Rezension: Spezialoperation und Frieden (Ewgeniy Kasakow)

⋄ Nicht nur die deutsche Linke ist hinsichtlich ihrer Position zum Ukraine-Krieg gespalten, auch die russische Linke vertritt sehr diverse Positionen.

⋄ Ewgeniy Kasakow hat in seinem neuen Buch “Spezialoperation und Frieden” die kriegsfeindliche Linke näher unter die Lupe genommen.

⋄ Er zeigt, dass es sowohl im sozialdemokratischen, systemkommunistischen, linksstalinistischen, trotzkistischen, anarchistischen und feministischen Spektrum Kriegsgegner*innen gibt.

⋄ Durch Überblicksdarstellungen, Interviews und übersetzte Originalquellen führt Kosakow in die stark fragmentierte russische Linke ein.

⋄ Daneben stellt er in einführenden Essays “falsche Fragen”, um sie richtig zu beantworten.

Russland ist ein Land, in dem es offiziell keine Kriegsbefürworter*innen gibt. Denn es gibt offiziell keinen Krieg. Kundgebungen für die Spezialoperation zu organisieren, ist ebenfalls nicht erwünscht. Politischer Aktivismus würde ja bedeuten, es handle sich um eine große Sache. Es ist für dem Kreml aber keine große Sache. Doch auch, wenn es weder Krieg noch Kriegsfreunde in Russland gibt, es gibt Kriegsgegner*innen. Auch wenn diese erst recht nicht protestieren dürfen. In einem Land, in dem jeder um die Wahlmanipulationen und die staatliche Propaganda weiß, kratzt jede Unmutsäußerung an einem Regime, dass sich aus der vermeintlichen „völligen Übereinstimmung zwischen dem Willen der Führung und jenem der Staatbürger*innen“ (S.13) legitimiert.

Die russische Linke befindet sich dabei in einem besonderen Spannungsfeld. Auf der einen Seite steht sie in Opposition zu Putin, und sei es nur innenpolitisch wie die KPRF. Auf der anderen Seite sind die Interessen des westlichen Imperialismus in der Ukraine (was nicht bedeuten soll, dass die NATO den Krieg angefangen habe) zu offensichtlich, um sich ohne Bauchschmerzen auf die Seite Kiews zu stellen. Und wenn man ehrlich ist, steht der Volkskrieg gegen die herrschenden Klassen in beiden Ländern gerade nicht auf der Tagesordnung.

Ewgeniy Kasakow hat in seinem Buch Spezialoperation und Frieden die Positionen der linken Kriegsgegner*innen zusammengetragen. Dazu hat er Interviews geführt, Quellen ausgewertet und die Geschichte einer zersplitterten politischen Bewegung aufgerollt. Herausgekommen ist eine Mischung aus politischer Enzyklopädie, Essaysammlung und kommentiertem Zeitgeschehen.

Was ist das für ein Buch?

Wie ist Kasakow zunächst an seinen Gegenstand herangegangen? Würde man das Buch wie ein Gedicht in der Schule analysieren, dann folgt es dem Schema: A-A-A-B-C-B-C… wobei Teil A einführende Essays sind, die quasi das Konzentrat der Arbeit darstellen. Diese Essays stecken den allgemeinen theoretischen Rahmen ab. Schon allein der klammernde Titel der Essays „Ein Versuch, richtige Antworten auf falsche Fragen zu finden“ deutet an, dass das Buch gerade in der Einführung sehr unterhaltsam geschrieben ist. Ohne gekünstelt zu wirken, findet die Sprache meist den richtigen Weg zwischen Prägnanz und Originalität, um weder zu flappsig, noch zu akademisch zu wirken. Nach der Einführung geht Kasakow immer abwechselnd auf die einzelnen Strömungen der politischen Linken in Russland – Sozialdemokratie und Linkssozialismus, KPRF, Linksstalinismus, Trotzkismus, Anarchismus, Feminismus – ein, indem er zuerst einen darstellenden Text zur historischen Entstehung und aktuellen Positionierung voranstellt und dann mit Vertretern der jeweiligen Strömungen Interviews führte und Originaltexte dokumentierte. In den Darstellungen erwartet die Leser*in Namedropping vom Feinsten und ein Geflecht aus kleinen und kleinsten Gruppen, die sich immer mal wieder in neuen Konstellationen zusammenfinden. So erfährt man, dass Alexander Dugins Ex-Frau eine der Vorreiterinnen des lesbischen Feminismus in Russland war oder dass einst bedeutende Anarchisten heute für „Einiges Russland“ in der Duma sitzen. Am Ende glaubt man, den Namen jedes Linken in ganz Russland mindestens einmal gehört zu haben. Die Interviews zeichnen sich durch gut recherchierte und sinnstiftende Fragestellungen aus, die wenig Rückzug auf allgemeine Phrasen zulassen.

Was ist in Russland links?

Das erste inhaltliche Problem eines solchen Buches ist die Definition, was denn überhaupt links ist. Würde man einfach den westlichen Begriff auf Russland anwenden, dann blieben nur wenige recht versprengte Gruppen übrig. Kasakow benutzt ein sehr inklusives Verständnis: für ihn eint die naxalitische Guerillera mit dem Parteifunktionär in Nordkorea, dass alle die Vorstellung teilten, dass sich die Gesellschaft durch kollektive und willentliche Veränderungen im Interesse der Mehrheit ihrer Mitglieder organisieren ließe. Dass völkische Ansätze hierin mit eingeschlossen wären, kann man kritisieren, ist aber durchaus so gewollt. Man muss berücksichtigen, dass auch der Modus des Völkischen nur eine politische Reflexion der objektiven und spezifischen Klassenverhältnisse ist, der vielleicht theoretisch transzendiert werden kann, aber eben dennoch seiner Erklärung anstatt moralischer Verurteilung bedarf.

Weiterhin bedarf es einiger Worte darüber, warum die Linke in Russland so aussieht, wie sie es tut. Zwei Motive sind zur Erklärung zentral: erstens die Öffnung der politischen Landschaft im Zuge der Perestroika samt Zerfall der KPdSU und zweitens die liberale Schocktherapie unter Jelzin in den 90er Jahren. Innerhalb dieser Prozesse galten mal die Parteigänger*innen Gorbatschows als links und die Traditionalisten als rechts. Später waren die Liberalen die Rechten und die Befürworter*innen staatlicher Regulation die Linken. Das führte dazu, dass die Linken der 80er Jahre die Rechten der 90er Jahre wurden und umgekehrt. Die Ära Putin würfelte nochmal alles durcheinander. Prinzipiell lässt sich hier in linke „Systemopposition“ unterscheiden und prinzipielle Putingegner*innen. Die Systemopposition teilt in der Regel den harten Kurs gegen die NATO, sieht trotz der gelenkten Demokratie einen Vorteil im reinen Bestehen eines staatlichen Gewaltmonopols und warnt, dass ohne Putin längst „prowestliche Liberale/ totalitäre Kommunisten/ korrupte Oligarchen/ extreme Nationalisten oder Fundamentalisten die Macht übernommen.“ (S.25) hätten.

In diesem Kontext bewegt sich auch Kasakows amüsanteste der „falschen Fragen“: ob Putin links sei. Tatsächlich scheint es die Stärke Putins zu sein, dass er mit Einiges Russland einen ideologischen Selbstbedienungsladen geschaffen hat und in dem es auch linke Versatzstücke gibt. So habe nicht die KPRF Putins Sprache übernommen habe, sondern umgekehrt. Und Putin halte große Stücke auf den Föderalismus, der rechten Nationalisten wiederum nicht passt. Auf der anderen Seite ist wohl keine Partei so sehr von den Wahlmanipulationen betroffen, wie die KPRF. Was Nawalnys Smart Voting den Kommunisten an neuen Stimmen bringt, zieht ihnen der Kreml an der digitalen Urne gleich wieder ab. Innenpolitisch steht die KPRF daher teilweise in scharfer Opposition z.B. zur Rentenreform oder zum gigantischen Gentrifizierungsprojekt in Moskau. Dass darüber hinaus an die westliche Linke orientierte Organisationen Traditionalismus, Sexismus, Homophobie, Militarismus und fehlende Demokratie anprangern, ist da fast selbstredend.

Die russische Linke und der Krieg

Die Linke kann sich die Positionierung auf Seiten der Ukraine nicht ganz so leicht machen wie die Liberalen, deren Wohlfühlzone ohnehin liberale Nationalstaaten sind und denen daher das Parteiergreifen nicht schwer fällt. Linke wollen hingegen gerade die Logik von konkurrierenden Nationalstaaten überwinden und können da nicht einfach NATO und EU Beifall klatschen. Es müssen also für Kriegsgegner*innen andere Narrative gefunden werden, um die Opposition zum Krieg zu begründen. Antimilitarismus alleine bringt da auch nicht weiter, da dies ja auch eine Entsolidarisierung mit der Ukraine bedeuten würde. Bei der Begründung mit dem Imperialismus muss auf das Imperialismuskonzept geachtet werden, das entweder die Ukraine als angegriffenes Land des imperialistischen Russlands oder als Teil der NATO nur Stellvertreter des westlichen imperialistischen Blocks sieht. Differenzen gibt es auch darüber, wie die Ukraine innenpolitisch bewertet wird und insbesondere bei russischen Organisationen kommt es da darauf an, welche Kontakte man vorher nach Kiew oder in den Donbass pflegte. Diese drei Fragenkomplexe werden von den unterschiedlichen Richtungen unterschiedlich beantwortet.

Der Widerstand der Linken, die sich gegen den Krieg positioniert haben, lässt sich dabei grob in zwei Phasen unterteilen. In den ersten Wochen waren noch Kundgebungen und offene Briefe gegen den Krieg möglich. Nachdem sich jedoch abzeichnete, dass der Krieg etwas länger dauern würde, zog der Kreml an der Repressionsschraube, sodass heute der Protest ins Internet, in die Emigration, auf implizite Formen (wie Auswanderung oder Wehrverweigerung) und auf klandestine Aktionen verlegt werden musste. Die linken Kräfte hinken dabei in der internationalen Vernetzung den Liberalen und den nationalistischen russischen Kräften hinterher, was nicht zuletzt in der politischen Spaltung der internationalen Linken begründet liegt.

Überblick über die Reaktionen der russischen Linken

Die Sozialdemokratie und der Linkssozialismus haben sich spätestens mit dem Kampf ums Weiße Haus 1993 organisatorisch wie theoretisch ins Tausendste zersplittert, sodass ihnen keine einheitliche Position zu entnehmen ist. Dazu kommt, dass große Teile in Einiges oder Gerechtes Russland aufgefangen wurden. Man könnte ihre Kritik als technisch bezeichnen, indem sie die Invasion als nicht gerechtfertigtes oder nicht geeignetes Mittel eines in Teilen legitimen Anliegens ansehen. Ebenso plural ist die Kriegsgegner*innenschaft in der KPRF begründet. Hierzu muss man wissen, dass viele linke Aktivist*innen auf den Listen der KPRF antreten, da Parteineugründungen äußerst schwierig sind und kaum Erfolgsaussichten haben. Diese Kandidat*innen gehören zwar nicht formal der Partei an, wirken aber in diese hinein und haben so linkssozialistische Positionen in die ansonsten mit Putin außenpolitisch versöhnte Partei getragen. Den Linksstalinist*innen – in Deutschland würde man diese Organisationen wohl als dogmatische Kommunist*innen bezeichnen – ist besonders Putins Kritik an Lenin sauer aufgestoßen. Dieser Flügel erwartet am wenigsten von einer demokratischen Öffnung Russlands, sondern kritisiert Putin eher in seinen konkreten Taten für das Kapital. Über die Frage des Krieges haben sich zwar fast alle Organisationen zerstritten, allerdings hat deren starker Blogger- und Vlogger-Flügel sich fast einhellig zur Kriegsgegner*innenschaft bekannt.

Das trotzkistische Lager Russlands ist nicht anders strukturiert als anderswo auf der Welt. Auffällig hier ist, dass wohl niemand so stark wie die Trotzkist*innenen eine direkte Hilfe für die Ukraine propagierten, da sie den Krieg hier als antiimperialistischen Kampf ansahen. In ihren jeweiligen Internationalen führte dies zu heftigen Konflikten mit den westlichen Sektionen, die Gelder lieber für Schulen als für Waffen ausgegeben sahen. Auch die anarchistische Bewegung wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Sie spaltete sich in die antimilitaristische und die „Schützengraben“-Fraktion. Die russische Besonderheit ist, dass sozialrevolutionäre Traditionen, wie anarchokapitalistische Strömungen wesentlich einflussreicher sind als in Deutschland. Jedoch gelang es anarchistischen Gruppen auch, militante Aktionen zu organisieren. Der feministischen Bewegung hingegen reagierte sehr geeint auf den Ukraine-Krieg. Sie war ohnehin bereits stark mit dem Westen vernetzt und sah Putin aus innenpolitischen Gründen bereits als den größten Feind an. Damit konnte sie eine Scharnierposition zwischen linker und liberaler Putin-Kritik einnehmen.

Kritik

Natürlich könnte man die Auswahl, Gewichtung und Bewertung der Organisationen als nicht adäquat ansehen. Aber Kasakow macht erstens deutlich, dass auf Grund der Nutzung der persönlichen Kontakte ein subjektiver Faktor unumgänglich ist und zweitens unter den Bedingungen der Pressezensur eben auch nicht jeder nach seinem “gerechten” Anteil verfügbar ist.

Das Buch hat jedoch seine sehr klaren Grenzen. Es handelt sich um Darstellungen der organisatorischen Erscheinungsformen. Dem Verständnis hätte es sehr geholfen, wenn die polit-ökonomische Basis, die den beschriebenen Prozessen zu Grunde lag, mit berücksichtigt gewesen wäre. Die Theoriebildung der russischen Linken erfolgt unter den konkreten Bedingungen eines starken peripheren/ schwachen imperialistischen Landes und eben nicht auf Grundlage eines imperialistischen Kernlandes wie Deutschland. Würde man dies explizieren und spezifizieren, wirkte vieles weniger nach Freakshow.

Kleinere Probleme gibt es weiterhin in der begrifflichen Klärung. Wenn man zum Beispiel die Behauptung aufstellt, dass der Maidan kein faschistischer Putsch gewesen sei, – obwohl bei diesem Kapitalfraktionen ihre Interessen aber auch mit Hilfe bewaffneter, faschistischer Verbände durchsetzten -, dann wäre eine Definition des Faschismus-Begriffs hilfreich gewesen. Es wird leider auch nicht konkretisiert oder problematisiert, was der Maidan denn dann gewesen sei. Häufig sagt Kasakow auch, dass bestimmte Parteien keine „linken Parteien im westlichen Sinne“ seien. Auch hier muss man kritisch fragen, ob das Konzept „westliche Linke“ als nicht zu kommensurabel für die kapitalistische Herrschaft gedacht wird und ob die Debatte, was unter links zu verstehen sei, nicht über Gebühr geglättet wird. Ob weiterhin jede im Buch als Fake-Partei benannte Organisation wirklich eine ist, kann man diskutieren. Der Streit um die sozialdemokratische Ausrichtung der KPRF, welcher der Gründung der „Kommunisten Russlands“ voranging und die oppositionelle politische Herkunft der Spaltungsgruppe aus dem ZK waren schon real, auch wenn der Kreml der Parteigründung sicher nicht ohne Eigennutz der Parteigründung keine Steine in den Weg gelegt hat.

Zusammenfassung

Ewgeniy Kosakows „Spezialoperation und Frieden“ ist ein kleines Stück Russland für den eigenen Bücherschrank. Weit weg von Dämonisierung oder falscher Kohärenz, zeichnet Kosakow die Konturen einer aktiven, meinungs- wie analysenstarken und unendlich zersplitterten Bewegung nach. Das Gemisch aus Multiethnizität und zwei politischen Umbrüchen innerhalb von drei Jahrzehnten haben eine Bevölkerung hinterlassen, die entweder politische Entwicklungen und Theorien aufsaugt wie ein Schwamm oder vor dieser Komplexität in die Depolitisierung geflüchtet ist. Man versteht, warum Putin eben kein Faschist ist. Faschismus setzt viel zu viel Homogenität voraus. Putins Macht speist sich aus der Angst vor Alternativen.

Doch kann es für Russland linke und progressive Alternativen geben? Gibt es Perspektiven eines neuen Zimmerwalds? Das wird man nur dem Kaffeesatz entnehmen können. „Spezialoperation und Frieden“ orientiert sich aber an dem, was ist, nicht an Wünschen, was sein könnte. Und damit ist das Buch leider eine Ausnahme in der linken Publizistik. Es leistet, was es leisten kann: einen sprachlich hervorragenden, top recherchierten und problemorientierten Aufriss eines aktuellen Themas der Linken. Geld und Zeit für dieses Buch sind bestens investiert.

Literatur:

Kosakow, E. (Hrsg., 2023): Spezialoperation und Frieden. Die russische Linke gegen den Krieg. Münster: Unrast.

Bei 99 zu Eins hat Kasakow ein Interview gegeben, in dem er die wichtigsten Aspekte seines Buches zusammenfasst (https://www.youtube.com/watch?v=UxohPUNGrxY&t=7s). Man sollte jedoch anmerken, dass das Buch wesentlich sachlicher geschrieben ist als Kosakow im Interview formuliert, wo er durch sprachliche Akzentuierung etwas mehr Wertung einfließen lässt.

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