One Size doesn’t fit all

⋄ Bisher gibt es noch kein allgemein akzeptiertes Verfahren, um nationale Durchschnittsprofitraten zu berechnen, da bürgerliche Statistiken in Preisen und nicht in Werten angegeben sind.

⋄ Dazu kommen noch jeweils besondere Umstände, die nicht denen einer kapitalistischen Ökonomie im allgemeinen Durchschnitt entsprechen.

⋄ Joshua Watterton schlägt daher in der Critical Sociology vor, dass jede Volkswirtschaft entsprechend des Sinns der Profitratengleichung gesondert untersucht werden solle.

⋄ Er analysierte die Profitrate der USA seit 1950 und nahm dabei besondere Rücksicht auf die unproduktive Arbeit und das fiktive Kapital.

⋄ Er zeigte nicht nur den tendenziellen Fall der Profitrate auf, sondern auch die wachsende Bedeutung des unproduktiven Sektors zur Realisierung des produktiven Mehrwerts.
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.

Die aufgeschriebene Debatte darüber, wie bürgerliche in Preisen geführte Statistiken im Spiegel der Marxschen Arbeitswertlehre interpretiert werden können und zum Beispiel eine Bestätigung oder Widerlegung des tendenziellen Falls der Profitrate erlauben, füllt mittlerweile ganze Bibliotheken. Wie behandelt man die unproduktive Arbeit? Wie das fiktive Kapital? Oder das Transformationsproblem? Schwierig, schwierig, schwierig.

Joshua J. Watterton fand in der Critical Sociology in der Tradition Shane Mages und Murray E.G. Smiths eine sehr spannende Antwort. Die Übersetzung von Preisen in die Wertform oder in eine Profitrate sollte nicht als scholastisches Problem behandelt werden, dass mit einer möglichst abstrakten Gleichung über alle Gesellschaften herfallen kann. Vielmehr solle konkret gefragt werden, was denn eigentlich die wesentlichen Einflüsse sind, welche die Abweichung der Werten und Wertbestandteilen von den Preisen und statistischen Größen bewirken. So würde man erstens einen tieferen Einblick in die Besonderheiten einer konkreten Ökonomie bekommen und zweitens eine wirklichkeitsnahe Abbildung der Profitrate erhalten. Eine solche Lösung könne nicht universell sein, sondern müsse immer fallweise gelten. Mit diesem Ansatz untersuchte er die Entwicklung der Profitrate der USA zwischen 1950 und 2020.

Der Kerngedanke der Studie

Zur Prognose von Karl Marx, dass die Profitrate tendenziell fällt, weil zunehmend lebendige Arbeit im Wettbewerb durch aufwendige produktivere Produktionsmittel ersetzt werden, soll hier nicht viel gesagt werden, da dies in einigen Beiträgen schon näher erläutert wurde (hier & hier & hier). Was die Studie spannend macht, ist nicht das Ergebnis: die Marxschen Prognosen werden erneut bestätigt. Auch die Methodik ist durchdacht, aber nicht spektakulär. Wirklich originell ist der prinzipielle Ansatz. Wie sicher bekannt sein dürfte, beschreibt Marx im Kapital eine kapitalistische Gesellschaft in ihrem idealen Durchschnitt. Nun entspricht keine empirische Volkswirtschaft einer solchen. Darüber hinaus werden die meisten ökonomischen Daten in Preisen und nicht in Werten ermittelt, sodass die Anwendbarkeit bürgerlicher Statistiken für marxistische Analysen immer unter Vorbehalt steht. Über die Zeit haben sich sehr verschiedene Ansätze entwickelt, um mit diesen Problemen umzugehen: Verrechnungen mit Input-Output-Matrizen, iterative Verfahren, monetäre Wertinterpretationen, verschiedenste Transformationsprozeduren und und und.

Wattertons Ansatz macht nun besonders, dass er im Gegensatz zu den meisten anderen Theoretiker*innen keine allgemeine Prozedur vorschlägt, sondern nach den nationalen Spezifika sucht. Für den Untersuchungsraum Amerika etwa stellt sich die Frage, wie die unproduktive Arbeit (nicht wertbildende, aber notwendige Arbeit) in der Profitratengleichung mit berücksichtigt wird und wie der Einfluss des fiktiven Kapitals zu bewerten ist. Fiktives Kapital und unproduktive Arbeit erfüllten im amerikanischen Akkumulationsregime ganze bestimmte Funktionen und man müsse sie nach dem Sinn dieser Funktionen in die Marxsche Profitratentheorie einbinden.

In anderen Ländern hingegen gibt es vielleicht kaum fiktives Kapital oder die unproduktive Arbeit wurde dekommodifiziert (Näheres hier), sodass die ausgefüllten Funktionen durch andere Institutionen übernommen wurden, die wiederum entsprechend ihres Charakters theoretisch und mathematisch bearbeitet werden müssen. Es gelte daher, keine allgemeine One-Fits-All-Gleichung zur Berechnung der Marxschen Profitrate zu finden, sondern den Sinn der Gleichung zu verstehen und zu schauen, welche Behandlung diesem Sinn am ehesten gerecht wird.

Unproduktive Arbeit

Als einen für die USA passenden Analyserahmen wählte Watterton das Konzept von Shane Mage und Murray E.G. Smith, zwei Ökonom*innen, die auch häufig in trotzkisischen Publikationen veröffentlichten. Neben einer allgemeinen unterproduktiven Krisentheorie zeichnen sich die beiden durch eine besondere Behandlung der unproduktiven Arbeit und des fiktiven Kapitals aus.

Unter unproduktiver Arbeit wird im Marxismus Arbeit verstanden, die nicht im Sinne der Arbeitswertlehre Wert schafft. Dabei gäbe es drei unterschiedliche Formen an unproduktiver Arbeit. Die eine sei gesellschaftlich notwendige unproduktive Arbeit. Ein*e Verkäufer*in fügt einer Ware zwar nichts an Wert hinzu, da sich beim Verkauf der Gebrauchswert der Ware nicht ändert, jedoch ist die Zirkulation der Ware notwendig zur Realisierung des Werts. Auch die gesamte Staatsbürokratie oder das Bildungssystem können als solch gesellschaftlich notwendige unproduktive Arbeit aufgefasst werden. Daneben gäbe es noch die nicht-produktive Arbeit, also alle Arbeiten, die außerhalb der kapitalistischen Sphäre durchgeführt würden und nicht notwendige unproduktive Arbeit, zum Beispiel Luxusdienstleistungen für die Bourgeoisie.

Allen Arbeiten ist gemeinsam, dass sie vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten keinen Mehrwert schafften. Eine Verkäufer*in werde jedoch trotzdem ausgebeutet, da ihre Lohnarbeit dem Handelskapitalisten einen Anteil am Gesamtmehrwert verschaffe, der größer ist als der ausgezahlte Lohn. Vom Standpunkt des gesamtgesellschaftlichen Kapitals ist daher die Zirkulations- oder Realisationsarbeit mit in die Profitratenrechnung einzubeziehen. Watterton schlägt nun vor, die unproduktive Arbeit als konstantes Kapital zu berücksichtigen. Das erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, da man mit dem konstanten Kapital eher die Produktionsmittel in Verbindung bringt. Watterton argumentiert jedoch, dass auch die Produktionsmittel nur deshalb Wert besäßen, weil sie Produkte menschlicher Arbeit seien. Ob diese Arbeit im Produktionsmittel vergegenständlicht sei oder als notwendige Arbeit in der Kalkulation erscheine, sei dabei weniger von Belang als die gemeinsame Eigenschaft, ihren Wert nur zu übertragen und keinen Mehrwert zu schaffen.

Das hat auch eine ganz praktische Konsequenz. Das variable Kapital und der Mehrwert müssten nach Besteuerung gemessen und die Steuer auf das konstante Kapital aufgeschlagen werden, da das Steueraufkommen einen Teil der gesellschaftlich notwendigen unproduktiven Arbeit finanziere. Die Profitrate würde sonst überbewertet, da der im Mehrwert enthaltene Anteil des fixen Kapitals im Zähler statt im Nenner stünde.

Fiktives Kapital

Nicht weniger interessant ist die Behandlung des fiktiven Kapitals. Viele Marxist*innen würden den spekulativen Sektor als unproduktiven Sektor einfach nicht mit in die Profitrate einbeziehen. Watterton, Mage und Smith schlagen jedoch eine temporale Interpretation vor. Das konstante Kapital sei bereits realisierter Wert, weshalb es in der Produktion keinen neuen Wert erzeugten. Es sei der Vergangenheit zuzurechnen. Die lebendige Arbeit, sprich das variable Kapital und der Mehrwert, würden in der Produktion den neuen Wert schaffen. Dies sei der gegenwärtige Prozess. Und das fiktive Kapital sei antizipierter zukünftiger Wert. Das bedeutet, dass es die zeitliche Vorwegnahme eines in der Zukunft stattfindenden Verwertungsprozesses bzw. mehrerer Verwertungsprozesse ist. Die Höhe des zu erwartenden Profits ist eine gedankliche Extrapolation der zu erwartenden Ausbeutungsrate, Produktivität und Extraprofitgenerierung auf Grundlage der Durchschnittsprofitrate. Auch wenn die Realisierung des Werts noch in der Zukunft liege, könne man das fiktive Kapital in der Gegenwart nicht ignorieren, da es als Geldkapital bereits in den aktuellen Produktionsprozess einfließe. Allerdings könne man auch nicht einfach die Profitraten des Finanzsektors mit denen des produktiven Kapitals gleichsetzen.

Watterton schlägt daher eine Normalisierung der Profitraten des Finanz-, aber auch des Versicherungs- und Immobiliensektors vor. Denn dieser habe im Schnitt überdurchschnittliche Profitraten, da in diesen bereits die Erwartung auf im Vergleich zur Gegenwart produktivere bzw. mehrere Produktionsprozesse abgebildet seien. Natürlich unterliegen diese spekulativen Erwartungen der beständigen Gefahr, unterbrochen oder nicht realisiert zu werden, so dass effektiv das Risiko der Nichtrealisierung des Profits in Normalzeiten verhindert, dass alles Kapital in den Finanzsektor strömt. Um eine aussage Gesamtprofitrate zu erhalten, müsse die Profitrate des Finanzsektors daher „normalisiert“ werden. Das bedeutet, dass zunächst die Durchschnittsprofitrate bestimmt werde. Dann werde die Durchschnittsprofitrate des Finanzsektors entsprechend der Gesamtprofitrate nach unten korrigiert und mit dem neuen Profit des Finanzsektors die letztendliche Gesamtprofitrate ausgerechnet.

Ergebnisse

Mit einer solchen Berücksichtigung untersuchte Watterton nun die Nachkriegsökonomie der Vereinigten Staaten. Ein erstes interessantes Ergebnis, dass dank des Ansatzes sichtbar wird, ist, dass der Anteil notwendiger unproduktiver Arbeit immer weiter steigt.

Abb.: Watterton, J. (2023), siehe Literatur, S.1182.

Stand gegen Ende des Zweiten Weltkriegs noch ein produktiver Arbeitsplatz einem gesellschaftlich notwendigen unproduktiven gegenüber, so sind es heute einer auf zwei. Dass produktive Arbeit überhaupt verwertet werden kann, bedarf also eines immer größeren unproduktiven Wasserkopfs. Arbeiter*innen müssen länger ausgebildet werden, der Verkauf muss immer weiter diversifiziert werden, Werbung muss geschaltet, der Klassenkampf immer komplexer befriedet und Krisen durch Auslagerung von Kapitalüberschüssen in unproduktive Bereiche immer aufwendiger nach hinten geschoben werden.

Dass dies überhaupt möglich ist, beruht auf der stark ansteigenden Ausbeutungsrate der produktiven Arbeit.

Abb.: Watterton, J. (2023), siehe Literatur, S.1183.

Während diese bis ca. 1990 sehr konstant bei 60% gelegen habe, ist ein sprunghafter Anstieg bis zu einem Wert von über 100% seit der neoliberalen Wende zu verzeichnen. Die Trennung von gesellschaftlicher notwendiger unproduktiver und produktiver Arbeit führt hier auch zu einem anderen Ergebnis als bei vielen anderen Marxist*innen. Denn häufig sehen wir sowohl geografisch als auch zeitlich recht stabile Ausbeutungsraten bei 100%, während bei Watterton doch eine zeitliche Veränderung nach oben sichtbar wird. Das bedeutet im Übrigen nicht, dass alle anderen Lohnarbeiten durch die produktive Arbeit „erwirtschaftet werden“, wie es zum Beispiel die neue Wagenknecht-Partei nahe legen will. Vielmehr ist sehr viel unproduktive Arbeit wirklich notwendig, damit überhaupt der Mehrwert produktiver Arbeit realisiert werden kann. Ein typischer Befund für eine Gesellschaft, die mehr produziert, als die kaufkräftige Nachfrage des Proletariats zulässt.

Beide Effekte zusammengenommen führen dann dazu, dass die Vergrößerung der Ausbeutungsrate nicht dauerhaft zum einem Anstieg oder auch nur einer Stabiliserung der Profitrate führt:

Abb.: Watterton, J. (2023), siehe Literatur, S.1183. ARP = Durchschnittsprofitrate, OCC = organische Zusammensetzung

Der Anstieg der organischen Zusammensetzung ist deutlich sichtbar, die wellenförmig abwärtszeigende Tendenz der Profitrate, die sich von anfänglich 14-15% auf 10-12% abgesenkt hat, ebenfalls. Theoretiker wie Michael Heinrich, die auf die Möglichkeit und Wirkmächtigkeit der Gegentendenzen zum tendenziellen Fall der Profitrate bestehen, sehen sich hier empirisch widerlegt.

Zusammenfassung

Watterton wirft mit seiner Analyse des tendenziellen Falls der Durchschnittsprofitrate eine ganz wesentliche Frage auf: warum untersuchen wir Marxist*innen diesen überhaupt? Geht es uns nur darum, dass die Annahmen von Karl Marx, welche Tendenzen überwiegen und welche Gegentendenzen am Ende unterliegen, richtig waren? Würde die Profitrate nicht fallen, hätte die Marxsche Analyse kein Gramm an Wahrheit verloren, nur weil er die Stärke der jeweiligen Einflüsse falsch eingeschätzt hätte. Das kann nicht der alleinige Zweck der Übung sein.

Watterton erinnert daran, dass es Marxist*innen darum geht, die wesentlichen Widersprüche einer Ökonomie aufzudecken und in Zusammenhang mit der erfahrbaren Realität zu bringen. In den USA ist diese erfahrbare Realität durch einen starken Einfluss des fiktiven Kapitals, riesiger industrieller Produktivkraftsteigerungen und großer Mühen bei der Realisierung produktiven Mehrwerts geprägt. Und diese Erscheinungen sollten sich in einer Profitratenanalyse widerspiegeln, um die spezifische Rolle der ökonomischen Größen, die Marx als zentral erachtete, sichtbar zu machen. In China, Indien, Russland oder Südafrika sind schon wieder andere Einflüsse entscheidend, wie die Beziehung zum Weltmarkt, der produktive staatliche Sektor oder die halbproletarische Existenz auf dem Land. Demgemäß sollte eine marxistische Profitratenanalyse auch dort anders aussehen. Mit einem solchen diversen Ansatz wäre der Marxismus wieder etwas, worauf er Anspruch erhebt: nicht nur Elfenbeinturmmathematik, sondern ein Mittel tiefer Erkenntnis konkreter Problemstellungen.

Literatur:

Watterton, J. (2023): Profitability and Its Determinants: Operationalizing the ‘Law of the Tendency of the Rate of Profit to Fall’ in the US Economy, 1950–2020. In: Critical Sociology. Jahrgang 49. Ausgabe 7-8. S.1173–1188.

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