Ruy Mauro Marini

Ruy Mauro Marini wurde in einer kleinen Provinzhauptstadt im Südosten Brasiliens geboren und zog nach Rio de Janeiro, um zunächst Medizin, dann Jura und letztendlich öffentliche Verwaltung zu studieren. Während eines zeitweiligen Aufenthalts in Paris kam er mit der Lektüre von Marx und Lenin in Kontakt. In dieser Zeit politisierte er sich im Rahmen der Student*innenbewegung und wurde Mitglied der Politica Operaria, einer linken Oppositionsgruppe, die sich gegen den zentristischen Kurs der Kommunistischen Partei Brasiliens wandte. Nach seinem Abschluss erhielt er eine Stelle an der Universität von Brasilia, wo er zusammen mit Theotonio dos Santos und Vania Bambirra seine eigene Interpretation einer Abhängigkeitstheorie entwickelte. Diese wandte sich insbesondere gegen die Entwicklungstheorie der ECLA, der Ökonomischen Kommission für Lateinamerika der Vereinten Nationen. 1965 wurde er von der Militärregierung Brasiliens für sechs Monate inhaftiert und exilierte nach seiner Entlassung nach Mexiko. Ab 1971 konnte er in Chile bis zum Putsch gegen die Regierung Allende als Universitätsprofessor dozieren. Danach kehrte er nach Mexiko und in den 80ern in seine Heimat nach Brasilien zurück. 1997 verstarb er.

Das Werk Marinis wurde lange Zeit kaum außerhalb Lateinamerikas wahrgenommen. Dabei gilt sein bekanntester Text „Dialéctica de la dependencia“ – „Dialektik der Abhängigkeit“ als einer der Klassiker des zeitgenössischen lateinamerikanischen Denkens. Daneben verfasste er einige revolutionstheoretische Werke und eine vierbändige Geschichte des lateinamerikanischen Sozialtheorie. Marinis Abhängigkeitstheorie hatte in der Praxis wesentlichen Einfluss auf die Sozialistische Partei Chiles, die im Zuge seiner Prognose, dass eine zu langsame Entwicklung zum Sozialismus ein unterentwickeltes Land in die Fänge des Imperialismus führe, ihre Allianzen auf Arbeiter*innenparteien beschränkte, während die Kommunistische Partei das Konzept nationaler Befreiungsfronten vertrat. Darüber hinaus war Marini ein talentierter Netzwerker, der an allen Orten seines Wirkens schnell Einfluss auf eine große Zahl von Student*innen nehmen konnte, die sein theoretisches Erbe weitertrugen.