Wie die Pyramide der EU von der polnischen Arbeiterklasse gebaut wird

⋄ Entsprechend der Theorie des ungleichen Tausches gibt es auch innerhalb imperialistischer Staaten untereinander Ausbeutungsstrukturen, welche die politische Konstellation innerhalb der EU bestimmen.

George Economakis und Maria Socrates Markaki untersuchten empirisch die Qualität und Quantität dieser Beziehungen.


⋄ Dazu entwickelten sie den Parameter des Value Extraction Index VEI, der angibt, in welchem Verhältnis die abstrakten Arbeiten in Import- und Exportprodukten zueinander stehen.

⋄ Wenig überraschend gehört Deutschland hier zur Spitze der Pyramide innerhalb der EU.

⋄ Die am stärksten ausgebeuteten Arbeiter*innenklassen finden sich in Bulgarien und in Polen, wobei letztere durch ihre Integration in den Binnenmarkt eine größere Bedeutung haben.

In der kommunistischen Bewegung ist seit längerem ein Streit darüber entfacht, ob das imperialistische Weltsystem nun eine Konfrontation zwischen verschiedenen Blöcken sei oder eine Pyramide, anderen Spitze zwar die westlichen Staaten stehen, unterhalb derer sich aber eine Reihe von eigenen Ausbeutungsbeziehungen zwischen den Ländern erstrecken. Ganz maßgeblich zur zweiten Ansicht hat die Theorie vom ungleichen Tausch aus der Feder Arghiri Emmanuels beigetragen.

Die beiden griechischen Ökonom*innen George Economakis und Maria Socrates Markaki haben auf Grundlage seiner Theorie untersucht, welche ökonomischen Abhängigkeiten innerhalb der EU bestehen. Dass Deutschland dabei an der Spitze des EU-Imperialismus steht, dürfte wenig überraschend sein. Aber auf Kosten der Arbeiter*innen welches Landes tut das deutsche Kapital dies?

Re: Das Konzept des ungleichen Tausches

Um zunächst das Konzept zu erläutern. Ungleicher Tausch bedeutet, dass in verschiedenen Ländern die konkreten messbaren Arbeitszeiten unterschiedliche abstrakte Arbeitszeiten und damit Werte verkörpern. In Ländern mit hoher organischer Zusammensetzung und damit meist hoher Produktivität schafft eine Stunde Arbeit mehr Wert als in einem anderen. Werden Produkte dabei zu ihren Preisen getauscht, dann enthalten sie jeweils unterschiedliche Quantitäten konkreter Arbeitszeit, wobei es die Herrschaft über die konkrete Arbeitszeit der Proletarier ist, die den sichtbaren Aspekt der bürgerlichen Herrschaft darstellt. Gelingt es den imperialistischen Staaten, die Arbeitsprozesse in periphere kapitalistische Staaten auszulagern, die ohnehin nur mit weniger Maschinen profitabler erledigt werden können, dann kann man auch von einer strukturellen Kontrolle über die peripheren Regionen durch die imperialistischen Zentren sprechen, auf deren Grundlage Monopolrenten, die Kontrolle über Weltwährungen, etc. diese Herrschaft festigen. Genaueres findet ihr auf diesem Blog hier, hier, hier, hier oder hier.

Ein Debattenstrang, der sich aus der Theorie des ungleichen Tausches heraus entwickelt hat, ist der um die so genannte Pyramidentheorie. Repräsentieren unterschiedliche Produktivitäten und organische Zusammensetzung immer einen Hebel, um mehr Wert aus einem Land im Tausch anzueignen, als man dafür bei gleichen Preisen hergeben muss, so müsste dies auch für die Verhältnisse zwischen imperialistischen Staaten gelten, z.B. zwischen Deutschland und Frankreich. Daraus schlussfolgernd vertritt ein Teil der kommunistischen Bewegung, angeführt von der griechischen KKE, die Auffassung, dass es sich beim imperialistischen Weltsystem nicht um Machtblöcke, wie dem transatlantischen und dem russisch-chinesischen handele, sondern eher um eine Pyramide, bei der das produktivste Land an der Spitze stehe und darunter immer Ebenen mehr oder weniger überausgebeuteter Staaten folgten. Somit wäre auch die EU kein einheitlicher Machtblock, sondern von einer inneren Dynamik interner Überausbeutungsbeziehungen bestimmt.

Allerdings gibt es auch einige Kritik an der Theorie des ungleichen Tausches, auf die Economakis und Markaki sehr intensiv eingegangen sind, bevor sie ihre Theorie zur empirischen Bestimmung und die Ergebnisse zur Pyramidenstruktur der EU vorgelegt haben. Ernest Mandel argumentierte etwa wie folgt. Damit der Mechanismus des ungleichen Tausches funktioniere, müssten sich sowohl die Produktionspreise als auch die Durchschnittsprofitrate global ausgleichen. Der einzige unabhängige Faktor wäre hier alleine die Reallohnhöhe. Diese müssten in den unterentwickelten Ländern damit rapide sinken. Aber das hätte nach Mandel nun die Folge, dass das Kapital genau in diese Länder strömen müsste, d.h. in diesem investieren und dieses entwickeln. Damit könnte kein stabiles System der Unterentwicklung aufgebaut werden.

Ein paar Klarstellungen

Die Autoren berufen sich hierbei auf Marxens Kritik an Ricardo, der im dritten Band der Theorien über den Mehrwert nicht nur sagt, dass im Handel zwischen unterschiedlichen Staaten durchaus Werttransfers stattfinden können, sondern auch, dass diese maßgeblich aus dem Handel zwischen den Sektoren und nicht innerhalb eines Sektors herrühren. Gerade weil der ungleiche Tausch gleiche Marktpreise unterstellt, würde es etwa innerhalb einer Branche wenig Sinn machen, Reis zu kaufen, der mit niedrigen Löhnen produziert wurde, wenn ein Kilogramm das gleiche kostet, wie ein produktiver produzierter. Der Dreh- und Angelpunkt ist der, dass Länder sich beim Import und Export auf die Sektoren konzentrieren, bei denen die Produktionsbeziehungen so überdurchschnittlich vorteilhaft oder unvorteilhaft sind, dass ein kapitalistisches Land sie nicht ohnehin unter den durchschnittlichen gesellschaftlichen Bedingungen herstellt. Damit wird die Ungleichheit des Tausches der abstrakten Arbeiten bei gleichen Preisen hinter der Ungleichheit der Qualitäten der einzelnen Waren versteckt. Damit fehlt aber auch jeglicher Anreiz des Kapitals, in diese Länder besonders zu investieren, da nicht das allgemeine Produktionsniveau von Bedeutung ist, sondern das einer international besonderen Warenart.

Der Fehler von Mandel besteht darin, die Mehrwertraten als konstant anzunehmen, was ausgerechnet der Vater der Theorie des ungleichen Tausches, Emmanuel, aus guten Gründen mit Verweis auf die Immobilität der Ware Arbeitskraft ablehnte. Wäre die Mehrwertrate überall gleich hoch, dann würden geringere Löhne bzw. eine geringere organische Zusammensetzung tatsächlich zu höheren Profitraten führen und das Kapital solange anziehen, bis das konstante Kapital den Markt sättigt. Die Konsequenz aus dem ungleichen Tausch ist aber gerade, dass die Mehrwertrate aus Sicht des tauschenden Kapitalisten aus einem unterentwickelten Land kleiner ist, da er den Preis so tief drücken muss, dass er nur noch zur Durchschnittsprofitrate anbieten kann und sämtlicher darüber hinaus von den Arbeiter*innen ausgebeutete Mehrwert in die Hände der entwickelteren Kapitalisten fließt.

Darüber hinaus ist es so, dass die geringe organische Zusammensetzung bei geringen Löhnen auch dazu führt, dass Kapitalisten gar nicht in das konstante Kapital investieren. Wenn die Arbeitskraft sehr billig ist, dann wird das Kapital, selbst wenn es wegen höherer Profitraten in ein unterentwickeltes Land fließt, dieses nicht per Zauberhand in neue Maschinen investiert werden, die sich ja erst einmal nach gewisser Zeit rechnen müssen. Das Kapital wird eher noch mehr Arbeitskraft aufsaugen wollen, ein Automatismus zwischen Auslandsinvestitionen und technischer Entwicklung gäbe es unter diesen Umständen nicht.

Das Setting der empirischen Studie

Dass sich Economakis und Markaki zwei Drittel ihrer Studie mit diesen Einwänden beschäftigt haben, zeigt, wie umstritten das Konzept des ungleichen Tausches ist, auch wenn sich die Kritik konsistent beheben lässt. Ganz prinzipiell beruht die Mathematik hinter der empirischen Untersuchung auf der Unterscheidung zwischen ein einheimischen Neuwert und einem Exportneuwert. Dabei wird davon ausgegangen, dass innerhalb eines Landes kein ungleicher Tausch passiert, wodurch sich für alle inländisch getauschten Produkte ein in Preisen ausgedrückter Neuwert pro Arbeitsstunde ergibt. Vergleicht man nun den Neuwert pro Arbeitsstunde mit dem von Exportprodukten, kann man sehen, ob diese Werte beieinander liegen oder ob sich strukturelle Differenzen ergeben. Die entsprechende Aufarbeitung von zugänglichen Input-Out-Matrizen wurde dabei von Markaki in den letzten Jahren vorbereitet.

Die Untersuchung wurde nun innerhalb der EU mit ihren 27 Mitgliedsstaaten durchgeführt. Dabei waren 16×27=702 Handelsbeziehungen zu untersuchen. Da dies natürlich recht unübersichtlich ist, haben die Autoren einen Index entwickelt, welcher die Differenz zwischen den Neuwerten pro Arbeitszeit im Inlandshandel und Auslandshandel in einer Zahl ausdrückt und das ist der Value Extraction Index. Der VEI wird dabei definiert als Quotient aus der in den Exportpreisen ausgedrückten inländischen Arbeitszeit durch in den Importen ausgedrückte ausländische Arbeitszeit. Ist der VEI als größer als 1, hat ein Land für die gleiche Preishöhe an Export mehr Arbeitszeit aufgewendet als für die Importe, sprich: es transferiert Wert ins Ausland. Umgekehrt drückt ein niedriger VEI Wertgewinne eines Landes aus. Als Zahlenbeispiel zum Verständnis: Beträgt der VEI 2, wurde für jeden exportierten Euro doppelt so lange gearbeitet als für jeden importierten.

Die Daten stammten von der OECD und von Eurostat und natürlich sei hier noch der Hinweis gegeben, dass sie sich nur auf den innereuropäischen Handel beziehen und etwa Werttransfers in und aus der EU nicht mit umfassen. Das bedeutet zum Beispiel, dass durch die Verfügung über den Euro oder den Wegfall von Handelshemmnissen Länder, die innerhalb der EU schlecht dastehen, dennoch anderweitig die hier aufgezeichneten Nachteile ausgleichen könnten. Nicht für jedes relativ unterdrückte Land würde sich ein EU-Austritt auch real rechnen.

Die Ergebnisse

Economakis und Markaki ermittelten mit dieser Methodik Werte für das Jahr 2018. Es beeindruckt, wie stark die Bandbreite innerhalb Europas ist. Dänemark an der Spitze des VEI-Rankings konnte mit jedem exportierten Euro fast das Zweieinhalbfache an abstrakter Arbeitszeit durch Importe erheischen, Deutschland immerhin mehr als das Anderthalbfache. Insgesamt gibt es ein Kerneuropa zwischen Schweden und Italien, dass ein Gewinner des EU-Binnenhandels ist. Verlierer sind neben den osteuropäischen Staaten und dem Baltikum auch Spanien und Portugal. Abgeschlagen den letzten Platz belegt Bulgarien, dass für jeden Import fast viermal so lang arbeiten muss, wie die exportierenden Länder. Aber auch Ungarn und Polen liegen über einem VEI von 2. Griechenland, das Heimatland der Autoren, liegt mit 1,18 etwas besser als man erwarten könnte.

Quelle: siehe Literatur. S.397.

Daneben gibt es aber noch einige Differenzen. Während etwa Deutschland und Frankreich im VEI gleichauf liegen, hat Deutschland ein wesentlich höheres Exportvolumen im Vergleich zu den Importen und profitiert damit wesentlich stärker als der westliche Nachbar. Umgekehrt exportiert Polen bei etwa gleichem VEI mehr als Ungarn und wird damit stärker vom EU-Handel geschädigt. Man sieht ziemlich deutlich aus den Daten, wie die Durchschnittslohnhöhe mit dem VEI korreliert. Billige Arbeit führt also zu niedrigen Preisen und nicht zu höheren Mehrwertraten.

Quelle: siehe Literatur. S.399.

Ein weiterer interessanter Vergleich ist der mit dem Anteil an hoch ausgebildeten Arbeitskräften. Insgesamt lässt sich der Trend aufzeigen, dass in jedem entwickelteren EU-Land auch mehr gut ausgebildete Arbeitskräfte tätig sind, es gibt aber auch deutliche Ausnahmen. So gehört das Baltikum zwar zur oberen Hälfte beim Anteil der Facharbeiter, ist im VEI und bei den Löhnen aber eher im unteren Drittel zu finden. Umgekehrt hat Italien zwar nur einen geringfügig höheren Anteil an Fachkräften als etwa Griechenland oder sogar Bulgarien, gehört aber zu den Handelsgewinnern.

Quelle: siehe Literatur. S.402.

Zuletzt lassen sich noch die Blöcke zusammensetzen, aus denen die Handelspyramide EU zusammengesetzt ist. Ganz oben stehen Luxemburg, Irland, die Niederlande und Deutschland. Diese Länder exportieren nicht nur effektiv, sondern auch in großem Umfang; Deutschland kommt hier absolut gesehen die Sonderrolle zu, da es mit Abstand den größten Markt der vier Länder umfasst. Darunter befinden sich die anderen nord- und zentraleuropäischen Staaten, wobei Italien zwar dazu gehört, durch seinen geringen Anteil an Facharbeitern aber gesondert betrachtet werden muss. Diese Länder gewinnen alle durch den Export, importieren aber letztlich mehr als sie exportieren. Auf der vorletzten Stufe stehen einige Randstaaten und Ungarn, die beim Tausch verlieren, aber vorrangig importieren. Sie sind letztlich die Nettoabnehmer der in den Zentren hochproduktiv erzeugten Waren. Und ganz am Ende stehen Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Polen, Estland, Spanien und Bulgarien. Diese Länder sind nicht nur durch den Handel benachteiligt, sie hängen auch noch stark produktiv vom Exporthandel ab und haben damit nur wenig eigene Kapazitäten, sich eigenständig aus den ungleichen Tauschbeziehungen zu befreien.

Zusammenfassung

Wagen wir uns abschließend an eine kleine Interpretation. Die beiden großen Pole in der EU sind eigentlich Deutschland und Polen. Ersteres liegt eigentlich auf der Hand. Deutschland mag nur den sechstgrößten VEI besitzen, es ist aber die größte Volkswirtschaft Europas und einer der vier Nettoexporteure bei VEI unter 1. Dass die deutsche Exportwirtschaft das Reproduktionsmodell des Kapitals ist, ist auch jedem klar. Polen als gegenteiliger Pol überrascht etwas mehr. Polens VEI liegt zwar noch einen Punkt unter Bulgarien, es exportiert aber wesentlich mehr und ist nochmals größer. Das Schicksal beider Länder ist dabei unmittelbar verwoben. Deutschland ist seit Jahren mit Abstand größter Handelspartner Polens und nimmt etwa ein Viertel der polnischen Exporte ab … und damit viermal mehr als der zweitgrößte Handelspartner Tschechien. Aus der vorliegenden Untersuchung erklärt sich, warum das deutsch-polnische Verhältnis lange zeit angespannt war. Deutschland kann sich mehr oder weniger stark auf Kosten der einfachen polnischen Arbeiter*innen und Bauern bereichern, welche die politische Basis der PiS bildeten. Dass mit Tusk nun ein pro-europäischer Präsident gewählt wurde, zeigt eher, dass sich die Interessen der einheimischen Bourgeoisie durchgesetzt haben, denen der ungleiche Tausch ja nicht schadet und die kein Interesse an einem schwächelnden Deutschland mit wegfallenden Exportmöglichkeiten für Polen haben. Die Tragik liegt letztlich darin begründet, dass die Interessen der polnischen Arbeiter*innenklasse durch die historischen Gegebenheiten nicht von einer linken sozialistischen Partei artikuliert werden können, sondern von einer katholisch reaktionären. Man müsste aber schließen können, dass keine europäische Arbeiter*innenklasse ein größeres Interesse hat, das politisch-ökonomische System der EU umzuwerfen, das auf ihren Kosten existiert.

Es ist schade, dass die Daten nur von 2018 stammen. Insbesondere in den Zeiten der einbrechenden deutschen Industriekrise wäre die Veränderung der gemessenen Werte von hohem analytischen Wert. Und natürlich dürfen die Handelsbilanzen nicht monokausal für die jeweilige Lage der Arbeiter*innenklasse in einem Land betrachtet werden. Je nach Umverteilung und verschiedenen Reproduktionsregimen kann die Last auch von Kleinbürgern oder Teilen der Bourgeoisie abgefedert werden. Darüber hinaus ist der Einblick dennoch sehr spannend.

Literatur:

Economakis, G. & Markaki, M. (2024): The Economic Pyramid of Unequal Exchange within the European Union. In: World Review of Political Economy. Jahrgang 15. Ausgabe 3. S.375-405.

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