Ro-Mania: Die Klassengesellschaft an der Ostflanke der westlichen Werte

⋄ Der Wahlsieg Călin Georgescus in der ersten Runde der rumänischen Präsidentschaftswahl hat ein politisches Erdbeben in ganz Europa ausgelöst.

⋄ Dabei lässt sich sein schneller Aufstieg weniger durch den Einfluss Russlands erklären als eher durch die Spezifik der rumänischen Klassengesellschaft.


Costi Rogozanu hat in einem Aufsatz dargestellt, dass in Rumänien um verschiedene Wege der Selbstkolonisierung gekämpft wird.

⋄ Während die postsowjetischen Mogule und die Kompradoren des ausländischen Kapitals auf ein Mindetsmaß an Staatlichkeit angewiesen waren, stellen junge Finanzunternehmer selbst dieses in Frage.

⋄ Die Arbeiter*innenklasse hingegen hat weder einen positiven Sozialstaat kennengelernt, noch klassenbewusste Strukturen ausgebildet und ist daher offen für die rechtsneoliberale TikTok-Propaganda.

Über die Politik in Rumänien wird normalerweise selten berichtet. Aber als der NATO-Krtitiker, Anti-Establishment-Kandidat und vermeintliche Rechtsextremist Călin Georgescu am 24. November 2024 überraschend die erste Runde der Präsidentschaftswahlen gewann, überschlugen sich die Ereignisse. Die Wahl wurde wegen Ungereimtheiten bei der Finanzierung seiner TikTok-Kampagne annulliert, der Politiker selbst festgenommen und von einer erneuten Wahl ausgeschlossen. Während die EU-Eliten Putins hybriden Krieg am Werk sahen, nutzte US-Vize-Präsident J.D. Vance die Vorgänge, um die Abkehr Europas von der Demokratie anzuprangern. Aber was für eine Gesellschaft ist das eigentlich, in der Rettung und Vernichtung der Demokratie so dicht beieinander liegen?

Zu sagen, dass Rumänien ein Land der Extreme oder der Widersprüche sei, wäre eine zu billige Floskel, so wahr sie auch ist. Costi Rogozanu, der an den Universitäten von Cluj-Napoca und Sibiu lehrt, warf einen genaueren Blick auf die Klassengesellschaft Rumäniens.

Eine postsowjetische Gesellschaft bei TikTok

Der eigentliche Skandal am Sieg Georgescus im ersten Wahlgang zur Präsidentschaft im November 2024 war, dass er diesen auf dem Feld der städtischen Eliten errang. Bis vor fünf Jahren waren Smartphones und die damit verbundenen Plattformen eigentlich die Spielwiese von jungen Unternehmern und Studenten aus den reicheren Familien, welche den Zugang zu Social Media als Anlage in ihr soziales Kapital betrachteten. Erst in den 2020ern änderte sich der Zugang zu den technischen Geräten und etwa die Hälfte der Bevölkerung legte sich entsprechende Geräte zu. Insbesondere die ältere Generation übersprang damit die Eingangssozialisierung durch Facebook. Damit war plötzlich eine ganze Generation propagandistisch direkt ansprechbar, deren Zugang zu Informationen vorher im Wesentlichen durch Fernsehen und Presse bestimmt war und damit von den herrschenden Kapitalfraktionen leicht kontrolliert werden konnte. Nun waren die neuen Medien nicht mehr per se progressiv, sondern es entstand eine konservative Konkurrenz, auf die der neoliberale Flügel keine Antwort fand.

Und diesen Freiraum nutzte Georgescu, um binnen Wochen von Zustimmungswerten unter einem Prozent zum populärsten Politiker des Landes zu werden. Würde man bei dieser Erzählung nun halt machen, dann würde man das Phänomen immer noch allein vom Standpunkt der Ideologie gefasst haben, anstatt den materiellen Grundlagen auf den Grund zu gehen. Sie würde der falschen Fährte folgen, dass die Rechte in der Arbeiter*innenklasse naturgemäß stark verankert sei und sich diese durch ihre Unerfahrenheit im Umgang mit den neuen Medien einfach hinters Licht führen ließe. Ein Blick auf die konkreten materiellen Verhältnisse der einzelnen Klassen in Rumänien stellen dieses Bild jedoch in Frage.

Die Bourgeoisie Rumäniens

Es ist nicht so, dass Georgescu wirklich viel Geld für seinen TikTok-Wahlkampf zur Verfügung hatte. Etwa eine Million Euro konnte er in Reichweitenvergrößerung investieren, während die Vertreter der bürgerlichen Eliten mehrere zehn Millionen Euro nutzen konnten. Während sich jedoch bei Georgescu alle fragen, woher das Geld kommt, fragen nur wenige nach, woher etwa die regierende PSD ihre Gelder bezieht.

Hierzu muss man wissen, dass Rumänien eine Einzigartigkeit unter den ehemaligen Ostblock-Staaten aufweist. Nach dem Fall der Sozialismus wurde hier sämtliches Eigentum an die Besitzer oder Erben der Verhältnisse vor 1948 zurückgegeben. Diese meist in der Emigrationen lebenden neuen Eigentümer profitierten zwar von Bebauung, Aufwertung oder Umnutzung, hatten aber weder Fähigkeiten noch Motivation, die Wirtschaft weiterzuführen und verkauften Gebäude und Grundstücke so schnell wie möglich. Eine zweite Schicht von Neukapitalisten kaufte die Betriebe und die Infrastruktur von diesen Rentiers auf und versammelte so große Werte in wenigen Händen. Das alles ging so schnell, dass teilweise Werte verkauft wurden, deren Besitzfrage noch gar nicht geklärt war. Der Konflikt zwischen zwei Alteigentümern wurde damit um die Partei der Neueigentümer erweitert und ließ sich letztendlich nur durch Korruption der Justiz und Polizei lösen. Auch die Quellen des Kapitals der Neueigentümer waren selten legaler Natur. Begünstigt wurde der schnelle Aufstieg der so genannten Klasse der Mogule durch die neoliberale Politik des Premierministers Adrian Năstase.

Als sich die Korruption zunehmend als Hindernis für einen Beitritt in die EU entpuppte, entfachte dieser eine Kampagne gegen Kommunismus und Korruption, die im Wesentlichen alte staatliche Eliten traf. Das entstandene Machtvakuum wurde schnell von einer Kompradorenbourgeoisie gefüllt, die ihre Gewinne aus der Vermittlung ausländischen Kapitals mit den billigen rumänischen Arbeitskräften schöpfte. Damit führte der Beitritt zur EU tatsächlich zu einer Umverteilung des Reichtums: von den Mogulen hin zu einer neuen kompradorischen Mittelschicht. Beide Kapitalfraktionen bestimmten seither die politische Landschaft Rumäniens, die sich als Kampf zwischen Globalisierung und Souveränität artikuliert. Unter dieser Doppelelite gruppieren sich Journalisten, Wissenschaftler, Marketing-Experten und Intellektuelle, welche die Sprache der europäischen Fördermittelvergabe sprechen und diese entweder selbst einstreichen oder vermitteln.

Sie ziehen Fördermittel zum Infrastrukturausbau an, was wiederum die Investitionen des ausländischen Kapitals in die bestehenden Fabriksysteme erleichtert. Durch den Import ausländischen Kapitals steigen in den ökonomischen und politischen Zentren die Immobilienpreise. In Cluj, Timosora und Bukarest sind hier riesige Imperien entstanden, die satte Profite einstreichen, während die Arbeiter*innen aus den Stadtzentren vertrieben werden. An deren Stelle hat sich das Kleinkapital eingenistet, dass im Tourismus, im Handel oder in der Dienstleistungsbranche, wo fehlende staatliche Strukturen wie Wachschutz übernommen werden, seine Schwerpunkte hat. Dort, wo allein die billige Arbeitskraft ausschlaggebend ist, sind rumänische Kapitalisten sogar EU-weit konkurrenzfähig: zum Beispiel im Speditionswesen.

Es fällt auf, dass das System der rumänischen Bourgeoisie auf allen Ebenen sehr organisch strukturiert ist und die einzelnen Fraktionen aufeinander angewiesen sind, wodurch die Bourgeoisie als politisch geschlossene Elite erscheint, deren ideologische Klammer im Antikommunismus und Neoliberalismus wurzelt.

Die Lumpenisierung des rumänische Proletariat

Der große Verlierer der postsowjetischen Umgestaltung war die Arbeiter*innenklasse Rumäniens. Der Ausverkauf der Industrie hat die Arbeitslosigkeit schnell in enorme Höhen getrieben, wodurch ihre Verhandlungsposition strukturell geschwächt wurde. Der 2015 eingeführte Mindestlohn, der geringste Europas, ist die einzige soziale Errungenschaft seit 1990. Der Wettbewerbsvorteil als Billiglohnland hat sich bis in die Reihen der „sozialdemokratischen“ PSD als Staatsraison eingebrannt, dass selbst deren bescheidene Erhöhungsforderungen nur durch andere Opfer des Proletariats finanziert werden sollen. Außerhalb der Dacia-Werke und des kleinen öffentlichen Sektors gibt es keine nennenswerten Gewerkschaften. Verarmung und fehlende bewusstseinsbildende Strukturen haben zu einer Lumpenisierung des Proletariats geführt, dass entweder in zwei bis drei Jobs arbeitet, um sich über Wasser zu halten oder in der Kriminalität eine Heimat findet; nicht selten auch beides. Im Volk populäre TikTok-Größen sind mitunter bekennende Kriminelle.

Diese Lumpenisierung macht das Proletariat anfällig für bonapartistische Figuren, die zwar deren Probleme ansprechen, aber das Problem der Abhängigkeit von ausländischem Kapital als Grenze der Möglichkeiten, den Lebensstandard zu erhöhen, nur durch Ablenkungsideologien übertünchen können. Viele junge Rumän*innen – die mitunter nur in den EU-geförderten Schulen einen Warmwasseranschluss kennengelernt haben – interpretieren den Staat wie ihr eigenes Leben: ein rechtloses Rennen um die wenigen Ressourcen, in der Solidarität keinen Platz hat. Das befördert wiederum Gesundheits- und Maskulinitäts-Kulte; also Maßstäbe, in denen die Unternehmer und Kriminellen nicht als ausbeutende Klasse, sondern überlegene Individuen an einem gemeinsamen Maßstab erscheinen. Selbst Versuche, die Welle des Linkspopulismus nach der Weltfinanzkrise in Rumänien zu nutzen, gipfelten allenfalls in Underdog-Romantik.

Kampf um den Reststaat

Alle Fraktionen des Kapitals sind sich in einer Sache einig. Der schwache Staat ist für alle gut. Die Großkonzerne genießen konkurrenzlose Arbeitsschutzlosigkeit und fehlenden Regeln für Lobbyismus. Die Einwerber der EU-Förderungen unterliegen kaum gesellschaftlicher Kontrolle und können in die Taschen ihrer Klientel wirtschaften. Und das Kleinkapital zahlt wenigstens kaum Steuern. Das System funktioniert so gut, dass 2017 die Bevölkerung für die Rechte der Großbanken gegen die Regulierung des Staates auf die Straße ging. Doch hier entlädt sich ein Widerspruch. Je kleiner und schwächer der Staat ist, desto geringer fällt seine Fähigkeit aus, einen Herrschaftskonsens innerhalb der Bourgeoisie und in der Bevölkerung für ihre Herrschaft herzustellen. Zumindest der produktive Sektor ist schließlich auf ein Minimum an funktionierender Infrastruktur angewiesen, wenn Arbeiter*innen pünktlich und produktiv zu den 12-Stunden-Schichten erscheinen sollen. Das ist aber bereits einer Rentiersschicht, die ihr Geld im Crypto-Handel macht zu viel und sie begehrt gegen den übergriffigen Staat auf. Die schillerndste dieser Gestalten ist sicherlich TikTok-König Bogdan Peschir, dessen Firma BitXATM in mehrere Skandale, inklusive Cryptodiebstahls verwickelt war.

Diese Schicht spielt sich gerne als die reinen Unternehmer gegen die von EU oder ausländischem Kapital abhängigen Kapitalisten auf. Das ist der gesamte Anti-System-Gehalt der Georgescu-Kampagne und die Arbeiter*innen schlucken dies, weil den Staat tatsächlich nie als einen Sozialstaat kennengelernt haben, sondern während der Corona-Pandemie ausschließlich mit dessen repressiver Seite konfrontiert waren. Wenn sich der Staat nur noch die Peitsche leisten kann, aber nicht mehr das Zuckerbrot, dann soll wenigstens die Peitsche weg.

Ganz korrekt ist das doch nicht. Eine gesellschaftliche Gruppe genießt schon großzügige Pensionen und Gehälter; die Militärs. Das wiederum erklärt die NATO- und kriegskritische Haltung der neoliberalen Rechten. In einer massiv alternden rumänischen Gesellschaft ist diese Gruppe ein zentrales populares Fundament der bisherigen Regierungsparteien gewesen. Und vielleicht war die Aufregung nach Georgescus Triumph in der ersten Wahlrunde auch völlig überzogen, denn nichts konnte diese traditionellen Königsmacher enger zusammenschweißen, als der mögliche Verlust ihrer Pensionen.

Die Diaspora

Betrachtet man nur die Gesellschaft innerhalb Rumäniens, dann wäre wahrscheinlich Georgescus Triumph ein Schreck, aber keine Bedrohung gewesen. Aber hier kommt der letzte Faktor in der Gleichung ins Spiel. Die prekäre Lebenslage des rumänischen Proletariats hat zu einer massiven Auswanderung geführt. Zwischen vier und sechs von 19 Millionen Rumän*innen leben saisonal oder dauerhaft im Ausland. Die Diaspora ist fast ausschließlich im wahlfähigen Alter und besitzt dank ihrer Subvention der einheimischen Familienmitglieder einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die Politik. Etwa 800.000 Exilant*innen wählten 2024 und nicht wenige gaben Gerogescu ihre Stimme. Einer der populärsten Clips im Wahlkampf war eine Gruppe von Amazon-Fahrern, die sich auf einem deutschen Parkplatz versammelten und über die verschlechterten Arbeitsbedingungen durch Geflüchtete klagten. Der Verfall Europas durch den Multikulturalismus müsse in Rumänien verteidigt werden. Woher kommt diese Stimmung, die wesentlich prägender war als die nie bewiesenen Anschuldingungen eines hybriden russischen Cyberkriegs?

Erstens haben viele rumänische Migrant*innen in England, Frankreich und Italien die Normalisierung des Aufstiegs der populistischen Rechten erlebt. Von diesen wurde der Hass auf eine woke Kultur übernommen, der auch den in Westeuropa ausgebildeten rumänischen Eliten nachgesagt wird. In Rumänien selbst gibt es diese Diskussion kaum. Das hat aber zweitens zum Wunsch rumänischer Migrant*innen geführt, sowohl noch prekärere Menschen unter sich zu wissen, von denen jedoch keine Lohnkonkurrenz ausgehen soll. Ein so inkohärentes Verlangen kann nur eine neoliberale Rechte artikulieren. Drittens gibt es ein gespaltenes Verhältnis zum „Europäismus“ der Vor-EU-Zeit, da man einerseits von Europa abhängig ist, andererseits kaum die Aufstiegschancen genossen hat, die versprochen wurden. Und viertens ist die Diaspora sogar noch einmal stärker vom Staat entfremdet als das einheimische Proletariat.

Zusammenfassung

Rogozanu interpretiert den politischen Kampf abschließend nicht als einen zwischen europäischen Werten und russischer Intervention, sondern als einen zwischen zwei Varianten der Selbstkolonisierung. Während die Kompradoren, die Immobilienrentiers, die kleine Großkapitalistenschicht und die große Kleinkapitalistenschicht alle um einen Staat nach ihren Bedürfnissen kämpfen, der ausländischem Kapital die besten Anlagebedingungen bietet, will eine kleine Fraktion an Cryptofinanzkapitalisten den Staat komplett abschaffen. Da der Staat sich in keinem realistischen Szenario als gewinnbringend für die Arbeiter*innenklasse erweisen kann, gelingt es dieser kleinen internetaffinen Fraktion aber, große Teile der Arbeiter*innen auf ihre Seite zu ziehen. Die Diaspora hat dabei einen entscheidenden Anteil. Das transzendiert den bisher prägenden Konflikt zwischen Souveränität und europäischer Öffnung, der Rumänien seit 1990 prägte. Das Fehlen einer autonomen Arbeiter*innenbewegung führt dazu, dass der Antikommunismus anfängt, seine Kinder zu fressen. Wir haben mit einem Klischee begonnen und enden mit einem Klischee: es ist die Zeit der Monster. Das passt ja irgendwie zu Rumänien.

Literatur:

Rogozanu, C. (2025): Class dynamics in the Romanian ideological landscape: the 2024 presidential elections as self-colonization. In: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe. Online First. DOI: 10.1080/25739638.2025.2482394

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