Dem Kapitalismus ist die Menschheit zu viel

⋄ Die Bevölkerungsfrage ist in Gestalt des demografischen Wandels seit einigen Jahren wieder auf die Tagesordnung zurückgekehrt.

In Ermangelung der Kenntnis der konkreten Gesetze der kapitalistischen Klassengesellschaft bezieht man sich wieder verstärkt auf Konzepte des Malthusianismus.

⋄ Carles Soriano Clemente nahm in der aktuellen
World Review of Political Economy neomalthusianische Ansätze zur Bevölkerungsentwicklung auseinander.

⋄ Er kritisierte, dass diese mathematische Form und gesellschaftlichen Inhalt in Ermangelung einer erklärenden Theorie verwechselten.

⋄ Ein marxistisches Bevölkerungsgesetz muss historisch und dialektisch sein. Es zeigt die Abhängigkeit von Bevölkerung und Surplusbevölkerung von den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals auf.
Guess, who’s back

Wirtschaftsministerin Katharina Reiche hat am Mittwoch mal wieder ein Herzensthema der CDU in den Mittelpunkt gerückt: die Rente mit 70. „Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen“, sagte sie der FAZ und die zentralen Medien der BRD, die aktuell jede neoliberale Sau durchs Dorf treiben, haben natürlich den Ansatz gleich aufgegriffen. Dass da gar nicht gefragt wird, warum die offensichtliche technische Entwicklung im Medizinsektor, der die Menschen erst so alt werden lässt, nicht auch in anderen Branchen Arbeit einspart, die stellt man da schon gar nicht. Dazu müsste man ja einiges zum Kapitalismus erklären. Blöd nur, dass ohne die Gesetze des Kapitalismus zu kennen, eigentlich gar keine logische Basis für die Prognose einer demografischen Entwicklung vorhanden ist. Außer man holt einen alten Bekannten aus dem Schrank: Thomas Robert Malthus.

Carles Soriano Clemente nahm in der aktuellen World Review of Political Economy neomalthusianische Ansätze zur Bevölkerungsentwicklung auseinander und fragte, wie eigentlich Marxist*innen sich die Entwicklungen erklären müssen.

Malthusianismus

Malthus (1766-1834) entnahm eine Beobachtung aus dem Tierreich – dass bei reichlichen Ressourcen die Population einer Art so lange steigt, bis die Ressourcen knapp werden, um dann wieder zu sinken – und übertrug sie auf die menschliche Gesellschaft. Er schloss daraus, dass die gesellschaftlichen Missstände im Wesentlichen auf die sprunghafte Bevölkerungszunahme in den kapitalistischen Zentren des 19. Jahrhunderts zurückzuführen seien und predigte deshalb Enthaltsamkeit. In der sozialistischen Bewegung wurde Malthus nicht pauschal abgelehnt. So begrüßte Karl Kautsky 1881 das Engagement der Neomalthusianer für die Normalisierung und Legalisierung der Empfängnisverhütung, um proletarischen Haushalten eine bessere Familienplanung zu ermöglichen. Gleichwohl erkannten Marxist*innen, dass die Armut der Arbeiter*innenklasse nicht einer prinzipiellen Unterproduktion geschuldet war, sondern vielmehr einer spezifisch kapitalistischen Überproduktion.

Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet der Malthusianismus in einige Widersprüche. Auf der einen Seite verlangte der boomende Kapitalismus der 50er und 60er Jahre nach mehr und mehr Arbeiter*innen, auf der anderen Seite wollte man kommunistische Diktaturen wie China für ihre Programme zur Geburtenkontrolle geißeln. In den Fokus gerieten zunehmend Afrika und Asien, in deren Bevölkerungsdruck man die Ursache für lokale Konflikte, Krankheiten, Hunger und globale Migrationsbewegungen erblickte. Die Umweltbewegung stieg mit der Veröffentlichung der Grenzen des Wachstums-Studie des Club of Rome in die Debatte ein. Die Überbevölkerung wurde als eine der wichtigsten Ursachen der Klimakatastrophe identifiziert. Der Neomalthusianismus fand auch Eingang in die Popkultur wie im dystopischen Thriller Soylent Green.

In der Rechten lebt der Neomalthusianismus insbesondere in der völkischen Familienpolitik weiter. So wird die Differenz zwischen den Geburtenraten in Afrika oder unter migrantischen Familien im Vergleich zu deutschen beanstandet. Begründet wird die Diskrepanz dadurch, dass emanzipierte Frauen mehr zu Karriere neigten, anstatt zur Mutterrolle. Die Rechte argumentiert für eine ethnisch differenzierte Familienpolitik, die „deutsche“ Familien im Vergleich zu migrantischen bevorzugt, sowie einer Abkehr vom Feminismus und einer queertoleranten Politik. Global sollen insbesondere Migrationsströme begrenzt werden.

Kritik des Malhusianismus

Die prinzipielle Kritik des Malthusianismus kann über zwei Stränge verfolgt werden. Der erste Strang ist die fehlende Unterscheidung der menschlichen Gesellschaft von der Tierwelt. Seit mehr als dreitausend Jahren lebt die gesamte Menschheit in Klassengesellschaften, seit den Lebzeiten Malthus’ in der kapitalistischen. Während Tiere keine Produktion eines Mehrproduktes kennen, dass über die Speicherung eines Teils der Nahrung für einen begrenzten Zeitraum hinausgeht, wirken hier Gesetze eines unmittelbaren Zugangs zu Ressourcen und deren direkte Verfügbarkeit. Menschen aber sind im Stande, ein Mehrprodukt zu schaffen, also mehr zu produzieren, als sie unmittelbar oder mittelbar verzehren. Das ermöglichte die Arbeitsteilung und die Aneignung des Mehrprodukts durch eine herrschende Klasse. Der menschlichen Gesellschaft liegt daher kein einfacher Zusammenhang von Ressourcen und Überleben zugrunde, sondern die Gesetze spezifischer Klassengesellschaften.

Die zweite Form der Kritik ist die Verwechslung von phänomenologischer, mathematischer Form und erklärendem Inhalt. Da der Malthusianismus keine Erklärung der Gesetze spezifischer menschlicher Gesellschaften anstrebt, kann er nichts anderes tun, als aus bisherigen Daten zur Bevölkerung zu extrapolieren. Debattiert werden kann dann eigentlich nur, ob das Bevölkerungswachstum linear, exponentiell, logistisch oder nach einem gewissen Schema funktioniert. Damit wird aber eine Form der Darstellung von Daten mit ihrer Erklärung verwechselt. Das Problem hierbei ist, dass die unterkomplexen Relationen auch zu falschen Wahrnehmungen der Realität selbst führen. So verschleiert die Erklärung, Frauen würden durch Berufstätigkeit weniger Kinder bekommen, dass proletarische Frauen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele Kinder geboren haben; trotz Arbeit und Ausbeutung. Interventionen, die tief in die Lebenswirklichkeit von Frauen eingreifen, werden damit auf Grund falscher Gründe, durchgeführt. Es gibt also durchaus gewichtige Gründe, ein historisch-materialistisches Bevölkerungsgesetz zu entwickeln, um sexistische, rassistische und klassistische Fehlvorstellungen zu enttarnen.

Skizzen eines marxistischen Bevölkerungsgesetzes

Welche Bedingungen müsste zunächst einmal ein marxistisches Bevölkerungsgesetz erfüllen? Erstens sollte es natürlich Entwicklungen kausal erklären, anstatt positivistisch einfach nur Modelle an die gemessenen Werte anzupassen. Zweitens sollte es historisch sein und zwischen verschiedenen Gesellschaftsformen unterscheiden. Drittens muss es unter den Bedingungen einer Klassengesellschaft auch dialektische Züge aufweisen, also auch reale Widersprüche ausdrücken, die in rein mathematsichen Modellen so nicht zulässig sind.

Welche Einflüsse wären für ein marxistisches Bevölkerungsgesetz relevant? Erstens sind alle für den Menschen nutzbaren Ressourcen ein Produkt menschlicher Arbeit und alle bisherige Produktion hat noch nicht die Grenzen der planetaren Ressourcen angetastet. Zweitens funktioniert die Produktion unter dem Primat der Akkumulation von Kapital, sprich der erweiterten Produktion auf Grundlage des ausgebeuteten Mehrwerts. Drittens kann die erweiterte Produktion entweder mehr Arbeitskräfte vereinnahmen oder durch einen Fortschritt der Produktivkräfte, der sich meist in höherer organischer Zusammensetzung ausdrückt, bewerkstelligt werden. Viertens muss bereits vor der Ausdehnung der Produktion ein Reservoir an Arbeitskraft vorhanden sein, welches Kapital in die erweiterte Reproduktion werfen kann. Fünftens ist der Konsum des Proletariats und daher der großen Mehrheit der Bevölkerung durch die Löhne begrenzt. Sechstens reproduzieren Proletarier*innen ihre Arbeitskraft in der Regel nicht autonom, sondern innerhalb der Familie (Näheres hier). Siebtens ist das Proletariat unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs mobil, was zu einem tendenziellen Ausgleich der Mehrwertraten führt (Näheres hier).

Neben diesen grundlegenden Annahmen, können mit Blick auf den dritten Band des Kapitals und historische Empirie weitere Annahmen gezogen werden. Die organische Zusammensetzung tendiert dazu, zu steigen, was zur Tendenz des Falls der allgemeinen Profitrate führt. Weiterhin werden einmal eingeführte produktive Methoden nicht gegen unproduktivere eingetauscht, sodass von einer allgemeinen Zunahme der Produktivität ausgegangen werden kann.

Tendenzen eines marxistischen Bevölkerungsgesetzes

Zunächst einmal muss hier festgestellt werden, welche Frage eigentlich das Malthusianische und welches ein marxistisches Bevölkerungsgesetz beantworten will. Malthus und seine Nachfolger wollten immer eine Antwort auf die Entstehung einer Überschussbevölkerung finden, während ein marxistisches Gesetz bereits die Entstehung der produktiven Bevölkerung selbst erklären kann und muss. Wenn das Kapital sich akkumuliert und die Produktion ausdehnt, muss es ein Reservoir an Arbeitskraft vorfinden, dass in der erweiterten Reproduktion ausgebeutet werden kann. Es ist daher zu unterscheiden zwischen einer gewollten und einer ungewollten Überbevölkerung. Die proletarische Reservearmee kann folgendermaßen aufrecht erhalten werden. Sie kann selbst subsidär leben, bis sie, wie in der ursprünglichen Akkumulation, formell unter das Kapital subsummiert wird. Sie kann innerhalb proletarischer Familien mit ernährt werden und bei Bedarf in die Produktion wechseln. Oder sie kann mit Hilfe eines speziellen Konsumtionsfonds – etwa einer Arbeitslosenversicherung so lange ernährt werden, bis sie durch das Kapital genutzt werden kann. Die erste Möglichkeit ist für das Kapital kostenneutral, setzt aber einen nichtkapitalistischen Sektor und Landbesitz zur eigenen Wirtschaft voraus, eine Möglichkeit, die das Kapital durch zunehmende Akkumulation selbst beschneidet. Die anderen beiden Möglichkeiten lasten alle auf den Profiten der Bourgeoisie, denn entweder muss dem Arbeiter ein Familienlohn gezahlt werden oder eben ein Arbeitslosenkonsumtionsfonds als weitere Revenue vom Profit abgezogen werden. Die proletarische Reservearmee ist also zum einen gewollt und zum anderen hinderlich für die Akkumulation.

Dieser Widerspruch wird nun durch einen zweiten verschärft. Kapitalakkumulation bedeutet immer auch Entwicklung der Produktionsmittel. Die Konkurrenz zwingt Kapitalisten dazu, schnell neue Produktionsmethoden einzuführen, die solange einen Extraprofit abwerfen, bis sie verallgemeinert sind. Dies führt nicht nur dazu, dass zunehmend lebendige Arbeit durch tote ersetzt wird, die lebendige Arbeit als Quelle des Mehrwerts versiegt und die Profitrate sinkt. Es führt auch zu einem Ansteigen der relativen Surplusbevölkerung. Und hier sagt Marx genau das Gegenteil von Malthus: Malthus sieht fehlende Arbeitsplätze in einer Überbevölkerung an sich begründet, während sich nach Marx die Überbevölkerung überhaupt nur dadurch definiert, dass sie nicht produktiv genutzt werden kann. Ein außerhalb der kapitalistischen Verwertungsinteressen „gesundes Maß“ der Bevölkerung ist in dieser Gesellschaftsform einfach nicht zu finden.

Interpretation der empirischen Daten

Diese Aussagen beschreiben die empirischen Daten zur Bevölkerungsentwicklung Clemente zufolge auch exzellent. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre wuchs die Bevölkerung des gesamten Planeten exponentiell. In dieser Zeit breitete sich der Kapitalismus sowohl nach innen als auch über die ganze Welt aus und die absolute Ausdehnung der Produktion samt steigendem Bedarf an Arbeitskraft waren der wesentliche Motor der Bevölkerungsentwicklung. Nach aktuellen Schätzungen der UNO, die auf einem Bayesschen Wahrscheinlichkeitsansatz beruhen, wird die Erdbevölkerung noch bis zum Ende des 21. Jahrhunderts wachsen, während danach mehr Menschen jährlich sterben als geboren werden. Maßgeblich für das Modell sind nur die Entwicklung der Geburtenrate, die mit steigender Integration in den Weltmarkt als abnehmend interpretiert wird und die Entwicklung der Lebenserwartung.

Das ist aber hochproblematisch. Nicht nur, dass diese Schätzungen die Existenz der sozialistischen Staaten im Beobachtungszeitraum, aus dem extrapoliert wird, völlig ignorieren. Es werden mit der Bevölkerungsprognose auch einige Aussagen über die wirtschaftliche Entwicklung getroffen, welche der Prognose selbst zuwiderlaufen. Erstens kann sich entsprechend der Prognose der Kapitalismus nur noch intensiv ausbreiten und nicht mehr extensiv. Tatsächlich müsste der Bedarf an einer industriellen Reservearmee permanent abnehmen, was bei gleichzeitiger Kapitalakkumulation aber nur dann möglich ist, wenn ein Jahrhundert lang die Produktion nur durch die Modernisierung der Produktionsmittel und nicht durch Ausweitung erweitert wird. Das bedeutet, dass die Profitrate über ein Jahrhundert konstant fallen muss und zwar in einem erheblichen Maße, denn eine Surplusbevölkerung entsteht dennoch. Der Anteil an Menschen, die aus Altersgründen nicht mehr produktiv genutzt werden können oder auch garnicht bei der notwendigen technischen Entwicklung ewig mithalten können, müssen zusätzlich als konstantes Kapital eingepreist werden.

Und hier treffen wir auf noch ein Problem. Genau dieser Umstand, fallende Profitraten, steigende organische Zusammensetzung und das Wachstum einer nicht mehr produktiv nutzbaren Surplusbevölkerung führen die Reproduktionsgrundlagen der Kapitalisten und ideellen Gesamtkapitalisten an ihre Grenzen. Dem Proletariat droht eine relative, vielleicht auch absolute Verarmung, auf die es auf zwei Arten reagieren kann. Gar keine Reproduktion von Kindern mehr und ein Fristen des Alters in völliger Armut. Oder Reproduktion von vielen Kindern, welche die Alten in der Familie pflegen oder zumindest unterstützen. Im ersten Szenario sinkt damit die wertbildende Arbeit kontinuierlich in ihrer absoluten Verfügbarkeit. Im zweiten bildet sich eine Masse an Surplusbevölkerung, die produktiv gar nicht nutzbar ist und einen außerkapitalistischen Sektor bildet, der ebenso nicht als wertbildende Arbeit zur Verfügung steht. Hier ist die Bevölkerungsentwicklung dialektisch mit der fallenden Profitrate verbunden, erst als Folge, dann als Ursache. Dieser Wechsel der Stellen von Folge und Ursache kann aber mit der UNO-Methodik gar nicht mathematisch modelliert werden.

Zusamenfassung

Wenn es also gar nicht möglich ist, auch nur annähernd konsistente Bevölkerungsprognosen auf der Grundlage mathematischer Modelle oder Extrapolationen zu entwickeln, warum gibt es sie dann? Tatsächlich sind aktuelle Vermittler des Neomalthusianismus Organisationen des westlichen Imperialismus: die WHO, die Weltbank oder der IWF. Dass die Profitrate global fällt und global eine Surplusbevölkerung entsteht, heißt nicht, dass es keine lokalen Ausnahmen geben kann. Und diese sollen aktiv hergestellt werden. So soll Migration so gesteuert werden, dass etwa billige Arbeitskraft in den kapitalistischen Zentren zur Verfügung steht, ohne die Folgen ihrer Voraussetzung, eine industrielle Reservearmee, mit durchfüttern zu müssen. Dazu wird in ärmeren Ländern eine Senkung der Geburten im Namen einer demografischen Dividende, für diese es keine Handvoll historischer Beispiele gibt, propagiert, während die Zentren selbst bereits die durch steigende organische Zusammensetzung abnehmende Nachfrage an Arbeitskraft spiegeln. Da die Staaten immer mehr unter Druck stehen, die Bevölkerungsmigration mit gegensätzlichen Interessen zu lenken, müssen die Staaten sich auch vom liberalen Weltmarkt abkehren und selbst autoritärer und nationalzentrierter werden. Effekte sind Kriege, Faschisierung und Spaltung der Arbeiter*innenklasse, wenn nicht aktiv dagegen gewirkt wird. Der Neomalthusianismus hilft, diese Folgen als Naturgesetz einer Bevölkerungsmenge anzusehen, statt als systematischen Umgang des Kapitalismus mit seiner Überschussbevölkerung im Lichte der ungesteuerten technischen Entwicklung. Kein Wunder also, dass die Bourgeoisie ihn wiederentdeckt.

Literatur:

Clemente, C. (2025): A Critical Analysis of Current World Population Studies. In: World Review of Political Economy. Jahrgang 16. Ausgabe 2. S.199-223.

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