⋄ Im heutigen Artikel geht es mal nicht um die Bedeutung der Durchschnittsprofitrate oder ihren tendenziellen Fall, sondern um die Verteilung der Profitraten. ⋄ Carlos Alberto Duque Garcia untersuchte hierzu die 5000 größten Unternehmen Kolumbiens im Jahr 2018. ⋄ Er fand heraus, dass sich alle Profitraten national oder innerhalb eines Sektors ähnlich einer Boltzmann-Verteilung verhalten, während die einzelnen Sektorprofitraten sich als eine Normalverteilung präsentieren. ⋄ Die unterschiedlichen Formen lassen sich durch die unterschiedlichen kausalen Beziehungen bei der Bildung der Profitraten erklären und stützen die marxistische Wirtschaftstheorie. ⋄ Die auf Renten basierenden Wirtschaftszweige – Banken, Immobilien, Rohstoffe – weisen dabei die höchsten Durchschnittsprofitraten auf, während sich die produzierenden Industrien direkt am Durchschnitt orientieren. |

In der marxistischen Debatte herrscht noch viel Unklarheit über den Charakter der Durchschnittsprofitrate. Auf der einen Seite kann eine Durchschnittsprofitrate nicht einfach als Einheitsprofitrate verstanden werden, denn wenn alle Kapitale die gleiche Profitrate hätten, dann müsste man aus nichts einen Durchschnitt bilden. Auf der anderen Seite: wenn die Profitraten divergieren, wie können sie dann noch auf die einzelnen Profitraten wirken? Woran orientiert sich dann die Bourgeoisie? Denn fruchtbarsten Interprationsansatz haben vor vielen Jahren Machover und Farjoun entwickelt, die eine statistische Verteilung in Form einer Gamma-Funktion erkannten und damit die Brücke zur Physik schlugen, wo sich die Teilchengeschwindigkeiten in einem idealen Gas ähnlich verteilen und damit einen Zusammenhang zwischen mikroskopischen und makroskopischen Größen herstellen.
Auch, wenn sie mittlerweile wächst, ist die empirische Basis noch dünn; insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass sich auf nationalen, sektoralen und Unternehmensebenen Profitraten unterschiedlich ausprägen können. Der in allen Teilbereichen der marxistischen Empiriegewinnung äußerst umtriebige Carlos Alberto Duque Garcia hat die Profitratenverteilung in Kolumbien für das Jahr 2018 untersucht. Insbesondere hat er sich wie Farjoun und Machover mit deren Form auseinandergesetzt. Er schließt, dass die Ergebnisse mit der marxistischen Theorie übereinstimmen … und nur mit der marxistischen.
Anfangsfragen
Kommen wir zunächst einmal zu einigen Fragen, die sich bei der empirischen Untersuchung von Profitraten ergeben. Zum einen sollte es einen Unterschied geben zwischen der intraindustriellen Bildung und der interindustriellen Bildung. Innerhalb eines Sektors sollte der Wettbewerb um die produktivste Produktionsweise vorherrschen. Die einzelnen Hersteller befinden sich in unmittelbarer Konkurrenz, ähnliche Produkte mit weniger Arbeitszeit, geringerem Produktionsmitteleinsatz oder geringerer Umschlagszeit abzusetzen. Auf dieser Ebene wird langfristig versucht, lebendige Arbeitskraft einzusparen und durch technologischen Fortschritt zuersetzen, was langfristig die Durchschnittsprofitrate senkt. Auf der interindustriellen Ebene hingegen, konkurrieren die einzelnen Sektoren um ihren Zugang zum Geldkapital. Dieses sucht sich die Zweige mit den höchsten Profitraten aus, um möglichst hohe Zinsen verlangen zu können. Beide Prozesse haben gemeinsam, dass sie turbulent und dynamisch verlaufen, aber die Gesetzmäßigkeiten unterscheiden sich jeweils in ihren Kausalitäten.
Eine zweite Frage betrifft eben diese Kausalitäten, die sich mit der Durchschnittsprofitrate verbinden. Klar, einen Durchschnitt kann man immer bilden, aber ob ihm auch irgendeine Form realer Bedeutung zukommt, ist umstritten. Hier haben sich in der jüngeren Forschungen zwei Haupttheorierahmen zur Interpretation der empirischen Daten herausgebildet. Zum einen die eingangs erwähnte probabilistische Interpretation in der Nachfolge Farjouns und Machovers, nach der die Profitraten auf interindustrieller Ebene zwar streuen können, aber in der Gesamtheit die Form einer Boltzmannschen Wahrscheinlichkeitsverteilung annehmen, was einen inneren Zusammenhang nahelegt und zum Beispiel Modelle ermöglicht, in denen Surplusprofite und zu geringe Profite zwischen Firmen sich wie Energie zwischen Teilchen austauschen können. Und es gibt zum anderen die Leitprofitthese von Anwar Shaikh, nach der im Wesentlichen die Monopolfirmen eines Sektors die anzustrebende Profitrate vorgeben, und wo sich Median- und Durchschnittsprofitrate deutlich unterscheiden. Hier sollte die Streuung auch recht groß sein.
Eine dritte Frage ist, ob negative Profitraten mit zu berücksichtigen seien. Insbesondere die klassische Ökonomie hat negative Profitraten als Scheitern einer Unternehmung beurteilt und zumeist nicht mit berücksichtigt. Und in der Tat wird sich kaum eine Firma an einer negativen Profitrate orientieren können, da dies selbst zur Untätigkeit ein Verlustgeschäft darstellen würde. Nach Shaikh hingegen müssten diese mit berücksichtigt werden und auch in vielen probabilistischen Modellen.
Die empirische Studie
Garcia untersuchte nun die Profitraten der 4963 größten Firmen Kolumbiens aus dem Jahre 2018. Die Daten stammen von der Datenbank der Wirtschaftszeitung Dinero. Diese listet alle Firmen mit einem Umsatz von mindestens 7,9 Millionen Dollar auf und notiert neben den Umsätzen auch Firmenvermögen und Nettogewinne. Zusammen waren alle Umsätze 1,3x so hoch wie das kolumbianische Bruttosozialprodukt und alle Vermögen 2,3x. Die Profite stellen 33,3% des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts dar.
Die Profite wurden als Quotient aus den Nettogewinnen vor Steuern und der Firmenvermögen berechnet. Auch diese Definition ist nicht ganz unumstritten, da manche auch nur das fungierende Kapital berücksichtigen und die Gewinne durch die Produktionskosten teilen. Dagegen spricht allerdings, dass es für das Kapital wenig Unterschied macht, ob allgemein unproduktiv gearbeitet wird oder ein Teil des Kapitals produktiv arbeitet, während das andere brach liegt. Die von Garcia berechneten Profitraten sind demnach geringer als jene, die nur die Produktionskosten als Auslage berücksichtigen. Jedenfalls wurde hier keine hochtrabende Theoriebildung betrieben, da sies auch nicht Kern der Untersuchung war.
Mit dieser recht schlichten Methodik hat Garcia mehrere Durchschnittsprofitraten berechnet. Einmal die generelle, aber auch die Durchschnittsprofitraten der einzelnen Industriezweige. Darüber hinaus hat er zwischen einer nominellen, in der jede Profitrate als gleichwertig betrachtet wird und einer gewichteten unterschieden, bei der die Größe des Kapital eine Rolle spielt. Wenn die gewichtete Durchschnittsprofitrate höher ist als die nominelle, dann machen die Monopolfirmen in einem Industriezweig höhere Profite als die kleineren Unternehmen und umgekehrt.
Zum Schluss wurde noch eine Kerndichteschätzung vorgenommen. Diese schätzt ab, wie gut sich eine Gruppe von Werten mit einer Wahrscheinlichkeitsfunktion darstellen lässt. Die bekannteste Anwendung einer solchen Funktion ist die Heat Map beim Fußball. Während ein Spieler im Laufe eines Spiels natürlich nur einen festen Weg zurückgelegt hat, wählt die Kerndichteabschätzung verschiedene Räume aus, um die Häufigkeit mittels Farbe aufzuzeigen, mit der sich ein Spieler in diesem Bereich befunden hat. Und ähnlich ist es hier mit den Profitraten. Während jede einzelne Profitrate für sich genommen einen festen Wert hat, zeigt die Kerndichteschätzung, mit welcher Häufigkeit ich in einem bestimmten Prozentbereich Profitraten finde, um das Ergebnis dann optisch verständlich als eine Kurve darzustellen.
Nationale Durchschnittsprofitrate
Kommen wir zu den Ergebnissen. Die Profitraten verteilen sich in Kolumbien auf der nationalen Ebene ziemlich gut in Form einer Gamma-Verteilung, genauer vielleicht einer Laplace- oder einer Cauchy-Verteilung. Das bestätigt erneut den probabilistischen Ansatz nach Farjoun und Machover. Die Medianprofitrate beträgt 3,2%, während die Durchschnittsprofitrate 3,7% beträgt, was bedeutet, das über die Hälfte aller Profitraten unter dem Durchschnitt liegen. Die gewichtete Durchschnittsprofitrate liegt bei 4,9%, was wiederum bedeutet, dass die Profitraten höher werden, je größer das Vermögen der Firmen ist. Dies bestätigt wenig überraschend die Konzentrationstheorie von Marx. Zwei Drittel aller Firmen liegen im Bereich zwischen 0% und 10%, 17% haben negative Profitraten.

Fast 61% aller Firmen konnten nur Profite unterhalb der durchschnittlichen Einlagenzinsrate erzielen, was bedeutet, dass sie ihr Geld eigentlich auch auf der Bank parken könnten. Da die Kreditzinsen zwischen 8% und 10% betragen, sind sogar nur 15% bis 25% der Firmen in der Lage, Investitionskredite aufzunehmen und dennoch profitabel zu bleiben. Interessant ist auch, dass das Kapital kleiner Unternehmen mit 2x pro Jahr häufiger umschlägt als das großer Firmen (0,83x), während allerdings die Profitmargen das umgekehrte Verhältnis aufzeigen.
Industrielle Durchschnittsprofitraten
Soweit ist alles wenig neu und bestätigt mehr bereits vorhandene Kenntnisse und erweitert sie vielleicht nur auf die Situation eines peripheren Landes. Die Betrachtung der industriellen Durchschnittsprofitraten nimmt sich da schon spannender aus. Innerhalb eines Sektors ist die Fluktuation des Kapitals zwar ebenso dynamisch und teilweise chaotisch wie interindustriell. Hier ist aber die Produktivität zwischen den Firmen wesentlich besser vergleichbar. Die dominierende Tendenz des Kapitals ist es, die produktivsten Firmen langfristig zu stützen, während das Kapital nicht ganz so schnell auf die Profitrate reagiert, da Phasen mit geringen Profitraten in einer Firma, aber starken Investitionen kausal mit denen gesteigerter Produktivität und Surplusprofiten zusammenhängen.

Die Verteilung der intrasektoralen Profitraten weist eine Normalverteilung mit zwei ausgedehnten Extremen auf. Es gibt also gerade boomende Sparten und Sparten, aus denen sich das Kapital gerade zurückzieht und das sehr geringe bis negative Profitraten erwirtschaftet.

Die profitabelsten Branchen sind dabei die Rentenindustrien: Finanzkapital, Immobilien und Rohstoffe. Das entspricht dem allgemeinen Trend des Neoliberalismus, bei dem Kapital auf Grund des permanenten Nachfragedefizits nicht übermäßig gewinnträchtig in den industriellen Branchen anlegen kann. Was wir aber auch sehen, ist, dass es im Kern der industrielle Bereich ist, der die Durchschnittsprofitrate vorgibt, von der die Renten nach oben abweichen. Unterdurchschnittlich profitabel sind im wesentlichen die Bereiche, die allein der Reproduktion der Ware Arbeitskraft dienen. Während der Produktionsmittelsektor ja ebenso von spekulativen Investitionen in die Zukunft lebt, muss sich der reproduktive Bereich bereits mit der aktuellen geringen Kaufkraft des Proletariats herumschlagen. Das ist ein Ergebnis, wie es fast mustergültig nach den Marxschen Voraussagen zu erwarten wäre.

Ebenso bestätigt sich die Konzentrations- bzw. die Monopolkapitaltheorie. Je größer das Volumen der Assets ist, desto höher sind die Profitraten und umgekehrt. Dabei zeigt sich erneut, dass Firmen mit großen Assets höhere Umschlagszeiten des Kapitals und höhere Profitraten haben als Firmen, die sehr stark von menschlicher Arbeitskraft abhängen.
Profitraten in Form gebracht
Ein letztes spannendes Ergebnis ist die Verteilung der intrasektoralen Profitraten.

Wie in der Abbildung zu erkennen, folgen die meisten Branchen einer boltzmannähnlichen Verteilung. Aber einige tun dies nicht. Und das sind die mit entweder sehr hohen oder sehr niedrigen Profitraten. Der Bergbau etwa weist eine abnormale Streuung auf, wo viele Unternehmen zwar extrem profitabel, viele aber auch verlustbringend arbeiten. Ähnlich die Medien, nur dass hier sehr viele Geschäfte im Minus sind. Der Immobiliensektor wiederum bewegt sich zwar in der Regel um die Profitrate, aber es gibt ein nicht ganz so kleines Segment unglaublich lukrativer Firmen, die zwischen 20 und 30% an Profitraten einfahren. Der Finanzsektor wiederum hat eine Art Pleateau um die Durchschnittsprofitrate herum, von dem nur wenige Banken abweichen.
Man kann also zu dem Schluss kommen, dass die Verteilung der Profitraten auf den systemischen Zustand einer Branche hinweist. Bewegen sich die Profitraten entlang einer typischen Boltzmannverteilung, dann läuft die Produktion hier weitestgehend nach den wettbewerbskapitalistischen Gesetzen. Entartet diese Form allerdings, dann weist das entweder auf eine Krise der Branche hin, wie bei den Medien, oder auf eine besondere gesellschaftliche Stellung der Kapitalistenfraktion, etwa, wenn sie rechtlich oder konjunkturell massiv begünstigt wird.
Garcia versucht aus den Daten zum Ende hin noch einige Schlüsse hinsichtlich möglicher realpolitischer Konsequenzen anzustrengen. Erstens ist die massive Dominanz des Finanzsektors, der mit den Zinsen den größten Teil des Industriekapitals einstreicht, ein Entweicklungshemmnis für die kapitalistische Produktion. Sind die Zinsen zu hoch, können sich die Kapitalisten die Geldware kaum leisten und entsprechend ihre Produktivkräfte erneuern. Dass Bergbau und Immobilien stark überdurchschnittliche Profite in Form von Renten erwirtschaften, könnte eine progressive Regierung insofern nutzen, dass dies eigentlich geeignete Verstaatlichungsobjekte wären. Hier werden offenbar Monopolrenten eingestrichen, die wenig mit der wirklichen Produktivität zu tun haben. Über diese könnte man eine Steuerungsfunktion wahrnehmen, entweder indem man die Monopolpreise senkt und etwa Benzin oder Mieten für die Bevölkerung verbilligt oder indem der Staat diese Monopolrenten in die soziale Infrastruktur investiert. Selbst bürgerliche Ökonomen, die Produktivität nur durch private Unternehmerinitiative verwirklicht sehen, könnten hier kaum ein Gegenargument finden.
Zusammenfassung
Die Untersuchung von Carlos Alberto Duque Garcia ist natürlich wieder nur der Ausschnitt eines Ausschnitts, ein Jahr für ein Land des globalen Südens. Aber was seine Artikel immer wieder lesenswert macht, sind die Aha-Effekte, die den Leser auf die Spur bringen, wonach man alles schauen kann. Natürlich wurde schon viel über den Sinn und den Unsinn der Durchschnittsprofitrate und der Prognose ihres tendenziellen Falls gesprochen. Aber sich der Frage zu widmen, ob die Verteilung nicht schon Aussagen zulässt, das geht über die gängige Diskussion hinaus. Und es wäre erneut spannend, wenn untersucht würde, ob sich die Verteilung der Formen der Profitraten zwischen den Ländern, Zyklen und Jahren unterscheiden und wie sie international zusammenhängen. Aber das ist ja immer das Fazit nach Garcias Artikeln: megaspannende Ideen und Erkenntnisse, die eigentlich einer Verallgemeinerung harren.
Literatur:
Garcia, C. (2024): Competition and Distribution of Profit Rates in Colombia: A Marxist Political Economy Analysis. In: International Critical Thought. Jahrgang 14. Ausgabe 4. S. 631-649.