Spengler, Russland und der historische Materialismus

⋄ Oswald Spengler genießt in Russland aktuell einige Aufmerksamkeit in intellektuellen Kreisen, wenn auch anders als in westlichen Medien dargestellt.

⋄ In Deutschland gilt Spengler teilweise als Vordenker des Faschismus oder wenigstens der konservativen Revolution. Sein Werk hingegen bietet hierfür nur geringe Anknüpfungspunkte.

⋄ Nach Spengler seien alle Kulturen gleichberechtigt, durchliefen aber jeweils eigenständige Entwicklungszyklen, die geschichtsmorphologisch Prognosen auf die zukünftige Entwicklung zuließen.


⋄ Ruslan Dzarasov analysierte die Theorie Spenglers in der aktuellen
Voprosi Politicheskoi Ekonomii unter historisch-materialistischen Gesichtspunkten.

⋄ Dzarasov führt die Beobachtungen Spenglers auf den Imperialismus zurück, der aber gerade nicht durch eine Eigenständigkeit, sondern durch die Vernetzung unterschiedlicher Kulturen geprägt sei.

Immer, wenn die bürgerliche Presse des Westens russische Propaganda enttarnen will, legt sie dabei mehr über das eigene Denken offen als über das zur Diskussion gestellte. So entdeckte etwa das Redaktionsnetzwerk Deutschland (hier) ein halbes Jahr nach der Intervention in der Ukraine eine neue Affinität der russischen Intellentsia zu Oswald Spengler und seinem Opus Magnum „Das Untergang des Abendlandes“. Man unterstellte, dass in Russland die Thesen eines selbstverschuldeten Untergangs des Westens und der Notwendigkeit eines neuen Cäsarentums zur Rechtfertigung des Angriffskrieges übernommen worden seien. Weder geben jedoch das Werk Spenglers solche Interpretationen her, noch sind solche tatsächlich wesentliche Punkte in der Debatte.

Doch nur, weil die Debatte im Westen falsch dargestellt wird, heißt es eben nicht, dass es sie nicht gibt. Und nur, weil Spengler gegen seine eigenen Texte hierzulande als Urvater konservativer Revolutionen gilt, heißt es nicht, dass er in Russland so gelesen wird. Umgekehrt gilt jedoch auch: nur weil sich Spengler nicht so leicht in eine protofaschistische Ecke rücken lässt, sind seine Ansichten nicht gleich wahr und gut begründet. Ruslan Dzarasov setzte sich in der aktuellen Ausgabe der Voprosi Politicheskoi Ekonomii (Näheres hier) mit Spengler und einer historisch-materialistischen Analyse seiner Geschichtsmorphologie auseinander.

Der Untergang des Abendlandes

Oswald Spengler ist einer der meistrezipierten deutschenGeschichtsphilosophen der Zwischenkriegszeit. Sein Ruf ist geprägt von Vorwürfen der Demokratieverachtung und des Elitarismus. Er gilt bis heute als Stichwortgeber konservativer Revolutionäre. Nur eine Minderheit würdigt ihn noch als einen der ersten vergleichenden Kulturwissenschaftler und einer der letzten großen Systematiker. Die prinzipielle These seines Hauptwerkes „Der Untergang des Abendlandes“ ist es, dass jede menschliche Kultur einen eigenen Zyklus durchläuft, an dessen Anfang der stete Drang zur Perfektibilität der Kultur die Menschen antreibt, lieber für die Gesellschaft als für den eigenen Vorteil zu arbeiten und an dessen Höhepunkt eine reiche und kulturell vollentwickelte Zivilisation steht, die aber auf Grund fehlenden weiteren Entwicklungspotentials in einen allmählichen Niedergang verfallen müsse. Inkompatibel mit dem Hitlerfaschismus war dabei die prinzipielle Anerkennung der Gleichwertigkeit der Kulturen. Diese hätten zwar nach geographischer Lage und nicht genauer erklärbaren Volksseelen qualitative Unterschiede, aber befänden sich sonst jeweils nur in unterschiedlichen Stadien ihres Entwicklungszyklus. Darauf aufbauend fußt sein Konzept einer Kulturmorphologie, in der bestimmte Ausprägungen einer Kultur zwar zeitlich und in ihrem Ausdruck unterschieden sein könnten, aber morphologisch als gleicher Ausdruck der Verortung im Lebensprozess der Gesellschaft anzusehen seien. Seine Beispiele bezieht er dabei vorrangig aus Architektur und Literatur.

Da verwundert es kaum, dass er seine Charakterisierung der westlichen Kultur an ein Thema Goethes anlehnt, nämlich das des Faustischen Geistes. Der Faustische Geist wolle alles über die Natur und ihre Gesetze wissen, jedoch nicht aus Vergnügen, sondern um sich diese zum Untertan zu machen. Daraus entspringe eine beständige Dynamik, die auf die immer vollständigere Beherrschung der Natur, aber auch die immer weiter ausgedehnte Herrschaft über andere Völker und die Welt ziele. Der arabischen Kultur hingegen schreibt er einen magischen Geist zu, der die Natur weniger als Instrument, sondern eher Quelle betrachte, aus der man schöpfen könne, deren Geheimnisse aber nur als Geheimnisse angewandt, jedoch nicht gelüftet werden können. Allerdings, so Spengler, würde der unbedingte Wille zur Beherrschung der Natur als Selbstzweck den Blick verengen; das Geld als Mittel zur Beherrschung der Welt zum Selbstzweck geraten und auch die durchdachtesten Demokratien nur verkappte Plutokratien werden.

Eine solche Gesellschaftskritik klingt tatsächlich erst einmal anschlussfähig, sowohl an konservative Revolutionäre von rechts, als auch an sozialistische Revolutionäre von links. Von den konservativen Revolutionären trennte Spengler, dass er den Niedergang des Abendlandes als voll entwickelter Kultur für unumgänglich hielt und entsprechende Interventionen als vielleicht lebensverlängernde oder schmerzlindernde Maßnahmen begrüßte, aber den Prozess als solchen jedoch nicht für umkehrbar hielt. Er kritisierte vielmehr historische Pseudomorphosen, in denen eine untergehende Gesellschaft ihren Niedergang durch die leere Imitation einer Gesellschaft in ihrer kulturellen Blüte zu kaschieren versuche. Tatsächlich gibt es dann auch einige Parallelen des von Spengler dargestellten Cäsarentums – dem Versuch der Rettung der Kultur bei Beibehaltung des individualistischen Egoismus – und dem Bonarpatismuskonzept aus Marxens Brumaire. Von der marxistischen Kritik trennt ihn neben der Absehung der Ableitung historischer Erscheinungen aus den Produktionsverhältnissen, dass sich nach Spengler die Widersprüche nicht bis hin zu ihrer Auflösung in der klassenlosen Gesellschaft zuspitzen. Ruslan Dsarazov wird etwas genauer darauf eingehen, welche richtigen Erkenntnisse Spenglers über seine Zeit ihn bis heute hin für viele Rezipienten attraktiv machen.

Spengler in der russischen Rezeption

Zunächst aber zum Anlass: der Wahrnehmung in Russland. Insbesondere jenen, die nur oberflächlich mit dem Werk Spenglers vertraut sind, erscheint die neue Beschäftigung mit ihm in Russland als tiefer Widerspruch. Hat Spengler nicht Russland immer als eine primitive Zivilisation angesehen? Man unterstellt hier in der Regel ein ungenaues Studium Spenglers, dass vom gemeinsamen Hass auf den Westen und einer ähnlichen Affinität zum Faschismus motiviert sei. Dabei ist man es selbst, der das Konzept der Zyklizität von Geschichte bei Spengler missinterpretiert. Primitiv ist bei Spengler im Sinne von jung und noch nicht voll entwickelt zu lesen. Was voll entwickelt ist, strebe bereits den Niedergang an. Den Petrinusmus, die Übernahme westlicher Gesellschaftskonzepte durch Peter den Großen, hielt Spengler für ein zweischneidiges Schwert, da die positiven Impulse der Modernisierung für Spengler nicht zu übersehen waren, er diese jedoch als eine Pseudomophologie ansah, welche die mystische Verwurzelung der russischen Seele im Boden und der einfachen Bauernschaft, nicht einfach ersetzen könne. Aus der Konkurrenz mit dem westlichen Vorbild könne nur Hass auf Grund des Neids der notwendigen ungenügend Imitation des Westens entstehen, während die Rückbesinnung auf die mythische Volksseele einen wahren Vorsprung der Freiheit bedeuten, während der Mensch des Westens sich immer mehr an die eigene Maschinerie kette. Allerdings habe der Bolschewismus den Petrinismus auf die Spitze getrieben.

Tatsächlich wurde Oswald Spengler durch die Textsammlung „Oswald Spengler und der Untergang Europas“ ab 1920 in Russland popularisiert, das als Propagandaschrift für die gebildeten Alliierten der Weißgardisten vertrieben wurde, innerhalb kürzester Zeit dutzende Auflagen erreichte und von Lenin und den Bolschewiki leidenschaftlich bekämpft wurde. Mit dem Sieg der Roten Armee erlosch die Bedeutung des Werks in Russland auch sehr schnell wieder. Heute ist bekannt, dass sich sich der russische Außenminister Lavrov wohlwollend auf einige Theoriefragmente Spenglers bezieht und eine Nähe des Duginschen Denkens zu Spengler wird wenig sachkundig in der westlichen Presse nahegelegt. Dennoch ist die Rezeption weiterhin begrenzt. Wirklich tief wird Spengler nur in einigen konservativen Fachblättern diskutiert, dennoch hat fast jede größere Zeitung seit Beginn des Ukraine-Kriegs mal einen Artikel zu Spengler herausgegeben; mit sehr gemischten Einschätzungen. Dies schien für Dzarasov bereits hinreichend gewesen zu sein, um eine historisch-materialistische Erwiderung auf das Grundkonzept Spenglers herauszubringen.

Erwiderung Dzarasovs

Dzarasov beginnt mit einigen Parallelen zwischen Spenglers Denken und dem Marxismus. Erstens sehe der historische Materialismus ebenso wie Spengler unterhalb der chaotischen Oberfläche der Ereignisgeschichte strukturierende Gesetze walten. Zweitens sehe Spengler die Entwicklung von Gesellschaften durch die Wechselwirkung von Widersprüchen geprägt. Drittens korrespondiert Spenglers Vorstellung vom Gewordenen als eines Abgestorbenen und sich nicht mehr Bewegenden mit dem Hegelschen Aufhebungsbegriff. Und viertens sei im „Faustischen Geist der Unendlichkeit“ die unendliche Selbstverwertung des Kapitals reflektiert. Somit sei dem Spenglerschen Wert ein heuristischer Wert nicht abzusprechen. Aber eben hier zieht sich die Grenze des historischen Materialismus zu Spengler Kultursystematik.

Ein erstes Indiz ist, dass Spengler seine modernen Nachfahren gerade nicht im Marxismus und nicht einmal im russischen Nationalismus finde, sondern in liberalen amerikanischen Propagandisten wie Samuel Huntington. Dieser verwarf die Vorstellung Fukuyamas einer durch eine globale Konsumkultur konvergierenden Welt und damit ein „Ende der Geschichte“ zugunsten eines „Kampfes der Kulturen“. Der historische Materialismus hingegen erkennt in den verschiedenen Ausprägungen des Kapitalismus die vereinheitlichende Kraft gleicher Produktionsverhältnisse, die Menschen in aller Welt in gleiche Klassenlagen versetzten. Von diesem Punkt aus gehe es gar nicht darum, eine solche Bewegung zu begrüßen oder abzulehnen, sondern sie zur Kenntnis zu nehmen. Spengler werde heute aber gerade daran gemessen, welchen moralischen Standpunkt seine Rezipienten zu dieser Entwicklung einnehmen. Insbesondere Parteigänger des westlichen imperialistischen Kapitals hätten ein Interesse an der globalen Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise und lehnen daher Spengler für sein Differenzdogma vehement ab. Die Befürworter Spenglers hingegen möchten diese Differenz erhalten wissen, etwa weil sie als Vertreter des Kleinkapitals mit regionalen Produktionsketten in Konkurrenz zu den global agierenden Konzernen stehen, ohne sich der Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens bewusst zu sein. In unterschiedlicher Haltung zu Spengler repräsentierten Fukuyama und Huntington jedoch nur verschiedene Seiten eines amerikanischen Zentrismus, dessen Geltung sich entweder durch grenzenlose Ausdehnung oder eben durch klar eingegrenzte Definition ergibt. Der sich selbst verwertende Wert muss jedoch sämtliche Grenzen sprengen, egal ob nationale, ökologische oder globalökonomische.

Imperialismus als Widerlegung Spenglers

Spengler stellte seinerzeit die These auf, dass sich die westliche Zivilisation seit Ende des Erstens Weltkriegs auf Grund ihres Eintritts ins Greisenalter nicht mehr entwickeln werde. Dzarasov verneint diese These rückblickend energisch. Stillstand könne man dem imperialistischen Zentrum keineswegs nachsagen. Allerdings sei es so, dass der globale Süden langsam aufhole. Für den oberflächlichen Beobachter mag es so scheinen, als ob die Zyklentheorie Spenglers hier belegt werde, aber gerade seine Prämisse einer unabhängigen Entwicklung der Kulturen kann die momentane Weltlage nicht erfassen. Dazu führt Dzarasov aus.

In den 70er Jahren habe die Stagflation der Industrie in den entwickelten kapitalistischen Ländern dazu geführt, dass produktive Kapazitäten abgebaut und in Billiglohnländer transferiert wurden, während man den Dienstleistungssektor stärkte. Die Verlagerung der umweltschädlichen und arbeitsintensiven Industrie in den globalen Süden bei gleichzeitiger Abführung der Profite in die Zentren führte zu einer ungeheuren Steigerung der Akkumulation von Kapital, dessen wahres Ausmaß durch die Wechselkurspolitik der USA verschleiert wurde. Diese Akkumulation führte dazu, dass die Gesamtnachfrage zunehmend das Gesamtangebot nicht mehr bedienen konnte, wodurch überschüssiges Kapital in den Finanzsektor floss, etwa um durch Konsumkredite die Nachfrage vorübergehend zu beleben. Dies funktionierte allerdings nur vorübergehend und die Überausbeutung der Peripherie behinderte zusätzlich eine Ausbildung der Nachfrage auf diesen Märkten. Da allerdings die technologische Entwicklung in Indien, China und anderen Ländern große Teile der Bauernschaft proletarisierte, habe es zunehmend kaum noch Möglichkeiten des Kapitals gegeben, durch urprüngliche Akkumulation zu wachsen, sondern nur noch auf Kosten konkurrierender Nationen. Die Widersprüche zwischen den USA und der EU auf der einen Seite, sowie Russland und China auf der anderen, verschärften sich. Die zunehmende Ineffizienz der Exportstrategie führt zunehmend zur Überlegungen über die Isolierung Chinas und Russlands. Allerdings stünden die westlichen Akkumulationsregime ohne den Zufluss billiger Arbeit aus China und billiger Rohstoffe aus Russland vor erheblichen ökonomischen Problemen, die eine Zuspitzung der Klassenkämpfe bewirke.

Dzarasov urteilt abschließend, dass der momentane ökonomische Niedergang des Westens und der gefühlte Aufstieg des globalen Südens eben nicht mit isolierten Kulturen kohärent erklärt werden können, sondern gerade mit den Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaften auf unterschiedlicher Entwicklungsstufe. Es ist auch nicht so, dass nur der Westen an eine Stufe gekommen ist, an dem die Produktionsverhältnisse den Produktivkräften nicht mehr genügen und zu sprengen drohen, sondern von der stockenden Kapitalakkumulation seien viele Länder in allen Teilen der Welt betroffen. Unter der Oberfläche eines Kampfes der Kulturen verbirgt sich also eine dichtes Netz aus Beziehungen, dessen Analyse mit Oswald Spenglers Geschichtsmorphologie nicht zu leisten ist.

Zusammenfassung

Sollten sich nun Marxist*innen mit Spengler auseinandersetzen, so wie Dzarasov es gemacht hat? Das kommt darauf an, zu welchem Zweck. Von Spengler selbst gibt es nichts zu lernen, was man nicht auch aus dem historischen Materialismus und der Kritik der politischen Ökonomie, sowie ihrer Anwendung auf die imperialistische Weltgesellschaft lernen könnte. Man kann jedoch anhand von Spengler hervorragend trainieren, in welchen Strukturen die Resultate des Imperialismus erscheinen und wie man ihnen inhaltlich begegnen kann, ohne den Kritisierten einfach moralisierend in eine rechte Ecke zu stellen. Das muss man nicht an Spengler trainieren, kann es aber. Es gäbe jedoch genug andere und in Deutschland relevantere Philosophen und Historiker, deren Ideologie man ähnlich wie Dzarasov aus der imperialistischen Wirklichkeit und ihrer Stellung in dieser ableiten könnte.

Literatur:

Dzarasov, R. (2024): Oswald Spengler und “Der Untergang des Kapitalismus” (orig.: Освальд Шпенглер и «закат капитализма»). In: Fragen der politischen Ökonomie. (orig.: Вопросы политической экономии). Jahrgang 38. Ausgabe 2. S.46-59.

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