Amerikas erster Marxist

⋄ Ob in Bolivien oder den aktuellen Kämpfen um die chilenische Verfassung: Die Fragen von Sozialismus und indigenem Erbe in Südamerika ist eine entscheidende.

⋄ Jose Carlos Mariategui steht wie wenige andere für einen Indo-Amerikanischen Sozialismus und gilt daher als „Amerikas erster Marxist“

⋄ Mariatgeui gründete die Peruanische Sozialistische Partei und ist bis heute wichtigste Symbolfigur aller kommunistischen Parteien Perus.

⋄ Sein Konzept nimmt die kommunalen Solidaritätsstrukturen der Andenbevölkerung zum Ausgangspunkt einer sozialistischen Entwicklung in die Moderne.

⋄ Die aktuellen
Latin American Perspectives widmen er Gegenwartsbedeutung Mariateguis eine komplette Ausgabe.
Arbeitern, Bauern, Indigene

Er gilt seit der Biografie des kommunistischen italienischen Literaturprofessors Antonio Melis als „der erste Marxist“ Amerikas. Dabei war Jose Carlos Mariategui gewiss nicht der erste, der Marx auf dem amerikanischen Doppelkontinent las oder sozialistische revolutionäre Bewegungen ins Leben rief. Er entdeckte Marx Anfang der 1920er Jahre sogar recht spät. Er war auch sehr wahrscheinlich neben den argentinischen, brasilianischen, chilenischen, kubanischen, mexikanischen oder US-amerikanischen Genoss*innen weder zu Lebzeiten, noch danach der bedeutendste Marxist in diesem Teil der Erde. Und dennoch verfolgt das Attribut sämtliche Schriften über ihn.

In Südamerika hat sein Name Klang. Der Leuchtende Pfad Abimael Guzmans trug im vollständigen Namen por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui. Die Peruanische Kommunistische Partei trägt sein Bild noch immer in der Fahne. In Boliven, auf Kuba und in Nicaragua wurden seine Werke von den Revolutionären aufgenommen und verbreitet. Zahlreiche Straßen und Institutionen sind nach ihm benannt. In Europa kennen ihn wenige. Also: wer war dieser erste Marxist Amerikas und verdient er diesen Titel mit Recht?

Die aktuellen Latin American Perspectives haben ihm und der aktuellen Rezeption seiner Gedanken eine ganze Ausgabe gewidmet. In zwei Teilen soll hier zunächst ein Überblick über Biographie und Theorie Mariateguis gegeben werden und im zweiten Teil seine Bedeutung für die Probleme der Gegenwart diskutiert werden.

Biographie

Jose Carlos Mariategui wurde am 14. Juli 1894 in einer kleinen Küstenstadt in Peru geboren. Seine Mutter war streng katholisch, sein Vater ein Enkel des bürgerlichen Unabhängigkeitskämpfers Francisco Javier Mariategui. Da dieser von der katholischen Kirche exkommuniziert worden war, versuchte der Vater seine wahre Identität vor seiner Frau geheimzuhalten. Als sie es dennoch erfuhr, trennte sie sich, um die Kinder fernab von liberalen Einflüssen erziehen zu können. Jose genoss daher keine höhere Bildung, sondern kam über einen Aushilfsjob bei einer Zeitung zum Journalismus. Unter den Journalisten fand er Gleichgesinnte, mit denen er zusammen einige kleinere Zeitungen gründete, die nicht streng marxistisch waren, aber für die Sache der Arbeiter*innen Partei ergriffen. Auf Geheiß des peruanischen Diktators Augusto Leguia emigrierte Mariategui als Korrespondent nach Europa. Hier kam er mit dem Marxismus und Marxist*innen wie Romain Rolland und Henri Barbusse in Kontakt. In Italien studierte er das Werk von Benedetto Groce und erlebte die Gründung der Kommunistischen Partei Italiens mit; ein Ereignis, über das er sagte, dass „bis dahin […] der Marxismus für mich eine verwirrende, langweilige, kalte Theorie“ gewesen sei. In Italien las er auch regelmäßig die Zeitung L’Ordine Nuovo von Antonio Gramsci.

Er kehrte 1923 als erklärter und überzeugter Marxist nach Peru zurück und lehrte Geschichte an der neu gegründeten Volksuniversität von Lima, obwohl er selbst nie einen akademischen Abschluss besaß. Nichtakademische Bildung erachtete Mariategui zeit seines Lebens als wichtiger. Er gründete 1926 die populäre Zeitung Amauta und schrieb 1928 sein vielbeachtetes Buch Sieben Essays über die Peruanische Realität. Im gleichen Jahr gründete er die Peruanische Sozialistische Partei, die mit der Kommunistischen Internationale assoziiert war. 1929 war er auch an der Gründung der linken Gewerkschaft CGTP beteiligt. Am 16. April 1930 starb Mariategui im Alter von 35 Jahren. Tuberkulose in der Kindheit, sowie eine Beinverletzung, die ihn seit 1924 an den Rollstuhl band, sorgten dafür, dass der Sozialist bereits jung verstarb.

Marteguis Nachfolger Eudocio Ravine folgte strenger dem Kurs der Komintern. Er benannte die Partei in Kommunistische Partei um und verschärfte die revolutionäre Rhetorik. Dies führte zu einer schnellen Zerschlagung der Partei und der CGTP und isolierte die in den Untergrund gedrängten Kommunist*innen von Proletariat und Bauern.

Klassenanalyse Perus

Mariateguis Marxismus war einer der revolutionären Praxis und muss im Kontext mit der Praxis der Komintern in Südamerika gesehen werden. Die Komintern verfolgte seit Mitte der 20er Jahre die Strategie, antikoloniale Bündnisse zu schmieden. Damit sollten einerseits die wichtigsten imperialistischen Mächte geschwächt werden und so außenpolitischer Druck von der Sowjetunion genommen werden, andererseits sollten in den neuen Nationen nun die recht schwachen einheimischen Bourgeoisien ohne Deckung durch das imperialistische Kapital durch den antikolonialen Kampf gefestigten proletarischen Organisationen gegenüberstehen. Dieser Strategie widersprach Mariategui.

Er sprach sich für ein Bündnis aus Arbeiter*innen, Bauern und Indigenen gegen die bürgerlichen Klassen Perus aus. Grundlage seiner Strategie war die Analyse, dass es in Peru drei parallele ökonomische Systeme gebe. Ein kapitalistisches System an der Küste, ein feudales System im Flachland und das kommunale Inka-System in den Anden. Somit sei Peru nicht vollständig in den Weltmarkt integriert, wodurch eine nationale Revolution ein Schritt zurück bedeuten würde. Eine gemeinsame Revolution könnte die Ausbeutung der Arbeiter*innen durch die Kapitalisten, die der Bauern durch die Feudalherren beenden und könnte an die Tradition der Inka-Gemeinschaften anknüpfen.

Indigene und der Beginn des Sozialismus

In den indigenen communidades erblickte Mariategui Formen gemeinschaftlichen Besitzes und gemeinschaftlicher Arbeit, die ein Anknüpfungspunkt für die sozialistische Umgestaltung Perus werden konnten. Zentral seien der Ayllu, die gemeinschaftlich organisierte Sippe bzw. Dorfkommune und der Minka, der als kollektiv bewirtschaftete Fläche der mittelalterlichen Allmende gleicht. Diese gesellschaftlichen Formationen hatten sich in den Anden trotz der Conquista erhalten. Sie konnten sich auch gegen die spanische Form der Hacienda erhalten, die ein quasi-feudales Abhängigkeitsverhältnis zwischen Bauern und Landeigentümern herstellte.

Auf Grund der unterschiedlichen Traditionen der indigenen und der bäuerlichen Gesellschaft schlug Mariategui für Peru eine ganz spezielle Landreform vor. Während der Großgrundbesitz in den Anden in indigene Kommunen übergehen sollte, sprach er sich in den küstennäheren Regionen für einen vorläufigen Übergang in die Hände der Bauern aus. Oder wie es Ulrich Mücke ausdrückte „Dort, wo die Bauern nur Bauern waren, war für Mariátegui der Weg zum Sozialismus mit Steinen gepflastert. Dort, wo die Bauern Indianer waren, gab es die goldene Brücke von der comunidad zur Kooperative.“ (1994, S.40)

Man darf nun aber nicht annehmen, dass Mariategui aus nostalgischer Verklärung diese indigenen Kommunen als Vorbild für das gesamte Peru erachtete. Er begrüßte die Modernisierung und Industrialisierung und beklagte sich darüber, dass sie sich in Peru so langsam vollzog. Sein Konzept entsprach dem der gegenseitigen Durchdringung. Während westliche Zivilisation feudale Strukturen in den Anden aufbrechen konnte, boten die Andenregion einen Anknüpfungspunkt für nicht-warenförmige gesellschaftliche Beziehungen. Sein Indo-Amerikanischer Sozialismus stand somit auf zwei Füßen.

Die Scharnierfunktion nahmen in diesem Konzept die Bauern ein. Bauern und Indigene teilten die gemeinsame Verbundenheit mit dem Boden. Proletariat und Bauern teilten die gemeinsame Erfahrung von Entfremdung von den Grundlagen ihrer Reproduktion. Die Landfrage sei damit die wichtigste politische Frage Perus zu jener Zeit. Martegui lehnte Hilfe oder Konzepte von außen ab, sondern sah in der Rückeroberung des Bodens durch die Bauern die einzige Lösung zur Agrarfrage in Peru.
Damit war Mariategui durchaus originell. Der herrschende Diskurs der damaligen Zeit kritisierte zwar das Unrecht, dass an der indigenen Bevölkerung begangen wurde, rief diese aber dazu auf, Spanisch zu lernen, sich europäisch zu kleiden und dem Katholizismus beizutreten, um besser in die Gesellschaft integriert werden zu können. Mariategui gehörte jedoch auch nicht zu den Indigenisten, welche die indigene Lebensweise konservieren wollten, sondern stand für ein integrales Peru, in dem städtisches Proletariat, ländliches Bauerntum und indigene Kommunen gleichsam Träger der Moderne waren und nur gemeinsam ihre jeweiligen Schwächen überwinden konnten.

«Gewiß wollen wir nicht, daß der Sozialismus in Amerika Abklatsch und Kopie sei. Er muß heroische Schöpfung sein. Mit unserer eigenen Wirklichkeit und in unserer eigenen Sprache müssen wir den indo-amerikanischen Sozialismus ins Leben rufen.»

zit. nach: Fornet-Betancourt, R. 1994, S.67.

objektive und subjektive Faktoren

Mariategui verwarf die Ansicht, dass es den industrialisierten Staat als objektive historische Voraussetzung für eine sozialistische Revolution bräuchte, als zeitgebundene Sichtweise des europäischen 19. Jahrhunderts. Vielmehr könnten klassenbewusste Bildung und revolutionäre Organisation in rückständigen Ländern diese objektiven Bedingungen wieder wettmachen. Durch die Oktoberrevolution sah er sich bestätigt und erklärte den Marxismus-Leninismus als revolutionäre Methode des imperialistischen Zeitalters.

Seine Theorie wird daher wie die Gramscis häufig als voluntaristisch bezeichnet. Mariategui war sich dabei jedoch bewusst, dass Voluntarismus keine wissenschaftliche Erklärung ist, sondern selbst aus den objektiven Gesetzen der Geschichte erklärt werden muss. Oder als Frage gestellt: Warum sollte es in einem Land subjektiven revolutionären Voluntarismus geben, obwohl die objektiven Bedingungen garnicht gegeben wären? Die Antwort liegt nicht in der Zurückweisung oder Überhöhung des Voluntarismus selbst, sondern in der Erkenntnis, dass in der kapitalistischen Peripherie nicht erst die entwickelte kapitalistische Industriegesellschaft die historische Bedingung der sozialistischen Revolution darstellt.

Mythos und Religion

Ein subjektiver Faktor, den Mariategui als einen entscheidenden Vorteil des Proletariats erachtet, ist der des Mythos. Die bürgerliche Gesellschaft sei in Rationalismus und Skeptizismus verfangen, während das Proletariat, aber auch andere fortschrittliche Klassen, wie Bauern und Indigene über einen Mythos verfügten: die soziale Revolution. Die Bourgeoisie erwarte kein besseres Leben mehr, während Revolutionäre für eine verheißungsvolle Zukunft kämpften.

„Die Stärke der Revolutionäre ist nicht die Wissenschaft. Siel liegt in ihrem Glauben, ihrer Leidenschaft und ihrem Willen. Sie ist eine mythische, spirituelle Kraft. Sie ist die Kraft des Mythos. Die revolutionäre Emotion ist eine religiöse Emotion.“

Wenn Mariategui hier den Bogen zur Religion spannt, dann hat er nicht nur den Katholizismus vor Augen. Er bewundert beispielsweise die Überlebensfähigkeit solidarischer Inkastrukturen und sieht einen Grund hierfür in der Religion.

Internationalismus und Weltrevolution

Das Konzept der Revolution, welches Mariategui für Peru vorschlägt, übertrug er auch auf den internationalen Kontext. Indem er zwar keinen Vorrang des europäischen Weges vor den anderen sah, aber eben auch keine anti-modernistische Abscheu besaß, setzte sich Mariategui für die Solidarität mit allen Arten revolutionärer Organisation ein. Er versuchte Verbindungen zwischen den Kommunist*innen Südamerikas herzustellen, engagierte sich im Anti-imperialistischen Komitee und beteiligte sich an Solidaritätskampagnen wie denen für Sacco und Vanzetti. Dahinter versteckte sich keine Beliebigkeit, sondern die Auffassung, dass die einzelnen nationalen Bedingungen eigene Wege des sozialistischen Übergangs benötigten und sich später zu synthetisieren.

Um es ganz abstrakt zu beschreiben, könnte man Mariateguis Konzept einer Weltrevolution so beschreiben, dass sich zunächst unter den Bedingungen der nationalen Besonderheiten sozialistische solidarische Strukturen entwickelten. Da diese nicht wie kapitalistische Systeme in Konkurrenz zueinander stünden, assimilierten und integrierten sich diese zunächst national besonderen Systeme in eine Weltkommune, in der indigene und europäische Einflüsse am Ende ununterscheidbares Erbe einer neuen gemeinsamen Gesellschaftsordnung seien. Eine solche emergente Auffassung einer Weltrevolution war gleichsam trotzkistisch (Weltrevolution), stalinistisch (nationale Besonderheiten) und maoistisch (Bedeutung der Bauern), auch wenn Mariategui eher von den heterodoxen Marxist*innen rezipiert wurde.

Zusammenfassung

Mariategui ist ein würdiger erster Marxist Amerikas, da er als erster nicht nur den europäischen Marxismus importierte, sondern auf Grundlage der Klassenanalyse Perus einen eigenen revolutionären Weg unter Beachtung der nationalen Besonderheiten ableitete. Man kann seine Betonung von subjektivem Faktor und Mythos berechtigterweise als Einfallstor für Beliebigkeit kritisieren. Aber schauen wir uns das Verhältnis zwischen subjektivem und objektivem Faktor doch in der westlichen Zivilisation an:

Der objektive Faktor ist gegeben. Der Kapitalismus hat sich in den westlichen Gesellschaften bis in die letzte Nische der Reproduktionsbedingungen eingepflanzt. Die Profitrate sinkt seit Jahrzehnten beständig. Die Überakkumulation von Reichtum hat Ausmaße angenommen, bei denen einem schwindelig wird. Und dies auf die Kosten, dass vielleicht nach ein paar weiteren Jahrzehnten Marktwirtschaft unser Planet unbewohnbar wird. Aber es fehlt am subjektiven Faktor. Es fehlt an Leuten, die für die Revolution brennen. Die Hälfte des Proletariats ist zu satt, die andere zu erschöpft. Mariategui interveniert für den umgekehrten Fall. Der Kapitalismus ist nicht voll entwickelt. Das Proletariat ist in der Minderheit, es gibt auf dem Lande noch den Feudalismus und in den Anden lebt noch eine bedeutende Anzahl an Menschen, welche sich urkommunistische Gesellschaftsweisen erhalten haben. Und in diesem Land gibt es leidenschaftliche Revolutionäre. Es gibt Arbeiter*innen, die sich organisieren, weil sie nicht satt werden. Wenn die objektiven Bedingungen hier zur Zurückhaltung mahnen, dann sollen diese auf den Prüfstand und nicht die Revolutionäre.

Im späten Zarenreich, in China, in Vietnam, auf Kuba und in Nicaragua probierten Revolutionäre den unorthodoxen Weg. Die Geschichte gab orthodoxen wie unorthodoxen Marxist*innen Recht. Die Widersprüche und ihre gewaltsamen Lösungen, der Mangel und die Entbehrungen, das Eindringen des Kapitalismus in jede offene Fuge … vor all dem haben Marxist*innen gewarnt. Peru selbst war Opfer eines blutigen und teilweise verrückten Bürgerkriegs, der auch im Namen Mariateguis ausgetragen wurde. Und doch wäre der Marxismus heute ohne die lebendigen revolutionären Versuche – ohne die voluntaristische Praxis Lenins, Trotzkis, Maos, Ho Chi Minhs oder Castros – tot.

Literatur:

Becker, M. (1993): Mariategui and Latin American Marxist Theory. Athens, Ohio: Monographs in International Studies.

Becker, M. & Vanden, H. (Hrsg.,2011): Jose Carlos Mariategui. An Anthology. New York: Monthly Review Press.

Latin American Persprectives (2022). Jahrgang 49. Ausgabe 4.

Saravia, J. M. (Hrsg., 1994): José Carlos Mariátegui. Gedenktagung zum 100. Geburtstag im Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz am 10. November 1994 in Berlin. Frankfurt am Main: Vervuert.

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