Die deutsche „Industriestrategie 2030“ im Jahre 2023

⋄ 2019 stellte CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier seine Industriestrategie 2030 vor.

⋄ In dieser wollte er staatliche Beteiligungen an Schlüsselunternehmen ausbauen, Subventionen erleichtern und damit Global Player schaffen. Aus Medien und Mittelstand kam damals heftige Kritik, weshalb die Strategie abgeschwächt wurde.


⋄ Etienne Schneider argumentiert in der New Political Economy, dass das Konzept aber deshalb noch lange nicht gestorben sei.


⋄ Als Analyseinstrumente nutzte er die Regulationstheorie, die kritische Staatstheorie und das gramscianische Konzept des „Neuen Konstitutionalismus“.

⋄ Er zeigt, dass weder die neue Regierung noch Corona oder der Ukrainekrieg die Industriestrategie 2030 begraben haben.

Quizfrage: Wann hat die Bundesregierung das letzte Mal ein Konzept zur weitreichenden Verstaatlichung von Schlüsselindustrien vorgelegt? Wer denkt: Das war doch 2019 Wirtschaftsminister Peter Altmaier von der CDU, der liegt goldrichtig. Seine Industriestrategie 2030 (NDI) schlug dies und damit ein Ende der seit der Wiedervereinigung vorherrschenden neoliberalen Ausrichtung vor. Nun sind Covid, der Ukrainekrieg und ein Regierungswechsel dazwischen gekommen. Was ist also aus dem Paradigmenwechsel der Wirtschaftspolitik geworden?

Als Marxist*in muss man sich bewusst sein, dass es etwas anderes ist, wenn ein Konservativer die Industrie unter nationale Kontrolle stellen will, als eine Arbeiter*innenregierung. Etienne Schneider, der ansonsten viel für die PROKLA schreibt, hat sich in der New Political Economy mit der Klassenbasis der Industriestrategie 2030 auseinandergesetzt. Er verwendet dazu die Regulationstheorie, die kritische Staatstheorie und gramscianische Theorie des „Neuen Konstitutionalismus“.

Die Industriestrategie 2030

Nicht mehr all zu viele werden sich viele an die Industriestrategie 2030 erinnern. Wirtschaftsminister Altmaier kündigte sein Papier damals als erstes wirtschaftliches Strategiekonzept nach der Agenda 2010 an. Dieses analysierte, dass die Wirtschaft zunehmend global organisiert sei und der Kampf um moderne Technologien eine Schlüsselrolle in der ökonomischen Entwicklung spiele. Als Konsequenz stellte das Papier drei hart diskutierte Ableitungen vor. Erstens müsse Deutschland auf große Firmen setzen. Nur diese verfügten über die notwendige Infrastruktur, um die entsprechende Forschung und Kapazitäten bereitzustellen, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Zweitens müsse Deutschland notfalls Firmenanteile aufkaufen, um strategische Übernahmen durch ausländische Investoren zu verhindern. Drittens müsse der Staat durch eine zielgerichtete Subventionspolitik Wettbewerbsnachteile ausgleichen können. Einen besonderen Affront verursachte Altmaier mit der expliziten namentlichen Nennung dieser Global Player.

Nach einer ersten Vorstellung dieser Pläne schäumten Teile der Bourgeoisie. Der Finanzsektor fürchtete um seine Freiheit. Nicht genannte Firmen sahen Wettbewerbsnachteile. Und der stets beleidigte Mittelstand zeigte sich eifersüchtig. Altmaier sah sich gezwungen, die finale Version zu entschärfen und von der Einführung neuer Instrumentarien abzusehen. Es war jedoch offensichtlich, dass die Bundesregierung mit einem imperialistischen Keynesianismus liebäugelte, der sich an der französischen Industriepolitik orientierte. Gemeinsam mit dem Nachbarn verfasste man auch in der Folge ein „Manifest für die euopäische Industriepolitik“, in dem man ein koordinierteres Vorgehen für die Zukunft ankündigte.

Marxistische Analyse

Während die Medien die Industriestrategie 2030 als weitestgehend kurzen Flirt Altmaiers mit einer nationalen Industriestrategie ansahen, welcher durch den lauten Protest aus der Wirtschaft schnell beendet wurde, sieht Schneider wesentliche Elemente auch unter der neuen Bundesregierung wirksam. Der deutsche Machtblock lehnte die Vorschläge nämlich nicht durchweg ab, sondern war selbst gespalten. Der mächtige durch FDP und CDU geführte Mittelstand hielt am ordoliberalen Rahmen fest und verbat sich die Bevorteilung großer Konzerne. Der eher strategisch denkende Bund der deutschen Industrie BDI hingegen kann als stiller Urheber der Industriestragie gelten und ist in Teilen der CDU, aber auch der Grünen und SPD verwurzelt. Ein dritter Akteur ist der Deutsche Gewerkschaftsbund, der durch staatliche Anteile hoffte, Arbeitsplätze in Inland halten und Druck auf die Lohnpolitik ausüben zu können. Teile dieser Fraktionen sind trotz des Regierungswechsels an der Macht. So kann der Klima- und Transformationsfonds als Ausdruck einer strategischen Ausrichtung verstanden werden. Schließlich dauern die politischen Prozesse, welche das Strategiepapier bestimmt haben – zunehmender Konflikt zwischen den USA und China oder die Heterogenität des europäischen Machtblocks – bis heute an.

Unabhängig von den konkreten Regierugen seien daher in Anlehnung an Antonio Gramsci die historischen Blöcke zu untersuchen, welche auf eine Abkehr vom alten ordoliberalen und neoliberalen Modell drängten. Zu dieser Analyse sieht Schneider drei Komponenten als essentiell an: 1. die Regulationstheorie (Näheres hier), 2. die kritische Staatstheorie und 3. der „Neue Konstitutionalismus“ nach Gramsci. Die Regulationstheorie versucht zu erklären, mit welchen Mitteln Klassen auf die notwendig auftretenden Widersprüche reagieren, um die Entladung hinauszuzögern oder abzumildern. Die kritische Staatstheorie sieht den Staat als Kondensat der Klassenverhältnisse an und versucht aus dem konkreten Staatshandeln Rückschlüsse auf die Machtverhältnisse zwischen den Klassen zu führen. Das Konzept des „Neuen Konstitutionalismus“ untersucht, welche rechtlichen Formen ein Klassenverhältnis einnimmt, wenn es gesellschaftliche Hegemonie erlangt hat. Alle drei Konzepte seien Bestandteile einer historisch-materialistischen Politikanalyse, welche spezifische Politiken vor dem Hintergrund konkurrierender und widersprüchlicher Klasseninteressen zu erklären versucht.

Die ökonomische Basis der NDI

Das deutsche Akkumulationsregime mit seiner Fokussierung auf die metallverarbeitenden und Maschinen Industrie, mittelständische Unternehmen und Exportorientierung hat das letzte Jahrzehnt erstaunlich robust überstanden. Der seit den 90ern ausgebaute Niedriglohnsektor bot zwar nicht mehr die Kaufkraft, um auf dem einheimischen Markt die Produkte absetzen zu können, weshalb die Gewinne über Exporte realisiert werden mussten, aber zunächst ging die Rechnung auf. Das Modell ist aber äußerst anfällig. Jegliche Störung der Produktivitäts-Lohn-Relation kann das empfindliche System gefährden und zum Einsturz bringen. Die strukturelle Abhängigkeit von Exporten macht Deutschland zu einer leichten Zielscheibe für internationale Wirtschaftsangriffe. Da sich die USA und China beide gleichzeitig vom Weltmarkt zu entkoppeln versuchen, könnten Exportmärkte wegbrechen, wenn man keine Monopole auf die jeweiligen Produkte besitzt. Zudem bedarf es enormer staatlicher Nachregulierung, damit die schlecht bezahlten Arbeiter*innen überhaupt auf dem deutschen Preisniveau ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Viele Firmen sind nicht mehr bereit, die dafür notwendigen Steuern zu zahlen und wandern lieber ins europäische Ausland ab. In der Hightech-Industrie hat Deutschland zunehmend an Boden verloren.

Vor diesem Hintergrund war die Industriestrategie 2030 vor allen Dingen ein Angriff auf die europäische Freihandelsstruktur. Solange das deutsche Kapital im Zuge der Austeritätspolitik griechische Häfen aufkaufen konnte, solange war der Freihandel willkommen. Wenn Hightech-Industrie jedoch abwandert, erscheint sie dem deutschen Gesamtkapitalisten kontraproduktiv. Und hier beginnen die Widersprüche innerhalb der Kapitalistenfraktion. Die individuellen Kapitalisten würden natürlich gerne abwandern, um Steuern und Lohnkosten zu sparen. Zulieferer und Komsumgüterindustrie hingegen sind wenig begeistert vom Wegfall der Kaufkraft. Der Staat müsste also Kompensation durch Subventionen oder ähnliches schaffen können. Aber hier zieht das EU-Wettbewerbsrecht enge Grenzen. Andere Länder in der EU haben ein Mitspracherecht und natürlich möchten Rumänien und Tschechien selbst gerne moderne Industrie ansiedeln.

Deutschland muss sich also eine gesellschaftliche Hegemonie in Europa verschaffen, um weitestgehende Möglichkeiten für eine eigene protektionistische Politik zu erhalten. Dazu hat die Bundesrepublik gemeinsam mit Frankreich das ideologische Konzept eines Kerneuropas geschaffen, ohne das die Peripherie in der EU ebenfalls nicht prosperieren könnte. Das soll letztere dazu bewegen, eigene Interessen hintenan zu stellen. Dieser Kampf ist noch lange nicht entschieden. Zwar gab es kleinere Weichenstellungen hin zu mehr Möglichkeiten einer Industriepolitik, aber die EU-Kommission zeigte dem deutschen Machtblock mit dem Verbot der Alstom-Übernahme durch Siemens die Grenzen auf.

Was ist davon geblieben?

Frankreich und Deutschland ist es in den letzten Jahren gelungen, ideologische Geländegewinne auf dem Feld der Industriepolitik zu erlangen. Der französische EU-Kommissar für Binnenmarkt und Industriepolitik Thiery Breton gilt als Verfechter einer strategiegeleiteten Politik. Deutschland selbst setzte in der Coronokrise den Begriff „kritische Infratstruktur“ auf die Tagesordnung, deren Schutz selbstredend staatliche Aufgabe sei. Im Hinblick auf die Ressourcenabhängigkeit, grüne Technologien und Hightech lassen sich so immer mehr Elemente ausmachen, die unter kritischer Infrastruktur verstanden werden könnten. Noch haben zwar die Freihandelsvertreter*innen in der EU ihre Stellungen nicht geräumt, sie mussten aber zumindest ideologische Geländeverluste hinnehmen.

Der Ukrainekrieg hat nun zwei gegensätzliche Tendenzen ins Spiel gebracht. Auf der einen Seite schweißt nichts mehr zusammen als ein gemeinsamer Feind. Deutschland wird jede Möglichkeit nutzen, eine Bedrohung durch Russland dazu zu nutzen, um für eine gemeinsame Industriepolitik mit Subventionen oder staatlichem Engagement in strategischen Kernbereichen zu werben. Dem Argument können sich die kleineren Länder schwer verschließen, außer sie stellen dieses Bedrohungsszenario an sich in Frage. Ungarn oder Bulgarien tun dies teils sehr offen. In Tschechien ist zumindest ein innenpolitischer Konflikt über die Bewertung Russlands entbrannt. Und so lässt sich auch die Gegnerschaft der AfD, dem radikalsten Sprachrohr der mittelständischen Industrie, zum Ukrainekrieg erklären.

Auf der anderen Seite graben die USA jedoch der Metallindustrie in Deutschland Wasser damit ab, dass Deutschland zwar Waffen an die Ukraine liefern soll, selbst aber gar nicht mehr die Produktionskapazitäten besitzt, um die Bestände aufzufüllen. Ersatz müsste vom transatlantischen Partner kommen, wofür Kapital in die Staaten abwandern würde. Dass Scholz daher etwas mehr zögert, als die baltischen Länder, versteht sich.

Zusammenfassung

Etienne Schneider zeigt in seinem Aufsatz, dass die Deutsche Industriepolitik 2030 keinesfalls tot ist. Altmaiers Papier fühlte vor, wie bereit die Gesellschaft für einen wirtschaftlichen Paradigmenwechsel ist und die Reaktion mahnte zur Vorsicht. Noch sieht das Kapital als Ganzes keine Notwendigkeit, sich kollektiv zu organisieren und sich national vereinnahmen zu lassen. Aber der Vorwurf der Vaterlandslosigkeit wird zunehmend en voque.

Drei Kernpunkte lassen sich Schneiders Argumentation entnehmen: Aus Sicht der Regulationstheorie ist die NDI eine Reaktion auf die veränderten Weltmarktbedingungen, die das deutsche Exportmodell vor existenzielle Schwierigkeiten stellt. Aus Sicht der kritischen Staatstheorie kämpfen diverse Interessengruppen für oder gegen eine Industriepolitik, die Global Player gegenüber dem Mittelstand bevorzugen würde. Die Ergebnisse weisen auf eine Pattsituation mit leichten Vorteilen für den BDI hin. Und drittens zeigt der Ansatz des „Neuen Konstitutionalismus“, dass der Kampf gemeinsam mit Frankreich vor allen Dingen auf der Ebene der EU ausgetragen wird, die das Wettbewerbsrecht im Augenblick wesentlich bestimmt. Dieser Kampf äußert sich durch diverse Spannungen auf allen Ebenen der EU-Politik.

Literatur:

Schneider, E. (2023): Germany’s Industrial strategy 2030, EU competition policy and the Crisis of New Constitutionalism. (Geo-)political economy of a contested paradigm shift. In: New Political Economy. Jahrgang 28. Ausgabe 2. S.241-258.

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