Pavel Campeanu und seine Kritik des Stalinismus

⋄ Obwohl es keine kohärente Theorie des Stalinismus gibt, ist der Stalinismus – eher als Phänomen der Abgrenzung als der Identifikation – in Debatten präsent.

⋄ Bereits in den 80er Jahren haben sich auch in den Staaten des Warschauer Paktes Historiker kritisch mit dem Stalinismus auseinandergesetzt.

⋄ In Rumänien etwa verfasste der Kunstwissenschaftler und Soziologe Pavel Campeanu ein dreibändiges Werk über Stalin, das zunächst jedoch nur im Ausland erscheinen konnte.


⋄ Er interpretierte den Stalinismus hier als eine Form der ursprünglichen Akkumulation, weshalb Aspekte des Kapitalismus, Feudalismus, aber auch Sozialismus in ihm sichtbar würden.

⋄ Zudem sei die Sowjetunion eine „synkretische Gesellschaft“ gewesen, in der nicht Klassen, sondern ganze historische Gesellschaft zueinander im Widerspruch gestanden hätten.

Auch wenn kaum noch Stalinist*innen auf der Erde wandeln, scheint der Stalinismus als Kampfbegriff nicht ausgestorben zu sein. So wird etwa Vladimir Putin, wenn man sich durch Hitler-Vergleiche nicht den Vorwurf der Shoa-Relativierung auf sich ziehen möchte, am liebsten mit Stalin gleichgesetzt. Irgendwie gab es unter Stalin Unterdrückung. Irgendwie wurden da Länder besetzt. Und irgendwie hatte er da einen Konflikt mit bestimmten Klassen in der Ukraine. Meistens wird der Vergleich nie genau ausgeführt, auch wenn die Einstufung der ukrainischen Hungerkrise 1933/34 als Genozid durch den Bundestag sicher nicht zufällig nach der russischen Invasion in der Ukraine erfolgte.

Selbst, wer es genauer wissen möchte, stößt in der wissenschaftlichen Literatur schnell an Grenzen. Anders als die landläufige Verwendung des Stalinismus-Begriffs vermuten lassen würde, verbirgt sich dahinter kein konsensuell vertretenes Konzept. Während etwa die bürgerliche Rechte in so ziemlich jedem sozialistischen Land, in dem die Führung der kommunistischen Partei verfassungsmäßig verankert ist, den Stalinismus walten sieht, orientiert sich die Linke eher phänomenologisch und opportunistisch. In den Stalinismus werden irgendwie alle Prozesse des sozialistischen Umbaus ausgelagert, die man unschön findet. Ein seriöses Konzept ist das nicht. In der Thesis Eleven beschäftigte sich Emanuel Copilas von der Universität in Timisora mit der Stalinismus-Analyse des lange vergessenen Marxisten Pavel Campeanu. Gegen Ende des sozialistischen Rumäniens verfasste dieser zu diesem Thema Werke, die aktuell wieder neue Aufmerksamkeit erfahren.

Pavel Campeanu

Pavel Campeani wurde am 29. Februar 1920 in Rumänien geboren und schloss sich bereits in jungen Jahren der kommunistischen Jugendbewegung an. Von den Behörden wurde er verhaftet und teilte sich unter anderem eine Zelle mit Nicolas Ceaucescu. Während des Krieges war er im Sondergefängnis Caransebeș inhaftiert, über das er in den 60er Jahren einen Gedichtband schrieb. Nach dem Sieg der Sowjetunion über den Verbündeten Nazi-Deutschlands arbeitete er beim Zentralkomitee der Partei zu Emigrationsangelegenheiten, wo er unter anderem in Kontakt mit der Auslandsleitung der griechischen KKE und jugoslawischen prosowjetischen Oppositionellen gegen Tito stand. Danach wechselte er an die Universität, um sich mit Kunst und Kultur unter den Bedingungen des Sozialismus auseinanderzusetzen; in diesem Feld promovierte er auch.

In den 70ern wandte er sich stärker der Soziologie zu, wo seine Forschung einen neo-marxistischen Einschlag bekam. Die realsozialistischen Gesellschaften beschrieb er nicht mehr als Arbeiter- und Bauernstaaten, sondern als synkretische Gesellschaften. Damit meinte er, dass diese Gesellschaften nicht aus dem freien Antagonismus der sich entgegenstehenden Klassen erklärt werden könnten, sondern als Mischformen dieser Interessen, die bürokratisch verwaltet würden, zu verstehen sind. Jedoch schrieb er im Wesentlichen für die Schublade. Eine Monographie über Kafka wurde nie veröffentlicht. Eine Kontextualisierung des Prozesses oder der Strafkolonie mit dem Stalinismus war zu dieser Zeit noch nicht erwünscht. Daher publizierte er im Folgenden für das Ausland.

Sein Hauptwerk „Die Synkretische Gesellschaft“ übermittelte er in französischer Übersetzung in die USA, wo sie von Alfred Meyer, einem deutsch-jüdischen Emigranten, der für seine Forschungen zur Geschichte der UdSSR u.a. das Bundesverdienstkreuz erhielt, übersetzt wurde. Mit seinen Veröffentlichungen im westlichen Ausland geriet Campeanu ins Visier der Securitate, die allein in den Jahren 1981/82 einen heute öffentlich einsehbaren mehrtausendseitigen Bericht anfertigte. Die anderen Jahrgänge sind bis heute nicht zugänglich, obwohl die Observation sich sehr unwahrscheinlich nur auf diese Jahre begrenzte. Noch zu sozialistischen Zeiten legte er auf Grundlage seiner Theorie der synkretischen Gesellschaft drei Bände über den Stalinismus vor; nach 1990 noch einen über Ceaucescu. Am 31. Dezember 1989 gründete er die Gruppe für sozialen Dialog mit, welche einen freiheitlichen und rechtsstaatlichen Übergang Rumäniens in den Kapitalismus fördern wollte. Sie gaben etwa dem bekannten Unternehmer George Soros sein erstes Forum in dem Land. 2003 starb Pavel Campeanu. Seitdem hat sich die GDS zu einem Sprechrohr der Rechten in Rumänien entwickelt.

Linke Stalinismuskritik

Campeanu reiht sich ein in eine Riege osteuropäischer Marxist*innen, die noch während des Kalten Krieges Deutungsversuche über den Stalinismus wagten und sich im Rahmen dieser vom Leninismus abwendeten. Hierzu gehören auch Bahro, Kolakowski oder Djilas. Diese Kritiker zielten im Wesentlichen auf die Bürokratisierung der Partei nach der Oktoberrevolution ab, welche die Partei zum Werkzeug der Interessen einer Bürokratenklasse bzw. des führenden Mannes dieser Klasse verkommen ließen. Damit waren diese anschlussfähig an eine westliche-trotzkistische Kritik, wie sie Mandel, Serge oder Dunayevskaya vertraten, welche den Stalinismus als eine bürokratische Entartung des Sozialismus ansahen. Serge schloss anders als andere Trotzkist*innen auch die Brücke zur bürgerlichen Totalitarismusvorstellung, indem er die Elemente des Fehlens einer Opposition, der Repression, einen großen Propagandaapparat, der führenden Rolle des Staates in der Ökonomie und der hermetischen Struktur der führenden Partei als simultan zum Faschismus ansah. Diese Ansicht krankt aus marxistischer Sicht daran, dass wesentliche Merkmale von totalitären Regimen in spezifischer Form in allen bürgerlichen Demokratien zu finden sind, nur dass der nicht weniger totale Herrschaftsanaspruch des Kapitals durch den Warenfetisch in verkleideter Form auftritt.

Bahro oder Djilas beschrieben den Stalinismus und die folgenden realsozialistischen Systeme als Staatskapitalismus, weil die Waren- und Lohnform nicht überwunden sei und sich der Staat den Mehrwert aneigne, über den eine Bürokratenklasse wieder verfügen würde. Da nicht die Arbeiter*innen, sondern der Staat das Monopol über die Produktionsmittel besäßen, würde das Proletariat zwar nicht mehr von den Kapitalisten, aber sehr wohl von Stalin ausgebeutet. Die Unterkonsumtion nutze Stalin als Druckmittel, aber der Stalinismus könne nicht überdauern, da auch er der Tendenz der fallenden Profitrate unterliege und somit dieses Machtmittel an Kraft verliere. Dieser Ansicht widersprach allerdings kein geringerer als Trotzki selbst, dessen Kritik eher auf einen bürokratisch entarteten Arbeiterstaat abzielte.

Eine westliche, auf der Frankfurter Schule beruhende Kritik des Stalinismus, setzt weniger an solchen ökonomischen oder politischen Ansätzen an, als eher das Weiterleben von Fetischisierungsformen zu kritisieren. Durch die andauernde Trennung der Arbeiter*innen von den Produktionsmitteln würden sich Fetische nur verändern, etwa in Form des Personenkults, aber eben nicht aufheben, wodurch der Sozialismus seinen emanzipatorischen Anspruch einbüße.

Bürokratenklasse

Pavel Campeanu lehnte sowohl die Vorstellung eines Staatskapitalismus, wie auch der Herrschaft einer Bürokratenklasse im Stalinismus ab. Ohne freie Märkte mache es wenig Sinn, in kapitalistischen Kategorien zu sprechen, selbst wenn es die Ökonomen der Systeme selber taten. Ökonomische Probleme der sozialistischen Staaten seien keinesfalls darauf zurückzuführen, dass einer Überproduktion eine Unterkonsumtion gegenüberstehe, was eine Konsequenz der Ausbeutung der Arbeiter*innen sei. Wenn aber dieses Problem nicht in dieser Art existiere, dann könne man schlecht von auf eine Ausbeutung schließen. Damit mache schließlich auch die Analogie zwischen der Herrschaft der Bourgeoisie im Kapitalismus, die von einer Herrschaft der Bürokraten abgelöst worden sei, keinen Sinn mehr. Vielmehr existierten zwar noch Klassen im Sozialismus, diese seien aber nicht mehr wesensbestimmend. Die Bürokratie sein kein Produkt der Klassenkämpfe, sondern der Spannungen und Inkompatibilitäten, die sich aus der Rückständigkeit der Produktion der revolutionär überwundenen kapitalistischen Gesellschaften erkläre.

Ursprüngliche Akkumulation

Campeanu ist einer der frühen Vertreter der These von der nachholenden ursprünglichen Akkumulation durch den Stalinismus. Das bedeutet folgendes. Die ursprüngliche Akkumulation war die gewaltsame Herstellung der Grundlagen des Kapitalismus in den alten feudalen Gesellschaften, indem Allmenden eingehegt werden, Bauern von ihrem Pachtland vertrieben wurden und in die Städte einwanderten, Arbeiter*innen gewaltsam diszipliniert wurden und sich die Warenform gegenüber traditionellen ökonomischen Strukturen durchzusetzen begann. Anders als Lenin es in seiner Analyse über den russischen Kapitalismus bewertete, sah Campeanu die sowjetischen Länder 1917 noch keinesfalls als kapitalistisch an. Feudale Lebens- und Arbeitsweisen seien in allen Ländern zu finden gewesen. Daher standen die Bolscewiki 1917 nicht vor dem Problem, eine entwickelte Industriegesellschaft zu kollektivieren, sondern diese Industriegesellschaft erst einmal aufzubauen. Der Druck auf einen schnellen Aufbau stieg durch die außenpolitischen Gefahren, die zuerst vom bürgerlichen Block um Großbritannien und später von den Faschisten an der Macht ausgingen.

Diese nachholende Industrialisierung verband notwendigerweise drei Elemente: feudale, da nicht die historische Zeit zur Überwindung blieb, wie in anderen Staaten (in Deutschland etwa prägten feudale Strukturen noch bis 1945 große Teile des Landes); kapitalistische, da die Sowjetunion ohne Außenhandel mit fortgeschrittenen Staaten keine Industrie in der vorgesehenen Geschwindigkeit aufbauen konnte und sozialistische, die auf dem Kollektiveigentum und dem Primat der Kommunistischen Partei beruhten. Eine solche Gesellschaft nannte Campeanu dann eine synkretische Gesellschaft, in der die Widersprüche zwischen den drei Elementen, die etwas anders sind, als Klassenwidersprüche einer Gesellschaft, nur durch einen bürokratischen Apparat und eine letztendlich entscheidende Instanz zu bewältigen waren. Dieser Synkretismus wiederum erlaubt es auch, die begriffliche Analogie zur ursprünglichen Akkumulation kapitalistischer Gesellschaften herzustellen.

Copilas ist skeptisch gegenüber dieser Theorie. Erstens seien die Prozesse in der Sowjetunion zentral gesteuert gewesen, während die ursprüngliche Akkumulation ein dezentraler Prozess gewesen sei, der gerade die feudalen Machtzentralen in Frage stellte. Zweitens sei die ursprüngliche Akkumulation auch eng mit dem Kolonialismus verwoben gewesen. Anders als viele zeitgenössische Deutungsmuster könne man aber weder im zaristischen Russland noch in der Sowjetunion von einer Kolonisierung sprechen, als mehr einem Zusammenwachsen von Ethnizitäten auf Grund der Modernisierung der Kommunikations- und Transportmittel. Eine Unterscheidung zwischen zivilisierten und unzivilisierten Kulturen habe es so in der UdSSR nie gegeben. Drittens meint Copilas, dass Campeanu die ursprüngliche Akkumulation fälschlicherweise als einen rein urbanen Effekt verstehe, während allerdings viele Prozesse auf dem Land stattfanden. Die Übertragung industrieller Disziplin in bäuerliche Traditionen habe dann zu Gegenbewegungen geführt, wie oppositioneller Haltung oder Alkoholismus. Hier geht allerdings Copilas fehl, dies als Gegenargument anzuführen, da diese Phänomene jenen der westlichen ursprünglichen Akkumulation im Wesentlichen entsprechen, die Marx unter dem Begriff des Lumpenproleatriats artikulierte (Näheres hier).

Totalitarismus

Campeanu lehnte Totalitarismus-Vorstellungen ab, da sie sich zu einseitig auf die politische Struktur stützten, anstatt die ökonomischen Grundlagen hinreichend in den Blick zu nehmen. Die Frage ist eher danach zu stellen, aus welchen Quellen das Regime seine Legitimität schöpfte. Für Campeanu war der Stalinismus wie für einige seiner leninistischen Kolleg*innen wie Bahro ein Zentrismus, der sich sowohl von der rechten (Bukharin) wie von der linken Opposition (Trotzki) befreit hat. Dieser zentristische Flügel hatte unter der Notwendigkeit einer klaren politischen Führung die Fraktionslosigkeit zum Dogma erklärt und sich selbst mit dem Proletariat identifiziert. Die Frage ist hierbei, der Aufbruch dieses Dogmas durch die ständig neuen äußeren Krisen verhindert wurden, oder ob die zentristische Fraktion die Krisen selbst erzeugte, um eine ursprüngliche bolschewistische Pluralität dauerhaft zu untergraben.

Die anschließende Frage ist jedoch, ob die Abschaffung der Pluralität nicht bereits im Leninismus oder gar im Marxismus angelegt sei. Kolakowski etwa sieht das so. Während der Klassenkampf bürgerlicher Systeme automatisch zu politischen Parteien führe, die ihre Interessen mal demokratischer, mal undemokratischer artikulieren, seien bürgerlicher Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit oder Individualismus keine Merkmale einer kommunistischen Gesellschaft mehr. In der heiklen Phase der sozialistischen Umgestaltung allerdings lade dies ein, unter dem Verweis auf das organische Absterben bürgerlicher Freiheiten und Rechte im Kapitalismus, dieses zwangsweise bereits vorwegzunehmen, auch wenn die gesellschaftlichen Grundlagen für ein emanzipatorisches Absterben noch garnicht vorliegen. Eine solche Schlussfolgerung ließe sich aber bei Campeanu nicht ziehen, da gerade der Synkretismus der stalinistischen Gesellschaft mehrere Wege offenhalte. Es gibt zwar keine Widersprüche zwischen Klassenmehr, aber eben zwischen kompletten Gesellschaftsentwürfen und diese würden zu der Spannung führen, die zwar gewaltsam eingehegt werden müssten, aber eben nie totalitären Zugriff auf das Bewusstsein der Menschen erhielte. So konnten sich Arbeiter*innen immer wehren, wenn die Arbeitsbedingungen zu schlecht wurden.

Zusammenfassung

Die hier dargestellte Zusammenfassung des Aufsatzes von Copilas könnte vielleicht den Eindruck erwecken, dass Campeanu den Stalinismus gerechtfertigt oder entschuldigt hätte. Gegenteiliges ist jedoch der Fall. Seine Kritik am Stalinismus war insbesondere in den 90ern scharf und teilweise sogar Gesinnungsgenossen zu einseitig und überzogen. Unter Ceaucescu müssen Campeanus Darstellungen ohnehin unter den Bedingungen der äußeren und inneren Zensur gelesen werden. Aber das macht letztendlich gerade die Güte seiner Darstellung aus. Man kann bei Campeanu Darstellung, Interpretation und Bewertung trennen. Dass eine nachvollziehbare Erklärung noch lange keine Rechtfertigung ist, wird bei wenigen Autoren so klar, wie bei ihm. Dem Gegenstand der Kritik den notwendigen Respekt vor den inneren Antagonismen entgegenkommen zu lassen, ist eine Tugend, die in der zeitgenössischen akademischen wie nichtakademischen Debatte immer mehr verloren geht. Und alleine daher lohnt sich ein Blick in Campeanus Werk, selbst wenn man neben der Bewertung auch die prinzipielle Erklärung nicht teilt.

Literatur:

Copilas, E. (2024): Reading Campeanu through Lewin: A contribution to the political history of Stalinism. In: Thesis Eleven. Ausgabe 181(1). S.113-130.

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