⋄ 1996 veröffentlichte David Harvey ein einflussreiches Buch: The new Imperialism. ⋄ Darin behauptet er, dass die gewaltsame Enteignung von Gemeingütern, die Accumulation of Dispossession, bedeutender sei als die Akkumulation durch Ausbeutung durch Lohnarbeit. ⋄ Rosa Luxemburg erkennt ebenfalls zwei Akkumulationsarten, sieht diese jedoch organischer verknüpft. ⋄ Brian Whitener vergleicht die Akkumulationstheorie Harvey mit der Rosa Luxemburgs am Beispiel Mexikos ⋄ Whitener kommt zu dem Schluss, dass die Akkumulationstheorie Luxemburgs die Ökonomie Mexikos besser beschreibt. |
Ein Gespenst geht um in der Welt: das Gespenst des Commonismus. Mit C. Der Freelancer-Programmierer aus dem Firedrichshain kämpft zusammen mit Indigenen aus Ecuador gegen die Ausbeutung der Gemeingüter, der Commons, durch große Konzerne, seien es Software, Bodenschätze, Wohnraum oder Ackerboden. So sehen es viele Linke. In Deutschland hat diese Theorie seine Entsprechung in der Theorie der kapitalistischen Landnahme, wie sie beispielsweise von Klaus Dörre vertreten wird oder im Linksfeminismus von Silvia Federici, Frigga Haug und Bini Adamczak.
Ein zentrales Werk für die Entstehung der commonistischen Bewegung war das Werk The New Imperialism (Der Neue Imperialismus, auf deutsch kostenfrei zugänglich unter https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Harvey_Imperialismus.pdf) von David Harvey, in welcher er die Theorie der Accumulation of Dispossession vertritt. Diese besagt, dass im globalen Maßstab die Akkumulation durch Aubeutung über Lohnarbeit hinter die Kapitalakumulation durch Enteignungsprozesse zurückgetreten sei.
In der Critical Sociology arbeitet Brian Whitener Schwachstellen der Theory von David Harvey heraus, indem er diese mit der Akkumulationstheorie von Rosa Luxemburg vergleicht und auf die aktuellen Klassenkämpfe in Mexiko anwendet.
David Harveys Accumulation by Dispossession
Nach David Harvey gebe es zwei getrennte Logiken des kapitalistischen Imperialismus. Zum einen die territoriale Logik der Macht, in welcher Staatsmänner den Vorteil ihrer Nation im Auge haben und die kapitalistische Logik, welche aus den molekularen Prozessen der Kapitalakkumulation bestünde. Beide Logiken könnten manchnmal Hand in Hand gehen, aber sich auch manchmal scharf widersprechen. Die Verbindung beider sieht Harvey in der Bewältigung von Überakkumulationskrisen, entweder durch zeitliche oder territoriale Verlagerung. Wählen mehrere Nationen den Weg der regionalen Verlagerung kann es zu imperialistischer Konkurrenz zwischen den Nationen kommen.
Bei Überakkumulationskrisen treten territoriale und kapitalistische Logik daher gemeinsam auf. Auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten würden entweder entsprechend der ursprünglichen Akkumulation Kleinbesitzer*innen enteignet oder öffentliche Gemeingüter privatisiert. Da die Kapitalisten die Güter zu sehr niedrigen Preisen erhielten, könnten sie große Profite generieren. Dieser Prozess sei mittlerweile so dominant geworden, dass “Akkumulation durch Enteignung aus [seinem] Hintergrunddasein hervor[trete], um gegenüber der erweiterten Reproduktion die vorherrschende Form der Akkumulation” (Harvey 2003, S.151)
Harveys Ziel ist es, mit der Accumulation by Dispossession ein integratives Modell zu entwickeln, unter dem sich Kämpfe gegen Privatisierungen im Westen mit Land Grabbing im Süden inhaltlich verknüpfen lassen. Sozialistische Versprechen und die Bedeutung der Arbeiter*innenklasse bei der Überwindung des Kapitalismus seien veraltete Vorstellungen. Die Vielfältigkeitkeit der Enteignungsformen erkläre auch dien Vielfältigkeit der Widerstandsformen und der Zusammensetzung der Akteure. Oberste Aufgabe der Linken sei es, zwischen regressiven und progressiven Kämpfen zu entscheiden. (vgl. ebd., S.176)
Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie
David Harvey bezieht sich in seiner Argumentation explizit auf den Akkumulationsbegriff von Rosa Luxemburg. Er zitiert:
“Die kapitalistische Akkumulation hat somit als Ganzes, als konkreter geschichtlicher Prozess, zwei
verschiedene Seiten. Die eine vollzieht sich in der Produktionsstätte des Mehrwerts – in der Fabrik, im Bergwerk, auf dem landwirtschaftlichen Gut – und auf dem Warenmarkt. Die Akkumulation ist, von dieser Seite allein betrachtet, ein rein ökonomischer Prozess, dessen wichtigste Phase zwischen dem Kapitalisten und dem Lohnarbeiter sich abspielt …. Friede, Eigentum und Gleichheit herrschen hier als Form, und es bedurfte der scharfen Dialektik einer wissenschaftlichen Analyse, um zu enthüllen, wie bei der Akkumulation Eigentumsrecht in Aneignung fremden Eigentums, Warenaustausch in Ausbeutung, Gleichheit in Klassenherrschaft umschlagen. Die andere Seite der Kapitalakkumulation vollzieht sich zwischen dem Kapital und nichtkapitalistischen Produktionsformen. Ihr Schauplatz ist die Weltbühne. Hier herrschen als Methoden Kolonialpolitik, internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege. Hier treten ganz unverhüllt und offen Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses aufzufinden.” (Luxemburg 1913/1976, S.397)
Wie David Harvey vertrete Rosa Luxemburg die Auffassung, dass die kapitalistische Akkumulation zwei Seiten habe: eine streng ökonomische, welche durch den Interessengegensatz von Proletariat und Bourgeisie geprägt sei und eine zwischen Kapital und nicht kapitalistischen Produktionsformen. Anders als Harvey betone sie jedoch, dass sich die ökonomischen Gesetze dennoch – auch in ihrer strengen Form – auffinden lassen. Auch stellt Harvey fest, dass Rosa Luxemburg von Unterkonsumtionskrisen ausgegangen sei anstatt von Überakkumulationskrisen. Rosa Luxemburg vertrete also die Auffassung, dass auf Grund der Ausbeutung in einem neuen Produktionsprozess dem akkumulierten Kapital nicht mehr genügend Nachfrage gegenüberstehe, während David Harvey behauptet, dass das akkumulierte Kapital keine neuen Anlageformen finde. Den größten Unterschied sieht Whitener aber in der organischen Verknüpfung zwischen den beiden Akkumulationsformen:
“In Wirklichkeit ist die politische Gewalt auch hier nur das Vehikel des ökonomischen Prozesses, die beiden Seiten der Kapitalakkumulation sind durch die Reproduktionsbedingungen des Kapitals selbst organisch miteinander verknüpft, erst zusammen ergeben sie die geschichtliche Laufbahn des Kapitals.” (ebd., S.398)
Luxemburg stellt also klar, dass die politische Gewalt, die Harveys Accumulation of Dispossession entsprechen würde, dem ökonomischen Prozess untergeordnet sei. Die politische Gewalt entspringe dem Widerspruch von Kapital und Arbeit und lasse sich nicht trennen und schon garnicht überordnen. Während Harvey den Klassenkampf als weitestgehend eingehegt empfindet und den amerikanischen Arbeiter der 60er Jahre vor Augen hat, der gewerkschaftlich organisiert war, Renten- und Krankenversicherung besaß und dessen Lebensstandard stets zu steigen schien, erscheint ihm der politische Kampf als blutig, kriminell und außer Kontrolle. Rosa Luxemburg besteht jedoch darauf, dass zwischen beiden Prozesse eine “organische Verknüpfung” bestehe und schreibt über das Kapital:
” Dieses kommt nicht bloß „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blut- und schmutztriefend“ zur Welt, sondern es setzt sich auch so Schritt für Schritt in der Welt durch und bereitet so, unter immer heftigeren konvulsivischen Zuckungen, seinen eigenen Untergang vor.” (ebd., S.398)
Brian Whitener möchte nun am Beispiel der mexikanischen Ökonomie demonstrieren, dass Luxemburgs Ansicht, dass beide Akkumulationsprozesse einen organischen Zusammenhang besäßen und das ökonomische Kapitalverhältnis ein blutiges und kein eingehegtes sei, die aktuellen Prozesse besser beschreibe.
Das Fallbeispiel Mexiko
Nach Whitener sei die mexikanische Ökonomie vom Interessengegensatz zwischen China und den USA geprägt. Hier würden Primärgüter verarbeitet, welche aus China oder anderen südostasiatischen Ländern stammten und welche dann in den USA verkauft würden. Da die US-Konsument*innen meist auf Kredit kauften, müsse die Regierung wiederum die Stärke des Dollars erhalten, um den Kreislauf am Leben zu erhalten. Bereits an dieser kurzen Darstellung wird klar, dass Ökonomie und gewaltsame Politik hier einen untrennbaren organischen Zusammenhang aufweisen. Damit der Dollar als Kreditgeld weltweit anerkannt wird, müssen die Vereinigten Staaten eine Einflusssphäre schaffen, die unter weitgehend politischer Kontrolle steht. Um diese zu schaffen, sind Kriege, Putsche und Geheimdienstaktionen in der Vergangenheit immer notwendig gewesen, ob auf Kuba, in Venezuela oder Bolivien oder in Chile.
Whitener konkretisiert den organischen Zusammenhang, indem er auf die Form der Verarbeitung der Güter in den so genannten Maquiladoras eingeht. Diese sind zoll- und tariffreie Verarbeitungsstätten in der Nähe der US-Grenze. Dieses Fabriksystem entzieht sich bewusst staatlicher Kontrolle. Arbeiter*innenrechte gibt es nicht bzw. werden sie nicht staatlich durchgesetzt. Ohne das staatliche Gewaltmonopol herrscht hier das Recht des mit illegalen Mitteln ausgestatteten Stärkeren. Um von Mindestlohn den Lebensunterhalt bestreiten zu können, musste 2018 eine Arbeiter*in pro Tag theoretisch 24,5 Stunden arbeiten. Der Staat erhoffte sich einst von solch einer Freihandelszone eine Stimulation für die eigene Produktivkraftentwicklung, welche aber enttäuscht wurde. Heute wird das System auf Druck der USA und auf Grund der Unfähigkeit des mexikanischen Arbeitsmarktes, das dann freiwerdende Arbeitskrätepotential aufzunehmen, aufrechterhalten. Der Maquiladorasektor macht immerhin 60% der formalen mexikanischen Ökonomie aus. Und dieser formelle Sektor ist in Mexiko bereits in der Minderheit. 53% aller Arbeit wird informell verrichtet, so dass staatliche Arbeitsschutzgesetze hier gar nicht greifen können. Überausbeutung und Selbstausbeutung sind die Regel.
Whitener zählt weitere Beispiele für die enge Verbindung von kapitalistischer Akkumulation und gewaltsamer Politik auf. Anders als Harvey begreift er beispielsweise die “Ausbeutung” der Ressourcen an sich als einen ökonomischen Prozess, da diese durch menschliche Arbeit abgebaut werden müssen. Um jedoch an die entsprechenden Grundstücke zu kommen, mussten gewaltsam indigene Stämme umgesiedelt werden, meist in die Nähe der Grenze, wo sie in das Maquiladora-System fielen. Weiterhin zieht er Studien zu Rate, die zeigen, dass der blutige Krieg gegen die Drogen nicht einfach ein Krieg gegen kriminelle Kartelle war, sondern dass Konzerne und Kartelle bereits vorher verwoben waren und dieser Krieg nur die Macht der Großkonzerne stärkte. Obwohl die Bevölkerung den Blutzoll dieses Krieges bezahlte, kam sie in keinerlei Genuss positiver Auswirkungen.
Zusammenfassung
Brian Whitener zeigt die organische Verbindung von Gewalt und Kapital am Beispiel Mexikos hervorragend auf. Die Befriedung des Klassenkonflikts innerhalb der USA, der durch Kreditaufnahme begrenzt bewerkstelligt wird, hat seinen Preis; in Mexiko und anderen Ländern. David Harvey geht dem scheinbaren Frieden des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses auf den Leim, da er den Prozess der Accumulation of Dispossession vom ökonomischen Akkumulationsprozess zu trennen versucht. Er romantisiert und generalisiert den brüchigen und mittelfristigen schuldenbasierten Klassenkompromiss in den USA und übersieht dabei die blutigen Bedingungen für diesen. Ganz Geograph – seine studierte Fachrichtung – denkt er in Territorien und nicht in Klassen. Rosa Luxemburg, welche sowohl die Klassenfrage als auch die Frage der ökonomischen Reproduktion viel präziser und stringenter fasst, stellt den Zusammenhang zwischen politischer Gewalt und Kapitalakkumulation schlüssiger und realitätsgetreuer dar.
Es ist nicht in Abrede zu stellen, was David Harvey für den englischsprachigen Marxismus in schwierigeren Zeiten als für heute geleistet hat. Und seinen Versuch, integrative Theorien für die Vielfalt sozialer Bewegungen zu finden, ist aller Ehren wert. Aber seine Theorie der Accumulation of Dispossession taugt jedoch nicht zur marxistischen Beschreibung des gegenwärtigen Kapitalismus.
Exkurs: weitergehende Kritik an David Harvey
Brian Whitener hat sich auf die Aspekte beschränkt, in welchen er Harvey mit Luxemburg vergleichen konnte. Allerdings gibt es nich einige andere zentrale Kritikpunkte, auf die im Text eingegangen wurden und die an dieser Stelle der Vollständigkeit halber kritisiert werden müssen:
1. Harveys Beispiele passen nicht zu seiner Theorie
Viele der konkreten Beispiele zur Begründung der Theorie der Accumulation by Dispossession passen nicht. Harvey führt beispielsweise an, es wäre schwer, den Vietnamkrieg durch die Bedürfnisse der Kapitalakkumulation zu erklären (vgl Harvey 1996/2003, S.36). Jedoch behidnderte jede Schranke, welche der sozialistische Block der Ausbreitung des Kapitalismus setzte, eine Extensivierung der kapitalistischen Produktionsweise. Damit lässt sich der Vietnamkrieg bereits mit der ökonomischen Kapitalakkumulation erklären.
Andere Beispiele Harveys sind Privatisierungen öffentlicher Güter. Natürlich kann der Staat einzelne öffentliche Güter außerhalb der Profitlogik behandeln. In der Regel heißt das nicht, das sie kostenlos sind, sondern, dass die Preise gesellschaftlich gestaltet werden. Dies geht aber nur, wenn die entstandenen Defizite durch Steuern ausgeglichen werden können. Um entsprechend hohe Steuern einzunehmen, muss aber die ökonomische Akkumulation der Kapitalistenklasse eines Landes gelingen. Gerät diese ins Stocken, kann sich der Staat gezwungen sehen, öffentliche Güter zu privatisieren. Öffentliche Güter stehen daher niemals außerhalb der kapitalistischen Systems, sondern sind integraler Bestandteil.
2. Diebstahl ist keine Akkumulation
Neben der Kommodigizierung bisher dem Kapital verwährter Lebensbereiche, sagt Harvey, dass die Accumulation of Dispossession auch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft funktioniere. Er beschreibt diese Enteignungsprozesse wie folgt:
“Erhebliche Vermögenswerte werden aus der Zirkulation herausgeworfen und entwertet. Sie liegen brach und schlummern, bis das überschüssige Kapital sich auf sie stürzt und der Kapitalakkumulation neues Leben einhaucht.” (ebd., S.150)
Harvey erläutert dies an folgendem Beispiel:
“Man kauft ein Haus in schlechtem Zustand für wenig Geld, nimmt ein paar kosmetische Verbesserungen vor und verkauft es mit Hilfe eines vom Verkäufer arrangierten Hypothekenpakets zu einem exorbitanten Preis an eine einkommensschwache Familie, die glaubt, damit ihren Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Wenn die Familie Schwierigkeiten mit den Zahlungen oder den ernsthaften Instandhaltungsproblemen hat, die sich fast mit Sicherheit ergeben, wird das Haus wieder in Besitz genommen.” (ebd., S.151)
Ganz augenscheinlich drängt sich die Frage auf, wie die einkommensschwache Familie plötzlich in der Lage sei, den exorbitanten Preis zu zahlen. Aber auch in Bezug auf den gesamten Reproduktionsprozess ist das Beispiel nicht stimmig: Steigen die Preise für das Wohnen zu Gunsten einer unproduktiven Rentiersklasse, dann steigt auch der Preis der Ware Arbeitskraft, da dieser durch die Lebenshaltungskosten bestimmt ist. Im produktiven Sektor muss demnach der Anteil der Löhne am eingesetzten Kapital steigen und insofern die Produktivität gleich bleibt, schmählert dies den Profit des produktiven Sektors. Es wird demgemäß also überhaupt keine Kapital durch Enteignung akkumuliert, sondern nur von produktiven Sektor in den unproduktiven umverteilt.
Harvey beschreibt gerade keine Akkumulation, sondern die Verteilung des akkumulierten Kapitals unter den einzelnen Fraktionen der Bourgeoisie. Eine solche Beschreibung ist nicht irrelevant, leistet aber nicht, was Harvey mit ihr erklären will.
Marx hatte bereits im ersten Band des Kapitals aufgezeigt, dass der Mehrwert nur der Produktion entstammen kann. Jeder Gewinn außerhalb der Produktion ist eine schlichte Übervorteilung, der ein ebenso großer Verlust auf Seite eines Zweiten gegenübersteht. Harveys Akkumulation im aufgezeigten Beispiel findet aber nur in der Zirkulationssphäre statt.
3. Unterkonsumtionstheorie und Überakkumulationstheorie sind das Gleiche
Harvey kritisiert an Rosa Luxemburg, dass sie eine Unterkonsumtionstheorie aufgestellt habe, während die neueren Forschungen allerdings für eine Überakkumulationstheorie sprächen. Beide Theorien unterscheiden sich jedoch inhaltlich überhaupt nicht. Gibt es zuviel Kapital für eine gegebene Nachfrage oder zu wenig Nachfrage für ein gegebenes Kapital? Das kommt nur auf den Bezugspunkt an. Harvey übersieht, dass im Produktionsprozess nur die Arbeit wertbildend ist, die gesellschaftlich notwendig ist, um einen bestimmten Gebrauchswert herzustellen. Und für den muss es eben eine entsprechende Nachfrage geben. Seine Beschreibung des Vorgangs der Krisenbewältigung ist daher auch inkosnsitent:
“Was die Akkumulation durch Enteignung tut, ist eine Reihe von Vermögenswerten (darunter auch die Arbeitskraft) zu sehr niedrigen (und in manchen Fällen ganz ohne) Kosten freizusetzen. Das überakkumulierte Kapital kann sich solcher Vermögenswerte bemächtigen und sie unmittelbar in einen profitbringenden Nutzen verwandeln.” (S.147f.)
Wenn es so wäre, müsste es ja das Problem des Kapitals gewesen sein, das es nicht groß genug war, um die Investitionen zu tätigen, wofür man dank Enteignung nur einen Schnäppchenpreis bezahlte. Warum muss aber das Kapital, wenn es in einer Überakkumulationskrise ohnehin schon zuviel gibt, erst andere Hebel in Bewegung setzen, als dieses Zuviel an Kapital gleich selbst zu investieren? Die Unterscheidung der Überakkumulations und Unterkonsumtionskrise würde einen Sinn ergeben, wenn das Verhältnis zwischen Produktionsmittel- und Konsumtionsmittelsektor tiefer analysiert würde. Aber diese recht komplexen Fragen der erweiterten Reproduktion geht Harvey nicht an.
Literatur
Harvey, D. (1996/2003): Der neue Imperialismus. Hamburg: VSA
Luxemburg, R. (1913/1975): Gesammelte Werke. Band 5. “Die Akkumulation des Kapitals”. Berlin (Ost): Dietz. S. 5-411.
Whitener B. (2022): Rosa Luxemburg in Mexico: On the Return of Primitive Accumulation. Critical Sociology. 48(1). S.21-35.
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