Der Jahresrückblick 2022: Die 10 besten marxistischen Studien

Das Jahr 2022 sah wieder viele hervorragende Studien im Geiste von Karl Marx

Das Jahr 2022 steht in den Büchern. Im politischen Zentrum der Aufmerksamkeit standen natürlich die russische Invasion in der Ukraine, der sich verschärfende Konflitk zwischen den USA und China, sowie die Auswirkungen auf Inflation und Energiesicherheit in Europa. Die politische Linke in Deutschland hat bisher noch keine Antwort gefunden, um die Bevölkerung zu mobilisieren. Der heiße Herbst war eher lauwarm. Der politische Abstieg der Linkspartei hielt mit dem Streit um #linkemetoo, die Intervention in den Ukrainekrieg und Sarah Wagenknecht weiter an. Eine Spaltung und damit das Ende des vielversprechendsten parlamentarischen Projekts der Linken seit dem Ende der Weimarer Republik scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Weltweit sieht die Lage weniger trostlos aus. Der Linkstrend in Südamerika setzt sich gebremst fort, aber er hält an. Lula da Silva löste in Brasilien des Protofaschisten Bolsonaro ab und in Peru mobilisieren die Armen aktuell gegen die Absetzung Castillos.

Mit dem Jahr 2022 geht auch ein Jahr Spectrum of Communism zu Ende, das in aktuelle Studien und Publikationen aller Art und aller Strömungen zum wissenschaftlichen Sozialismus schaute. Der Blog wirft zum Jahresabschluss einen Blick zurück auf die zehn spannendsten theoretischen Beiträge des Jahres 2022. Und richtet einen Dank an die vielen Leser*innen (immerhin 3-4x so viele wie zu Beginn geschätzt) und die vielen Rückmeldungen per Mail, Kommentar oder auf twitter.

Platz 10: Anria, Bentancur, Rodriguez & Rosenblatt – Bewegungsparteien (Politics & Society)

Vor zehn Jahren waren sie neueste Mode, heute zerfallen viele von ihnen wieder: Bewegungsparteien. Und auch, wenn die Linkspartei kurz vor ihrer Spaltung steht, ist kaum zu vermuten, dass die Idee, alle linken Kräfte von der Enteignungskampagne bis zur Gewerkschaft unter einen Hut zu bringen, begraben wäre. Daher ist Ursachenforschung für das Scheitern vieler und den Erfolg mancher von großer Bedeutung. Santiago Anria, Verónica Pérez Bentancur, Rafael Piñeiro Rodríguez und Fernando Rosenblatt hatten in der Politics & Society die Movimiento al Socialismo in Bolivien und die Frente Amplio in Uruguay hinsichtlich der organischen Beziehungen zwischen Partei und Bewegungen analysiert. Beide Plattformen gingen sehr unterschiedliche Wege und erlauben somit einen fruchtbaren Vergleich. Unter welchen konkreten politischen und historischen Umständen ist welches Organisationsprinzip vorteilhaft und welche Nachteile besitzt es? Platz 10 für den Einblick in die südamerikanische Parteienlandschaft.

Anria, S.; Bentancur, V.; Rodríguez, R. & Rosenblatt, F. (2022): Agents of Representation: The Organic Connection between Society and Leftist Parties in Bolivia and Uruguay. In: Politics & Society. Jahrgang 50. Ausgabe 3. S. 384–412.

Platz 9: Anderson, Hansen & Scully – Gentrifizierung und Klassenmonopolrente (Economy & Space)

Dass der hippe, grüne Linksliberalismus nicht unbedingt der aufrichtigste Bündnispartner der Arbeiter*innenklasse ist, haben viele im Urin. Matthew B. Anderson, Elijah C. Hansen und Jason Y. Scully haben die politischen Mechanismen hinter der Gentrifizierung des South Lake Union District in Seattle detailliert herausgearbeitet und mit der marxistischen Rententheorie verknüpft. Die Verbindung von marxistischer Theorie und konkreter Empirie erwies sich als doppelt fruchtbar. Marx half, die Prozesse zu verstehen und die Prozesse selbst halfen, Marx zu verstehen. Die Autoren gaben ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine Klasse Herrschaft ausübt und ihre Interessen auf Kosten anderer durchsetzt, allein indem sie herrschende moralische Imperative und finanzielle Notsituationen der Kommunen ausnutzt. Ein Lehrstück, auch für hiesige linke parlamentarische wie außerparlamentarische Kommunalpolitiker*innen.

Anderson, M., Hansen, E. & Scully, J. (2022): Class monopoly rent and the urban sustainability fix in Seattle’s South Lake Union District. In: Economy and Space. Jahrgang 54. Ausgabe 6. S. 1113-1129.

Platz 8: Fischhendler, Herman & David – Solarstrom im Gazastreifen (New Political Economy)

Marxist*innen außerhalb Chinas stehen auch am Ende des Jahres 2022 ohne große Institute oder statistische Behörden da, die ihnen Daten aus erster Hand liefern könnten. Wie also an Daten kommen, die nicht bereits durch bürgerliche Hände gewandert sind? Itay Fischhendler, Lior Herman und Lioz David von der Hebräischen Universität in Jerusalem haben einen sehr kreativen Weg aufgezeigt. Sie untersuchten die Verbreitung von Solaranlagen im Gaza-Streifen, in dem sie mit selbstlernender Software Satellitenbilder ausgewertet haben. Sie konnten aufzeigen, dass der Anteil unabhängiger und dezentraler Selbstversorgung mit elektrischer Energie mit 25% weit höher war, als die offiziellen Stellen vermuteten. Und in einer Region, in der die zentrale Energieversorgung entweder von der korrupten Hamas oder der Besatzungsmacht Israel kontrolliert wird, eröffnen Solarzellen neue Wege in die Unabhängigkeit von beiden. So eine augeklügelte Verbindung von geopolitischer Fragestellung und intelligenter Methodik der Datenerhebung findet sich selten. Daher Platz 8.

Itay Fischhendler, Lior Herman & Lioz David (2022): Light at the End of the Panel: The Gaza Strip and the Interplay Between Geopolitical Conflict and Renewable Energy Transition, New Political Economy, 27:1, S. 1-18.

Platz 7: Kuochih & Junshang – vier chinesische Lösungen für das Transformationsproblem (Review of Radical Political Economy)

Der akademische Austausch zwischen China und englischsprachigen Marxist*innen funktioniert leider noch nicht so reibungslos, wie man es sich wünschen würde. Die beiden Autoren Kuochih Huang und Junshang Liang untersuchten in der Review of Radical Politcal Economics vier chinesische Beiträge zur Transformationsdebatte. Jede der Lösungen besitzt ihre Vorteile, jede ihre Nachteile; keine kann das Problem vollständig theoretisch bewältigen. Über die Gründe und den allgemeinen Charakter des Transformationsproblems darf man unterschiedlicher Meinung sein. Jedoch zeigten die beiden Autoren, dass es in China eine satisfaktionsfähige marxistische Forschung gibt. Und für den Inhalt, den Kuochih und Junshang in neun Seiten nachvollziehbar darstellten, schreibt so manche*r Französ*in (tut mir leid, aber die meisten französischen Bücher sind nunmal sehr langatmig) wohl neun Bücher.

Huang K. & Liang J. (2021) Chinese Studies on the Transformation Problem: A Selective Review. Review of Radical Political Economics. 53(4). S.725-734.

Platz 6: Simon Schaupp – kybernetische Proletarisierung (Capital & Class)

Es schwingt ein Hauch von westdeutschem Maoismus der 70er und 80er mit, wenn ein*e Marxist*in heute “freiwillig” in die Fabrik geht. Für seine Forschung zu Smart Industries arbeitete Simon Schaupp selbst zwischen 2017 und 2019 in der Elektronikfertigung und bei einem Lieferdienst. Und Schaupp tat weit mehr, als sich durch Betroffenheit Deutungshoheit zu verschaffen. Seine Konzept der kybernetischen Proletarisierung, dass aus den vier Bestandteilen Ausschluss lebendiger Arbeit, Reintegration entwerteter Arbeit, Intensivierung der Arbeit und Klassenkampf auf neuer Ebene auszeichnet, ordnet die Tendenzen der Industrie 4.0 tagesaktuell in die marxistische Kritik ein. Schaupp zeigte auf, dass sich die kybernetischen Proletarier*innen nicht nur vereinzeln, sondern durch die Unmenschlichkeit der totalen Überwachung via Smart Devices in den passiven und aktiven Widerstand getrieben werden. So eine Studie kriegt man sicher nicht alle Tage zu lesen und die Veröffentlichung in Capital&Class ist vor Dunkhase und Sandleben mein diesjähriger Favourit eine*r deutschsprachigen Autor*in. Den Tabellenplatz 6 entspricht zum Beispiel dem Borussia Dortmunds in der Bundesliga. Nicht schlecht.

Schaupp, S. (2022): Cybernetic proletarianization: Spirals of devaluation and conflict in digitalized production. In: Capital & Class. 46(1). S.11–31.

Platz 5: Franceschini & Sorace – 100 Jahre Proletariat in China (Verso)

2021 feierte die Kommunistische Partei Chinas ihr hundertjähriges Bestehen. Im Jahr darauf gaben Ivan Franceschini und Christian Sorace den Sammelband “Proletarian China. A Century of Chinese Labour” heraus. Das Buch erwies sich als eine spektakuläre Chronik der chinesischen Klassenkämpfe. Mehrere dutzend Autor*innen zeichneten das Bild eines Proletariats, dessen Kampfkraft die Bourgeoisie immer wieder aus den Fabriken und Städten spülte, dem aber nach spontanen Aufständen die organisierende Hand fehlte. Ein Jahrhundert lang eroberte das Proletariat die Macht immer wieder neu, um diese stets wieder in die Hände der CCP zu legen. Die so in Regierungsverantwortung gekommene Kommunistische Partei musste allerdings immer wieder auch die Kleinbäuer*innen und Kleinbürger*innen ins Boot holen und verlor allmählich den Charakter einer reinen Arbeiter*innenpartei. Das Buch ist somit zwar eine Gegenerzählung zu den offiziellen Feierlichkeiten, aber eine die fern von Heroismus die Erfolge und Niederlagen der Partei mit großer Empathie und aus den historischen Bedingungen heraus erzählen kann. Für einen erfolgreichen langen Marsch über einen schmalen Grat findet sich das Buch unter den besten fünf wieder.

Franceschini, I. & Sorace, C. (2022): Proletarian China. A Century of Chinese Labour. New York: Verso.

Platz 4: Shaikh, Nassif-Pires & Coronado – Brodys Vermutung (Economic Systems Research)

Manchmal sind die Schlussfolgerungen, die man aus der Widerlegung einer Theorie ziehen kann, fast schöner als ihre Bestätigung. Shaik, Nassif-Pires und Coronado haben aufgezeigt, dass die Vermutung Andras Brodys, dass sich Leontieff-Matrizen umso leichter berechnen lassen, je größer die Matrix ist, in der empirischen Untersuchung nicht bestätigen lässt. Oder anders gesagt: Desto größer eine Planwirtschaft, desto leichter wäre sie planbar. Während Brodys Vermutung für Zufallsmatrizen zweifelsfrei bewiesen ist, zeigten die Autor*innen, dass moderne Ökonomien noch durch zu starke implizite Strukturen gekennzeichnet sind. Doch legt genau diese Beobachtung nahe, dass Kleinteiligkeit, Autonomie und Dezentralismus überhaupt keine Hinderungsgründe für eine Planwirtschaft sind. Das Jahr 2022 schaut auf ein Revival der Planwirtschaftsdebatte in Deutschland und der Welt zurück. Während sich allerdings die vielen Überblickswerke nicht allzu viel nehmen, stoch dieser kleine Blick durchs Brennglas hervor.

Shaikh, A., Nassif-Pires, L. & Coronado, J. (2022): A new Empirical Contribution to an old theoretical Puzzle: What Input–Output Matrix Properties tells us about Equilibrium Prices and Quantities. In: Economic Systems Research. Online First: 2. September 2022. DOI: 10.1080/09535314.2022.2106418

Platz 3: Gabriel Winant – Von der Steel zur Heal City (Harvard UP)

Gabriel Winants Erstlingswerk zur historischen Entwicklung des Rust Belt und der Steel City Pittsburgh wurde zu Recht mit dem diesjährigen Isaac-Deutscher-Preis ausgezeichnet. Mit seinem Konzept der ungleichen Entwicklung des Proletariats in Zeit, Geschlechtlichkeit und Ethnizität gelang Winant eine raffinierte Kombination aus fundierter Klassenanalyse und den heute so bedeutsam erscheinenden, wie umstrittenen Kategorien Race und Gender. Das Konzept lädt geradezu ein, Methoden und Theorien aus der Diskussion um die ungleiche Entwicklung kapitalistischer Länder auf die Klassenanalyse einzelner Länder anzuwenden. Damit weist das Buch über sich selbst hinaus. Dass es dazu noch fesselnd geschrieben, den Reproduktionssektor theorisiert und aus vielen roten Fäden ein tragfähiges Netz knüpft, ist da schon fast Nebensache. Dass es nicht für Platz 2 reichte, war eher eine Münzwurfentscheidung.

Winant, G. (2021): The Next Shift. The Fall of Industry and the Rise of Health Care in Rust Belt America. Cambridge: Harvard University Press.

Platz 2: Martínez & Borsari – Imperialismus und Wechselkurse (New Political Economy)

Der augenscheinlichste Unterschied zwischen einem nationalen und dem Weltmarkt sind die unterschiedlichen Währungen, in denen die Waren gehandelt werden. Martinez und Borsari haben eine konsistente Theorie der Wechselkurspolitik, des Krisenexports und Imperialismus entwickelt. An Hand der Fallbeispiele Kolumbiens und Brasiliens haben sie diese Theorie sogar empirisch untermauern können. Dazu brauchten sie kein dickes Buch, sondern nur 25 Seiten. Wer heute die Politik Chinas, Russland, der EU und der USA verstehen will, wird an diesen Überlegungen nicht vorbeikommen. Ganz ohne Spektakel Platz 2 für solide, handwerklich hervorragende marxistische wissenschaftliche Arbeit.

Martínez, M. & Borsari, P. (2022): The Impacts of Subordinated Financialisation on Workers in Peripheral Countries: an Analytical Framework and the Cases of Brazil and Colombia, New Political Economy, Jahrgang 27. Ausgabe 3. S.361-384.

Platz 1: Garcias Studien zum allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation (Capital & Class, Lexington)

Carlos Alberto Duque Garcia von der Universidad Autonoma Metropolitana in Mexiko hat sich mit dem allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, also dem 25. Kapitel des ersten Kapitalbandes auseinandergesetzt, in dem Marx die beiden widerstreitenden Tendenzen beschreibt, die Lohnhöhe durch Ausweitung der Produktion, d.h. der Nachfrage nach Arbeitskraft zu steigern und gleichfalls durch die Erhöhung der Produktivität zu senken. Marx stellte die These auf, dass letzteres auf lange Zeit dominieren würde. Und Garcia konnte mit modernen statistischen Auswertungsmethoden wie der ARIMAX-Modellierung zeigen, dass er Recht hatte. Darüber hinaus zeigte sich, dass Verelendung als globales kapitalistisches Phänomen mit einigen Inseln verstanden werden muss. In einem zweiten Beitrag zum Thema entwarf er ein Konzept, um die Korrelation zwischen Bedarf an unentgeltlicher Hausarbeit und Kapitalaktivität empirisch überprüfen zu können. Garcias Forschung war kurzum alles, was man sich von zeitgenössischer marxistischer Forschung erwartet: nah dran an der ökonomischen Basis, geschickt in der Methodik und fokussiert auf brennende Fragen der Bewegung.

Garcia, C. (2022): Employment and Accumulation of Capital around the World: An econometric Analysis. In: Capital&Class. Online First. DOI: 10.1177/03098168221128944.

Garcia, C. (2022): Unpaid Housework, Social Reproduction, and Accumulation of Capital: A Theoretical Framework and Empirical Evidence from Mexico. In: Fusaro, L. (Hrsg.) & Sandoval, L. (Hrsg.): The General Law of Capitalist Accumulation in Latin America and Beyond. Actuality and Pertinence. Lanham, Boulder, New York, London: Lexington. S.227-248.


Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert