Zwischen Nützlichkeit und Eigensinn: Simon Schaupps „Stoffwechselpolitik“

⋄ SImon Schaupp hat in den letzten Jahren viele interessante Studien und Beiträge zur Digitalisierung, Ökologie und Arbeitssoziologie verfasst.

⋄ Seine neue Monographie „Stoffwechselpolitik“ beschreibt den breiteren theoretischen Rahmen, in dem sich Schaupps Forschung verortet.

⋄ Er analysiert hierbei die Stoffwechselprozesse zwischen Mensch und Natur mit den begrifflichen Instrumentarien Nutzbarmachung, ökologischer Eigensinn und Re/produktivkräfte .

⋄ Das Buch ist ein unterhaltsamer und anekdotenreicher Überblick über die Geschichte der Dialektik zwischen Kapitalismus und Natur.

⋄ Debatten und Widersprüche werden jedoch stets nur angerissen und operationalisierbare Lösungsansätze fehlen.

Simon Schaupp ist einer der Shootingstars der zeitgenössischen deutschsprachigen Soziologie. Das liegt nicht nur am Umfang seiner jüngeren publizistischen Tätigkeit in den vergangenen Jahren, die eine beeindruckende Bandbreite aufweist und dass er mit den Themen Digitalisierung, Arbeitssoziologie und Ökologie drei moderne Kassenschlager bearbeitet. Auch die theoretische Qualität, die methodische Kreativität und der Umfang an Querverweisen, Verknüpfungen und Beziehungen, die in seinen Texten aufgemacht werden, beeindrucken. Neben Klaus Dörre und Oliver Nachtwey ist er auf dem Gebiet der linken akademischen Soziologie vermutlich aktuell einer lesenswertesten deutschsprachigen Autoren.

Nun hat Simon Schaupp mit „Stoffwechselpolitik“ eine Monographie vorgelegt, die seine bisherigen Arbeitsgebiete in einem umfassenderen Konzept zusammenführt. Das Buch erschien vor etwa einem Monat bei Suhrkamp und wurde von den Feuilletons sehr wohlwollend aufgenommen (z.B. hier). Eine Rezension.

Natur und Nutzbarmachung

Schaupps Buch ist sowohl ein historischer als auch thematischer Abriss aller Aspekte, die man unter dem Stoffwechsel von Mensch und Natur unter den Bedingungen der kapitalistischen Verwertung verstehen kann. Um etwas Ordnung in dieses riesige Feld zu bringen, arbeiten wir den Gang des Buches an den drei zentralen begrifflichen Analysewerkzeugen Schaupps ab, der Nutzbarmachung, dem ökologischen Eigensinn und der Re/produktivkräfte.

Unter der Nutzbarmachung ist in etwa die stoffliche Seite der ursprünglichen Akkumulation zu verstehen. Die Trennung der Menschen von den Grundlagen ihrer Reproduktion ließ die Natur als Mittel der Reproduktion nicht unverändert zurück. Doch bereits der Begriff der Natur erweist sich als knifflig. Eine starre Dychotomie zwischen vom Menschen Geschaffenen und Nichtgeschaffenem lässt sich kaum konsequent durchziehen, da selbst, wo der Mensch nicht in die Natur eingreift, der Nichteingriff menschlicher Wille ist. Bei näherem Hinsehen gibt es so etwas wie unberührte Natur saher nicht mehr. Etwas weiter bringt der Ansatz über die Autonomie. Natur als etwas zu begreifen, das einfach nicht den menschlichen, sondern eigenen Regeln unterliegt, klingt etwa mit Blick auf die schreckliche Autonomie von Naturkatastrophen schlüssig. Die Probleme entwachsen hier wieder den Rändern. Ist das Wachstum einer Nutzpflanze noch autonom oder bereits menschlich gestaltet?

Daher wird der Begriff der Nutzbarmachung so zentral. Was nützlich ist, wird gesellschaftlich definiert. Die gesellschaftliche Definitionsmacht besitzt nach Marx die herrschende Klasse. Und damit definiert diese nach den eigenen Nützlichkeitskriterien, was ihr Natur ist und was nicht. Was außerhalb dieser Nützlichkeitslogik steht, kann somit aus einer gesellschaftlichen und weniger biologischen Sichtweise als Natur bezeichnet werden, wodurch der Naturbegriff gleichsam Angelpunkt der Gesellschaftskritik wird. So oder ähnlich mäandert der Gedanke durch das Buch voller historischer Anekdoten und theoretischer Ausflüge.

Ökologischer Eigensinn

Der interessanteste Aspekt in Schaupps Buch ist sicher die Ausarbeitung des ökologischen Eigensinnes der Natur in allen Phasen und Bereichen der kapitalistischen Entwicklung. Der Begriff des ökologischen Eigensinns macht eine Dialektik zwischen den abstrakten Gesetzen der kapitalistischen Profitmaximierung und den konkreten Stoffen, die bei dieser bearbeitet werden, auf. Dialektisch deshalb, weil sich der kapitalistische Produktionsmodus nie als Verwirklichung eines abstrakten theoretischen Konzeptes herleiten lässt, sondern immer nur als Antwort auf die vorgefundenen Naturbedingungen: den Boden, die unverarbeiteten Rohstoffe, die menschlichen Körper.

Schaupp dehnt den Begriff des ökologischen Eigensinns sehr spannend auch auf den Widerstand der Arbeiter*innenklasse gegen das Kapital aus, interpretiert also proletarischen Eigensinn als ökologischen. Und dafür bringt er viele schlagende Beispiele. Bereits der ganz klassische Kampf um die Länge des Arbeitstages ist hier ein Kampf der Arbeiter*innen um einer der menschlichen Natur angemessenere Arbeitszeit. Wenn wir uns vorstellen, dass noch im Feudalismus etwa halb so viel gearbeitet wurde wie heute, dann scheint der Mensch nicht auf Acht-Stunden-Tage in 40 Stundenwochen ausgelegt zu sein. Aber auch die Maschinenstürmerei gegen die absolut rhythmischen und beschleunigbaren Apparate können als Kampf gegen die Verstümmelung menschlicher Autonomie und Kreativität verstanden werden. Für die jüngere Vergangenheit führte Schaupp Interviews mit Schweizer Bauarbeiter*innen an, die genau wissen, was ihren Körpern und ihrer Umwelt angetan wird.

Entfremdung ist in diesem Sinne der Verlust des menschlichen Eigensinns. Der menschliche Körper muss sich an den Arbeitsgegenstand anpassen muss und entäußert sich damit. Aber der Körper besitzt eben auch eine natürliche Autonomie. Egal, ob es die Masse eines Stahlträgers – also die Autonomie der Masse für eine bestimmte Festigkeit des Baustoffes – oder die Masse eines zu Pflegenden im Altersheim ist. Der Körper de*r Arbeiter*in bildet eine natürliche Grenze der ihm zumutbaren Lasten und die Bestimmung dieser Grenze ist nichts anders als der biologische Ausdruck des Klassenkampfes. Eine solche Betrachtung bietet natürlich ein hervorragendes Vehikel für das Zusammendenken von ökologischen und Arbeitskämpfen.

Re/produktivkräfte

Wortverkomlizierungen sind sprachliche Stolpersteine, die zum Nachdenken anregen sollen. Genderformen mit Sonderzeichen sind wohl das populärste Beispiel. Schaupp bedient sich eines solchen stilistischen Mittels beim Begriff der „Re/produktionskräfte“. Das soll auf die Einheit von Einheit und Verschiedenheit der Produktions- und Reproduktionsarbeit referieren. Das ist so gemeint, dass nicht nur die Reproduktionsarbeit im Sinne von Geburt und Erziehung der Bourgeoisie den den aktuellen Akkumulationsbedürfnissen entsprechenden proletarischen Nachwuchs hervorbringt, sondern dass die Produktion selbst sich ihre Arbeiter*innen mit den passenden Körpern und Psychen schafft.

Hierzu zählt aber auch, dass Naturstoffe ihre Rolle in der Produktion und Reproduktion wechseln können. Schaupp führt hier die Geschichte des Ammoniaks als Beispiel an. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Kapazitäten zur Herstellung dieser für Sprengstoff bedeutsamen Chemikalie in den USA massiv hochgefahren. Nach Ende des Krieges sank natürlich die Nachfrage nach Sprengstoff, während die Ammoniakfabriken aber nun mal standen. Aus einem Produktionsmittel wurde nun ein Reproduktionsmittel: Dünger. Durch den plötzlich sehr billig zur Verfügung stehenden chemischen Dünger explodierte die Weizenproduktion. Es wurde mehr produziert, als in den USA verzehrt werden konnte, sodass die Lebensmittelexporte stiegen und andernorts subsidäre Ernährungssysteme zerstört wurden.

Damit setzte der Imperialismus eine koloniale Tradition fort. Herrschaft durch Veränderung der Ökosysteme. So wurden die sehr diversen und robusten Ernährungsregime der amerikanischen Indigenen zugunsten von Monokulturen, den so genannten Cash Crops zerstört. Während die Kolonisatoren die ausgeklügelten Mischpflanzensysteme für Exportpflanzen zerstörten, wurde die Zivilisationsunfähigkeit der Indigenen später mit der Unfähigkeit begründet, sich selbst ernähren zu können. Dabei waren es die Produkte der Kolonisatoren, welche nicht nur die Resilienz gegenüber Naturkatastrophen senkten, sondern auch die Wahrscheinlichkeit für Hungersnöte steigen ließen. Und nicht zuletzt kommodizifierte die koloniale Exportlandwirtschaft die Ware Arbeitskraft überhaupt erst. Wer essen wollte, konnte nicht mehr in die Wälder gehen, sondern musste entsprechende Produkte kaufen und seine Arbeitskraft selbst für Lohn verkaufen.

Und natürlich trennte die Produktion selbst erst Produktion und Reproduktion. Während in bäuerlichen vorkapitalistischen Gesellschaften die Arbeit unter den Mitgliedern einer Familie entsprechend den Gebrauchswertbedürfnissen verteilt wurde und die Kinder durch die Integration in alle Abläufe erzogen wurden, schuf erst die Trennung von Arbeit und Haushalt den Bedarf nach separaten Erziehungseinrichtungen. Damit wurde aber auch erst die Unterordnung der Reproduktionsarbeit unter die Produktion geschaffen und damit das kapitalistische funktionale Patriarchat durchgesetzt.

Kritik

Stoffwechselpolitik ist unheimlich spannend zu lesen. Man möchte am liebsten immer jemanden neben einem sitzen haben, dem man instantan von dieser oder jenen Geschichte aus der Geschichte erzählen möchte. Es stellt kreative und fruchtbare Verbindungen zwischen Theoretiker*innen unterschiedlichster Couleur her. Wer Dietmar Daths Implex oder Maschinenwinter oder Silvia Federicis Caliban und die Hexe mochte, der wird auch an diesem Buch Gefallen haben. Allein, das Buch ähnelt ein wenig seinem Thema. Es ist etwas widerspenstig gegenüber der genauen Bestimmung seines Nutzens.

In Anbetracht der exponentiell zunehmenden klimatischen Krisen und der sich immer gewalttätiger zuspitzenden imperialistischen Krisen, streut das Buch die Debatte breit, anstatt sie zusammenzuführen. Während die gesamte Darstellung die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und einem nachhaltigen Reproduktion der Natur nahelegt, funktionieren wiederum Argumente, wie die Tatsache, dass die Bewältigung der sich verändernden klimatischen Bedingungen 0,8% der jährlichen Arbeitszeit auffressen, dann doch nur systemimmanent. Die Totalität des Themas auszurollen, ist unterhaltsam, aber doch weitestgehend bekannt. Gefragt wäre angesichts der begrenzten Zeit die Suche nach den Hebeln, um sie zu verändern. Irgendeine Ideologie der lustvollen Nutzlosigkeit, wie sie zum Ende des Buches durchscheint, kann hier jedenfalls kein ernst gemeinter Beitrag sein.

Der fehlende Kompass des Buches manifestiert sich auch darin, dass die Zielgruppe des Buches nicht so ganz klar wird. Während Schaupp auf der einen Seite für bestimmte Argumente sehr anschauliche und ausführliche historische oder politische Beispiele benutzt, referiert er andernorts mit bestimmten Begriffen auf Debatten, die man schon kennen muss, um die Logik zu verstehen. Arbeiter*innen als revolutionöres Subjekt schließt das Buch damit eher aus.

Und letztendlich hätte das Buch auch auf das ein oder andere Seitengleis verzichten können. Es hätte den kurzen Ausflug in die Kybernetik wirklich nicht gebraucht und das Buch hat zahlreiche Leerstellen offen gelassen, die man an dessen Statt hätte füllen können. Denn ausdekliniert werden die vorgebrachten Gedankenstränge nirgends. Diskursstränge bleiben in der Regel offen und Widersprüche unentschieden, sodass das Buch das Misstrauen gegenüber soziologischer Beliebigkeit ein wenig mit nährt. Natürlich kann ein Buch keine eierlegende Wollmilchsau sein und eine solche Kritik wird dem eigenen Anspruch des Buches vielleicht nicht gerecht, aber wer es lieber In-Depth mag, der wird mit Stoffwechselpolitik eben weniger anzufangen wissen.

Zusammenfassung

„Stoffwechselpolitik“ von Simon Schaupp ist ein geschliffener Schmuckdiamant, der seinen Gegenstand in allen Regenbogenfarben schillern lässt. Die Frage ist aber, ob es heutzutage nicht eher den Diamantmeißel braucht, um die Verhältnisse aufzubrechen. Meinen persönlichen Mehrwert schafft das Buch durch die Darstellung, welchen komplexen Kontext Schaupp in seiner sonstigen Forschung mitdenkt. Denn das macht Freude darauf, weitere Detailstudien von ihm zu lesen.

Literatur:

Schaupp, S. (2024): Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten. Berlin: Suhrkamp.

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