anbetracht der Umstände lässt sich sicher auch von einem sanften Putsch sprechen. Auf der Welle übertriebener Korruptionsvorwürfen gegen Lula und Rousseff, aber auch offener Gewalt auf den Straßen, gelang Jair Bolsonaro 2018 der Sieg in der Präsidentschaftswahl gegen einen farblosen ehemaligen Bildungsminister der Arbeiterpartei. Die Befürchtungen, Bolsonaro könnte eine faschistische Diktatur errichten, bewahrheiteten sich zwar nicht, allerdings trieb der Rechtsaußen die soziale Spaltung und Zerstörung der Umwelt weiter voran.

Ladislau Dowbor und Bruno Barbosa Cezar zogen in ihrem Artikel „Brazil facing more than the Pandemic“ eine soziale und ökonomische Bilanz der Politik seit Beginn der Regierung Lulas. Brasilien ist demnach immer noch eines der zehn ungleichsten Länder der Welt. In der Amtszeit Lulas und Rousseffs gelang zwar der allmähliche Rückgang der Ungleichheit, sie stieg unter Bolsonaro jedoch wieder an. Lula gelang auch die Senkung der von absoluter Armut betroffenen Bevölkerung um die Hälfte von fast 80 auf 35 Millionen Menschen. Entgegen der sich selbst zugeschriebenen wirtschaftlichen Kompetenz Bolsonaros sanken Bruttosozialprodukt und die Investitionen unter ihm beständig, während sich die Arbeitslosigkeit von 6% auf 12% verdoppelte. Das Staatsdefizit galoppierte unter Bolsonaro, während die Anzahl der Milliardäre die Marke der 200 durchbrach. Nicht für alles kann man dabei der Corona-Pandemie die Schuld geben. Die Studie zeigte eindrucksvoll, dass das Gros der Staatsausgaben unter der Regierung der PT garnicht in die soziale Umverteilung floss, sondern in die Subventionierung der Industrie. Es war nicht die Unterstützung der Armen, sondern die Unterstützung der Reichen, die den brasilianischen Haushalt belastete. Und Bolsonaro beschloss, die Umverteilung von unten nach oben weiter voranzutreiben. Die Folge waren Kaufkraftverlust, Einbruch der Binnennachfrage und die Zunahme der Exportabhängigkeit. Nur dadurch konnte die sinkende Nachfrage auf dem Weltmarkt durch die Pandemie in Brasilien den beobachteten Schaden anrichten.

Außenpolitik vor Bolsonaro

War Lula innenpolitisch also durchaus erfolgreich, lässt sich das von der Außenpolitik nicht behaupten. Den Aufstieg und Fall Brasiliens als Regionalmacht analysierte Raul Bernal-Meza. Nach ihm hatte Lula da Silva in seinen letzten Amtsperioden drei außenpolitische Schwerpunkte: den Erhalt eines permanenten Sitzes im UN-Sicherheitsrat, die politische Einigung Südamerikas und der Ausbau der Handelsbeziehungen mit China. Sein Leitbild war dabei das einer multipolaren und antihegemonialen Welt.

Die politische Einigung Südamerikas wollte Lula vorranging durch die Stärkung der Handelsorganisation Mercosur erreichen, der große Teile des Kontinents angehören. Auch wenn die Wiederbelebung der gemeinsamen Handelszone lange Zeit funktionierte, konnte Lula die Widersprüche zwischen den Staaten nicht überwinden. Dass Brasilien als größte Ökonomie übermäßig von Mercosur profitierte, blieb den anderen Staaten nicht verborgen. Obwohl die jahrelange Feindschaft zwischen Brasilien und Argentien beigelegt werden konnte, orientierte sich die Regierung Kirchner später wieder stärker nach Norden und Westen. Wechselnde links- und rechtspopulistische Regierungen fanden nie Vertrauen zueinander. Die Suspendierung Venezuelas 2016 machte Mercosur teilweise handlungsunfähig. Nicht einmal in Brasilien selbst konnte die Konstituierung Lateinamerikas als politisches Subjekt Konsens erlangen. Zu stark lockte der privilegierte Zugang zu den US-amerikanischen Märkten. Auch für die stärkere Integration in die BRICS-Staaten hatte seine Reibungsverluste. Der antihegemoniale Konfrontationskurs mit den USA war mit ökonomischen und politischen Kosten verbunden, die Teile der Eliten nicht tragen wollten. Der verstärkte Handel mit China konnte nicht alle gewünschten Ergebnisse erfüllen. Chinas Wirtschaft war weit entwickelter und differenzierter. China profitierte stärker von den Beziehungen als Brasilien als umgekehrt, war aber nicht auf das Land angewiesen. Zur Enttäuschung Lulas unterstützte die Volksrepublik daher die Bewerbung Brasiliens um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat nicht.

Der außenpolitische Kurs Lulas und im Anschluss Dilma Rousseffs konnte also nicht die Erfolge vorweisen, um die Eliten hinter einen mulitpolaren und US-kritischen Kurs zu versammeln. Auch das ist als wichtige Ursache des Aufstiegs Bolsonaros anzusehen. Ob unter den Vorzeichen eines verschärften Ost-West-Konflikts die Wiederbelebung dieser Außenpolitik gelingen kann, steht in den Sternen.

Land und Landlosenbewegung in Brasilien

Bolsonaro erntete insbesondere international viel Kritik dafür, dass er die Rodung des Regenwaldes nicht nur weiter betrieb, sondern sogar beschleunigte. Maria Luisa Mendenonca und Fabio Teixeira Pitta zeigten jedoch, dass die Probleme der brasilianischen Landwirtschaft nicht allein auf Bolsonaro zurückzuführen sind.

Ausgehend von einer strukturellen Schuldenkrise seit den 1970ern suchten die südamerikanischen Staaten nach Möglichkeiten, diese durch Exportüberschüsse abzubauen. Dazu sollte die Landwirtschaft profitabler gestaltet und mechanisiert werden. Die Folge war der Verkauf riesiger Flächen an ausländische Unternehmen oder Joint Ventures, sowie in Folge der Wirtschaftskrise 2008 an ausländische Pensionsfonds als Spekulationsobjekt. Daraus resultierte wiederum eine doppelte Abhängigkeit: Erstens mussten zunächst zur Mechanisierung landwirtschaftliche Maschinen importiert werden, was den Schuldenberg ansteigen ließ. Zweitens ließen die Konzerne monokulturell Zuckerrohr anbauen, um diesen zu Ethanol zu verarbeiten und als Energieträger zu exportieren. Allerdings schwanken Preis und Nachfrage nach Ethanol stark mit dem Ölpreis. Eine nachhaltige Entwicklung der Agrarindustrie ist unter diesen Bedingungen kaum möglich und Regierung stehen und fallen mit den Bedingungen des Weltmarkts.

Der verstärkte Anbau von Zuckerrohr zur Ethanolgewinnung und später auch von Sojabohnen zur Tierfütterung ließ die Preise für Lebensmittel steigen, während die Mechanisierung hunderttausenden Landarbeiter*innen die Arbeitsplatz kostete. Das hatte zur Folge, dass „der Hauptwiderspruch in den brasilianischen ländlichen Milieus heute der zwischen exportorientierten Agrarunternehmen und landlosen Landarbeiter*innen ist und nicht der zwischen Ausbeutung und Kreditrückzahlung.“ Dan Furukawa Marques und Claire Lagier haben in ihrem Artikel die Landlosenbewegung in Brasilien unter die Lupe genommen. Die MST – oder die Movimento de Trabalhadores Rurais Sem Terra – wurde 1984 gegründet und ging aus diversen kleineren Strömungen hervor. Die Autor*innen legten ihren Schwerpunkt auf den internationalistischen Charakter der Bewegung. Sie sprechen von einem „komplexen Internationalismus“, der sowohl auf der lokalen Vernetzung durch Bauerntreffen, Konzerte und Gespräche auf dem Fußballplatz, wie auch auf internationaler Kooperation beruht. Ein Beispiel hierfür ist die Gründung der Escola Nacional Florestan Fernandes, die Lehranstalt, Workspace, Eventlocation und Bibliothek gleichermaßen in sich vereint. Das Geld wurde vorrangig durch den internationalen Vertrieb des Buches Terra von Nobelpreisgewinner Jose Saramango eingenommen. Gebaut wurde es durch freiwillige Arbeit von Arbeitsbrigaden, bei denen sich jeweils 42 Personen in 60-Tage-Schichten abwechselten. Folgerichtig stand die Tür der Schule auch Studierenden aus Norwegen, Kanada, Indien, Pakistan, China, den USA und verschiedenen afrikanischen Staaten offen. Die MST besitzt auch eine deutsche Internetpräsenz: https://mstbrasilien.de/.

Unter Lula da Silva wurde die zuvor von den Behörden scharf bekämpfte MST übrigens weitestgehend legalisiert, wurde dennoch im Anschluss immer wieder Opfer von Verleumdungskampagnen der rechten Opposition. Daher steht die Landlosenbewegung trotz ernüchternder Ergebnisse der ersten Amtsperiode Lulas weitestgehend vorbehaltslos hinter der Arbeiterpartei.

Rassismus in der brasilianischen Gesellschaft

Auch Rassismus ist noch immer eine Gefahr und wesentliche Stütze in der Propagandamaschinerie Bolsonaros. In Racialising Region analysierte Rodrigo Serrao, wie Vorurteile gegen die Nordestinos, die im Nordosten beheimatete Bevölkerung als eine Art innerer Orientalismus Brasiliens verstanden werden kann.

Zunächst zur Geschichte: Portugal begann seine koloniale Entwicklung den Küsten Brasiliens, wo auch die reichen Handelsmetropolen entstanden. Durch den intellektuellen Austausch über die Häfen sickerten die Ideen der Franzöischen Revolution in die Kolonie, die sich bewusst republikanisch und anti-katholisch gab, bis sie ihre Unabhängigkeit erklärte. An den Kolonisatoren, die tiefer im nördlichen Inland verwurzelt waren, ging dieser Trend vorbei. Sie galten daher als kulturell rückständig. Pseudowissenschaftlich begründet wurde diese Rückständigkeit mit den im Norden weiter verbreiteten Eheschließungen ehemaliger Portugiesen mit Indigenen oder befreiten Sklaven. Die Vermischung des Blutes mache die Menschen träge und genügsam, so die landläufige Meinung. Diese Konzeption zieht sich bis heute im Denken der Südküste durch. Man sieht den Norden eher als Lieferant für Rohstoffe und billige Arbeitskräfte an, während der Süden das industrielle und kulturelle Zentrum Brasiliens bilde. Dass in diesen Landesteilen auch die Arbeiterpartei überdurchschnittlich repräsentiert ist, nutzten die Konservativen für das Narrativ, dass der Norden auf Kosten des Südens lebe und die PT korrupterweise von dieser Umverteilung lebe. Während der Wahlkämpfe Rousseffs und Haddads konnte ein starker Anstieg an rassistischen Kommentar in den sozialen Netzwerken Brasiliens festgestellt werden. Serrao führt einige Zitate an:

„Diese Nordestino-Penner kriegen nur fürs Kindermachen Geld, während andere sich zu Tode schuften und ihre Steuern bezahlen, aber das ist nunmal Brasilien. Wie gewinnt man die Stimmen der Nordestinos? Gebt ihnen etwas zu essen und eine Flasche Wasser. Sucht euch einen Job!“

2014

oder

„@jairbolsonaro Wenn du gewinnst, streiche ihnen das kostenlose Wasser oder die Familienunterstützung, ach was, streiche sie von der verdammten Landkarte. Gib ihnen die Unabhängigkeit, damit der Kommunismus um Gottes Willen dort bleiben kann. Wenn der Nordosten keine Gelder mehr aus dem Südosten oder Süden bekommen würde, würde dieses Gesindel, dass die Arbeiterpartei oder die Kommunisten wählt, endlich hart arbeiten müssen. Dann würden sie den Kommunismus nicht mehr so toll finden.“

2018

Hinter dem Rassismus stecken natürlich viele handfeste Probleme der Brasilianer*innen des Nordens. Die Region ist schlechter entwickelt. Der Landraub hat hier schädigendere Auswirkung. Suizid und Kriminalität sind ein massives Problem unter der dunkelhäutigen Bevölkerung, aber auch rassistische Gewalt hat in den letzten Jahren und das Sechsfache zugenommen. Zudem gibt es Vorbehalte gegen die Nordestinos, die auf Grund der besseren Lebensbedingungen in den Süden ziehen. Der Kampf gegen den Rassismus wird im Falle eines Wahlsiegs Lulas in bedeutendes kulturelles Kampffeld bleiben, da aus diesem auch die Erfolge der Rechten speisen.

Zusammenfassung

Dieses kleine Mosaik einiger aktueller politischer Konflikte in Brasilien zeigt, dass Lula da Silva im Falle eines Wahlsieges keine leichte Aufgabe zu bewältigen haben wird. Die gesellschaftlichen Ursachen für den Aufstieg Bolsonaros sind nicht verschwunden. Die Folgen der Corona-Pandemie, die internationale Kritik an der hemmungslosen Umweltzerstörung und Umverteilungspolitik von unten nach oben, haben der Rechten zwar massiv geschadet, doch vielen Sachzwänge wird sich auch die Arbeiterpartei stellen müssen. Die Abhängigkeit vom Export kann nur langfristig überwunden werden und jede Preisschwankung auf dem Weltmarkt kann langfristige Reformprojekte über Nacht beerdigen. Der durch Verteilungskämpfe hervorgebrachte Rassismus kann sich jederzeit als virale Bremse für die Unterstützung der Armen erweisen. Die Frage der Landlosen harrt noch immer einer Lösung und die ist nur gegen die Macht der großen Agrarkonzerne zu finden. Und im neuen Kalte Krieg wird sich Brasilien positionieren müssen, entweder auf Seiten der USA oder der BRICS-Staaten. Dies wird zu Auseinandersetzungen mit einheimischen Kapitalistenfraktionen, aber auch einflussreichen Nachbarstaaten führen. Lula steht vor der Tür eines Hauses, dass jederzeit brennen kann.

Literatur:

alle genannten Aufsätze entstammen den Latin American Perpectives. Jahrgang 49. Ausgabe 5.

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