Marxistische Medientheorie in Brasilien

⋄ Die Diskussion um die Rolle der Presse im Klassenkampf, insbesondere die Frage von Hegemonie und Gegenhegemonie, beschäftigt die Linke seit Marxens Tagen.

⋄ Francisco Rüdiger und Otávio Daros haben in der aktuellen Capital&Class die Debatte in Brasilien zusammengefasst und den historischen Epochen des größten Landes Südamerikas zugeordnet.

⋄ Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Zeitungen insbesondere als Kommunikationswaffe der kommunistischen Partei wahrgenommen.

⋄ Während der Militärdiktatur verlagerte sich die Debatte in die Universität, wo die Objektivität der Nachrichten im Lichte des Fetisch-Begriffs diskutiert wurde.

⋄ Seit den 90er Jahren haben die kritische Theorie und postmoderne Diskursstränge die Oberhand gewonnen.

Dass die Medien die vierte Gewalt im Staate sind, konnte man in den vergangenen zwölf Monaten wieder eindrücklich erleben. Im Krieg in der Ukraine bestimmten sie, welche Bilder gezeigt wurden und welche nicht, welche Nachrichten es in die Tagesschau und auf die Titelseiten schafften und während in der Bevölkerung zunächst weitgehende Skepsis über die Lieferung der Leopard-Panzer herrschte, waren sie die Chefredakteur*innen und Meinungsmacher sich auffallend einig. Jedoch verbietet die marxistische Analyse eine unterkomplexe Erzählung, dass das Kapital oder die herrschenden politischen Akteure einfach mit Geldkoffer in die Verlagsstuben rennen würden, um Nachricht auf Bestellung zu kaufen. Zeitungen, Sender und Internetseiten müssen auch an Kunden und Werbepartner denken und zu offensichtliche Haus-und-Hof-Berichterstattung würde von beiden entsprechend abgestraft werden. Zumal der Druck von kostenlosen bzw. plattformfinanzierten Angeboten täglich wächst.

Mit dem Verhältnis von Staat, Klassen, finanzkräftigen Klientel und den Medien befassen sich seit 90 Jahren auch Marxist*innen aus Brasilien. Die Medienlandschaft in Brasilien ist geprägt von einer hohen Konzentration der Eigentümerschaft und einer oft einseitigen Berichterstattung, die in Veracht steht, insbesondere den Interessen der Eliten zu dienen. Francisco Rüdiger und Otávio Daros haben in der aktuellen Capital&Class die Debatte Revue passieren lassen und in die jeweiligen politischen Verhältnisse des größten südamerikanischen Landes eingeordnet. Ein kleiner Streifzug.

Die Anfänge einer kommunistischen Theorie des Journalismus in Brasilien

Bis 1945 gab es in Brasilien unter Kommunist*innen keine Theorie oder Praxis einer politischen Presse. Vielmehr druckten radikale Zirkel in Handarbeit revolutionäre Pamphlete mit sehr beschränkter Reichweite. Während der Diktatur von Getulio Vargas ab 1937 begannen sich jedoch kommunistische Intellektuelle zunehmend mit den Kommunikationsformen zwischen Regierung und Volk auseinanderzusetzen. Denn Vargas fuhr in seinem Estado Novo eine Doppelstrategie mit Sozialmaßnahmen auf der einen und antikommunistischer Hetze auf der anderen Seite, gegen die man eine kluge Agitationsstrategie benötigte, indem man sich auf den starken Zentralismus, das Demokratiedefizit und die verbleibenden sozialen Probleme konzentrierte. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fiel auch die Diktatur und die kommunistische Partei profitierte vom Glanz des sowjetischen Anteils am Sieg über den Faschismus. Rui Facó zog als erster Lehren aus der erfolgreichen Untergrundarbeit der Kommunist*innen und versuchte aus ihr ein theoretisches Konzept abzuleiten. Nach ihm war Journalismus eine politische Form der Literatur. Nachrichten sollten eine unmittelbare propagandistische Form bekommen, um den revolutionären Funken bei den Arbeiter*innen und Bauern zu entzünden. Journalismus sei eine Waffe, die zum größten Teil zwar die Bourgeoisie besäße, welche aber auch die Partei der Arbeiter*innen zu gebrauchen lernen müsse.

Die Kritiker*innen dieser Interpretation schlugen vor, subversiver vorzugehen. Anstatt die Beschlüsse der Partei nur leser*innenfreundlich zu übersetzen, wollten sie weniger instrumentelle Zeitungen, die zwischen den Zeilen und vermittelt durch die Darstellung des Alltags politisch kommunizierten. Die Parteimehrheit votierte für Facós leninistischen Kurs und orientierte sich an Zeitungen wie der Pravda oder Roten Fahne.

Der linke Rückzug in die Universitäten

Der unmittelbare Einfluss der politischen Linken endete jedoch mit der durch den CIA unterstützten Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985. Politischen Gegnern wurden ihre Rechte entzogen, wenn sie nicht gar inhaftiert oder ermordet wurden. Ein gleichzeitiger Wirtschaftsboom stabilisierte die Diktatur trotz zahlreicher Menschenrechtsverletzungen. Die marxistische Diskussion um den Journalismus endete jedoch nicht, sondern verlagerte sich in die Universitäten, wo es ihr gelang, bis zu Beginn der 80er die kulturelle Hegemonie zu erringen.

Zunächst jedoch war die bürgerliche journalistische Landschaft geprägt vom starken US-amerikanischen Einfluss. Formate und Grundsätze wurden übernommen und viele Beteiligte wurden in den Staaten ausgebildet. US-Lehrbücher kamen zunehmend auf den südamerikanischen Markt. Damit erreichte Brasilien auch ein hoher Grad an Professionalität und spitzfindiger Methodik, der nicht mehr so leicht zu kritisieren war, wie die älteren Medien. Insbesondere das Gebot der Objektivität verlieh den Zeitungen eine scheinbar über den Parteien schwebende Autorität, mit der sich der bisherige Parteijournalismus ohnehin nicht hätte messen können. Es galt also, das Kriterium der scheinbaren Objektivität selbst anzugreifen und dessen sozialen Gehalt offenzulegen.

Eine neue Generation der Linken argumentierte, dass Objektivität in einer aus Klassengegensätzen bestehenden Gesellschaft reine Ideologie sei. Wie die Ware an sich nur geronnenes soziales Verhältnis sei, so treffe dies auch für die „Objektivität“ der Ware Zeitung zu. Insbesondere Perseu Abramo hob hervor, dass die Medien erst die Normalität herstellten, durch welche die Leser*innen den Skandal der Klassengesellschaft nicht mehr klar erkannten. Die Medien seien mit einem Spiegel zu vergleichen, welcher die soziale Dimension der Nachrichten bei der Widerspiegelung auslösche. Es ist ein Unterschied, ob die Zeitung schreibt, dass die Wirtschaft boomt oder ob sie schreibt, dass das Proletariat mehr ausgebeutet würde, obwohl beides stimmt und beides den gleichen Umstand beschreibt. Medien könnten erst dann wieder ein vollständiges Bild der Gesellschaft entwerfen, wenn sie unter gesellschaftlicher Kontrolle stünden. Ähnlich argumentierte Nelson Werneck Sodre, der die Medien als Gradmesser des Entwicklungstandes einer Gesellschaft betrachtete und Wert auf die Veränderung der materiellen Basis anstatt ihres ideologischen Überbaus legte.

Eine negative Dialektik der Medien

1985 endete zwar die Militärdiktatur in Brasilien und die persönlichen Freiheitsrechte fanden tieferen Niederschlag in der brasilianischen Verfassung. Die sozialen Probleme wurden deshalb jedoch nicht nicht geringer, sondern verschärften sich im Gegenteil. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks verschwand einer der Fluchtpunkte der Linken ersatzlos. Der Kapitalismus breitete sich nun ohne Gegenspieler rücksichtslos aus und die Zerstörung der Umwelt wurde ein immer drängenderes Problem.

Diese schier ausweglose Situation spiegelte sich auch in der negativen Dialektik der marxistischen linken Kulturtheoretiker Brasiliens in den 90er Jahren wider. Marcondes Filho zum Beispiel ließ das Bild der Presse als Instrument nicht durchgehen. Vielmehr sei die Presse geprägt durch das aufopferungsvolle und freiwillige Engagement der individuellen Journalist*innen. Man müsse also analysieren, welche Beweggründe für deren Motivation vorlägen. Die Präsentation der Nachrichten als Spektakel sei dabei nicht erst die Herstellung der Fetischisierung der Verhältnisse, sondern müsse bereits im Fetischglauben der Journalist*innen erfasst werden. Diese müssten sich in ihrer entfremdeten Arbeit einen Sinn glaubhaft machen, um an der Absurdität der Verhältnisse nicht zu verzweifeln. Indem sie dies täten, transportierten sie die Verschleierung der Verhältnisse an die Leser*innen weiter, aber nicht in manipulativer Absicht. Das Kapital müsse die Presse garnicht kontrollieren, weil die Maskierung gesellschaftlicher Widersprüche als Klischees von Schreibenden wie Lesenden selbst erwartet würde. Als negative Dialektik kann diese Theorie deshalb bezeichnet werden, weil der Zirkel aus fetischisiertem Denken der Journalist*innen und der durch die Medien hergestellten Leseerwartung der Konsument*innen keinen archimedischen Punkt kenne, mit dem die Gesellschaft aus den Angeln gehoben werden könne.

Adelmo Genro Filho wiederum kritisierte diesen Pessimismus. Auf abstrakter Ebene sei die kapitalistische Totalität zwar real, aber diese gerate in beständigen Widerspruch zur konkreten Wirklichkeit. Nur weil die Verhältnisse fetischisiert wahrgenommen würden, verschwänden nicht die realen Widersprüche. Real müsse hier im Sinne von erlebbar gedacht werden. Die Spannung zwischen verschleierndem Spektakel und trostlosem Alltag dränge immer wieder zur Oberfläche und würde mit der Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst auf die Spitze getrieben. Beispielhaft führte er die Sprache an, die durch konkrete Erfahrungen der einzelnen Individuen geprägt sei und damit nicht zur Vermittlung eines allumfassenden totalitären Zusammenhangs tauge, sondern gegenteilig als Mittel des Widerstandes.

Stärke der Bewegungen und postmarxistische Beliebigkeit

Mit dem Wahlsieg Lula da Silvas und der allgemeinen Linksentwicklung in Südamerika justierte sich die Debatte vorerst ein letztes Mal neu. Da die gesellschaftlichen Träger der Linkswende nicht alleine das urbane Proletariat und seine Partei(en) waren, sondern indigene Gruppen, die Frauenbewegung, Umweltverbände, die verarmten Bauern oder kurzfristige Zweckbündnisse, versuchte die Theorie Journalismus in diesem sich weitendem Feld wahrzunehmen. Die Gesellschaft wurde als Zusammenhang vieler entgegengesetzter oder sich bedingender Interessen aufgefasst, in dem die Medien wie ein Spiel die Hegemonie einer oder mehrerer ideologischer Richtungen durchsetzten. Diese Interpretation ließ genug Raum, um im Journalismus sowohl ein Mittel zum Gewinn von Hegemonie zu betrachten, als auch den Medienzirkus als Mittel zur Herstellung einer gesellschaftlichen Balance und der Sicherung des Status Quo.

Rüdiger und Daros urteilen, dass die linke Medientheorie sich damit auf eine phänomenologische Analyse zurückgezogen habe, die weitestgehend indifferent zu Widersprüchen und Nuancen der sozio-ökonomischen Entwicklung sei. Mit der Übernahme dieser postmodernen Diskurstheorie sei die akademische Linke jedoch auch weitestgehend irrelevant geworden, da sie keinen Ansatzpunkt verfolge, um über das Bestehende hinauszuweisen. Die Autoren schlagen daher vor, sich näher mit den gesellschaftlichen Umständen auseinanderzusetzen, unter denen Phänomene wie Cyberaktivismus und Networking an Bedeutung gewännen.

Zusammenfassung

Dieser spannende Beitrag von Francisco Rüdiger und Otávio Daros zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass er die Debatte um eine Theorie des Journalismus eng mit der Geschichte Brasiliens verknüpft. Neue Umstände und neue Produktionsweisen müssen sich nach historisch-materialistischer Sichtweise in Denken und Diskurs niederschlagen. Und das Narrativ dieses Beitrags zeigt das fruchtbar auf. Zweitens systematisieren die Autoren die Debatten und bringen die wesentlichen Fargen auf den jeweiligen Nenner: Soll man lieber am Alltagsverstand ansetzen oder lieber theoretisch korrekt formulieren? Soll man die Medien als ein Instrument oder Produkt des Klassenkampfes ansehen? Soll man an den Inhalten oder den Besitzverhältnissen angreifen? Und solle man lieber die Totalität der kapitalistischen Verhältnisse einsehen oder ihre Bruchlinien suchen? Viele Fragen stellen sich heute immer noch, denn die historischen Verhältnisse werden nicht einfach durch die neuen ersetzt, sondern nur auf eine höhere Stufe gehoben. Die Fragen von vor 70 Jahren sind heute nicht irrelevant, sie stellen sich nur in neuem Licht und in Kompanie mit anderen. Und das macht theoretische Debatten der Vergangenheit auch bis heute so wichtig. Die postmoderne Linke möchte diese gerne begraben, da vorangegangene Formulierung der heutigen Probleme die eigene Selbstgewissheit in Frage stellen könnten. Damit würde jedoch auch ein wichtiger Bestandteil des politischen Erbes der Linken verloren gehen.

Literatur:

Rüdiger, F. & Daros, O. (2022): Marxist Thinking and Journalism. Theory in Brazil. In: Rethinking Marxism. Online First. DOI: 10.1080/08935696.2022.2139079

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