„hängt von der Kulturstufe eines Landes ab“: an den Grenzen des historischen Materialismus

Es gibt wesentlich mehr Theoretiker*innen und Wissenschaftler*innen, die sich positiv auf Katrl Marx beziehen als auf den historischen Materialismus. Was auch immer die Gründe seien. Sie stellen marxistische Historiker*innen vor ein Problem. Auf welche Empirie und welche modernen theoretischen Grundlagen kann man seine Forschung stellen, wenn es kaum historisch-materialistisch arbeitende Kolleg*innen gibt. Kann man vielleicht in der ökonomischen Anthropologie etwas räubern?

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Militanter Öko-Engelsismus in Südamerika

Die Dialektik der Natur von Friedrich Engels feiert in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag. Während die Manuskripte natürlich weitaus eher entstanden, brachte das Marx-Engels-Institut in Moskau das komplette Werk erst 1925 heraus und seitdem hat sich eine lebhafte Debatte um dieses Werk entfacht. Martín Arboleda von der Universidad Diego Portales in Santiago de Chile zeichnete die Rezeptionsgeschichte der Dialektik der Natur, sowie anderer Engelsscher Werke in Südamerika nach. Insbesondere die Ausbeutung der Natur durch den Kolonialismus und die eigentlich zu frühe gekommene kubanische Revolution lenkten das Interesse immer wieder auf Engels.

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Paschukanis in Form gebracht

Eugen Paschukanis war neben den Grundrissen eine der großen (Wieder)Entdeckungen der Neuen Linken. Nach dem Sieg der Roten Armee über den Hitlerfaschismus war es der bundesrepublikanischen Bourgeoisie gelungen, einen integrativen Staat aufzubauen, der große Teile der Arbeiter*innenklasse das erstmals ideologisch vereinnahmen konnte. Der schwedische Menschenrechtsforscher Carl Wilen versuchte in der Capital & Class, Paschukanis‘ Ansatz neu zu systematisieren. Er unterschied nicht nur logische und historische Form des Rechts, sondern auch die verschiedenen Abstraktionsebenen, um sie in einen gemeinsamen dialektischen Kontext zu setzen.

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Zur Dialektik des Zionismus

Die Bewertung des Zionismus als politische Theorie und praktische Bewegung ist global hoch umstritten. In der radikalen Linken wird zum einen der Begriff des Siedlerkolonialismus verwendet, welcher den Zionismus als ein koloniales Projekt in eine Reihe der Vertreibung, Entrechtung und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung der Amerikas, der Ausplünderung der afrikanischen Rohstoffe oder mit dem einstigen südafrikanischen Apartheidsregime stellt. Andere Linke – insbesonders im deutschen Diskurs – sehen in Israel die notwendige Konsequenz aus der Shoah, dass Jüd*innen weltweit einen Schutzraum bräuchten und sich damit antizionistische Argumentationen auch gegen alle Jüd*innen in und außerhalb Israels richteten. Raef Zreik entwarf eine dialektische Analyse des Zionismus. Anstatt den Zionismus entweder als eine Form des Kolonialismus oder als historischen Sonderfall zu charakterisieren, müsse man ihn als das nehmen was er ist, die Einheit der beiden widersprüchlichen Elemente.

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Historisch-materialistische Science Fiction (Teil 2): Die Parabel vom Sämann (Octavia Butler)

In etwa einem Jahr, am 20. Juli 2024, wird die Geschichte von Otavia Butlers Die Parabel vom Sämann beginnen. Die Geschichte der sechzehn bis achtzehnjährigen Pfarrerstochter Lauren, die den Zusammenbruch ihrer Gemeinde überlebt und sich durch eine Welt – eine Mischung aus dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte, Fallout und The Walking Dead – schlagen muss, ist mehr als eine Endzeitstory. Sie ist ein Musterbeispiel für literarisch verarbeiteten dialektischen Materialismus. Kürzlich gab der Heyne-Verlag das Buch als Neuübersetzung heraus, im nächsten Jahr wird die Fortsetzung Die Parabel der Talente folgen. Teil 2 zur Serie über historisch-materialistische Science-Fiction.

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Die Schule des dialektischen Materialismus

„Mittlerweile ist es eher zum Problem geworden, zu erklären, warum sich die Dinge nicht ändern sollten, statt warum sie sich ändern.“ Diesen Satz formulierte Dwayne Huebner bereits vor 55 Jahren mit Blick auf amerikanische Lehrpläne. Zusammen mit João M. Paraskeva kritisiert er seit vielen Jahren das Bildungssystem der Vereinigten Staaten. Dabei geht es den beiden nicht nur um materielle Ausstattung, soziale Segregation, Ungleichheit, bestimmte neokolonialistische Inhalte oder die mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte. Sie gehen tiefer und stellen die Frage nach der philosophischen Grundlage verbindlicher Lehrpläne überhaupt. Welchen Sinn ergibt es, in einer Klassengesellschaft, in der ein weißer Farmersohn aus dem mittleren Westen vor ganz anderen Problemen steht als die schwarze Schülerin aus der Chicagoer South Side, das gleiche zu lernen? Was verraten Lehrpläne über eine Gesellschaft, wenn sie seit 80 Jahren kaum verändert wurden, obwohl die Gesellschaft einen grundlegenden Wandel durchlaufen hat? Die Autoren werben für eine Verankerung des dialektischen Materialismus im Bildungssystem. Sie kritisieren Bildung als Derivat einer einmal errichteten Klassenherrschaft und fordern ein System, welches die permanente Veränderung der Lerngegenstände durch die Lernenden erlaubt.

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Blick ins Heft: die neue Вопросы политической экономии

Russland ist kein totalitäres System. Auch wenn Kritik am Krieg in der Ukraine oder die Kooperation mit westlichen Geldgebern immer ein Ritt auf der Rasierklinge sind, werden viele politische und wirtschaftliche Fragen kontroverser diskutiert als in Deutschland. Marxistische Wissenschaft hat sogar an den Universitäten überlebt und unter dem akademischen Überbau dutzender kapitalismuskritischer Lehrstühle an den Universitäten erstreckt sich eine breite Basis an verschiedensten Schulen, Journalen, Blogs, Videoprojekten oder Graswurzelorganisationen. Ein Leitmedium der akademischen Linken in Russland ist die Voprosi Politicheskoi Ekonomii, die Fragen der politischen Ökonomie. Sie wird von der Lomonossow-Universität in Moskau herausgegeben und von den beiden bekannten Marxisten Aleksandr Buzgalin und Andrey Kolganov redaktionell geleitet. Sie erscheint vierteljährlich und kann kostenlos auf ihrer Homepage (siehe Literatur) eingesehen werden. Vergangene Woche erschien die aktuelle Ausgabe. Ein kleiner Überblick über drei interessante Beiträge.

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Historisch-materialistische Science Fiction (1/X)

Am kommenden Sonntag jährt sich der Todestag einer der größten Autor*innen linker Science-Fiction- und Fantasy, Ursula K. Le Guin, zum fünften Mal. Zum Anlass dieses Datum sollen in einem Zweiteiler kurz die Möglichkeiten einer historisch-materialistischen Science Fiction umrissen werden und an Le Guins Werk The Dispossessed/ Freie Geister erörtert werden.

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zeitgenössische Marxist*innen: Guglielmo Carchedi

Heute wird die Serie zu zeitgenössischen marxistischen Wissenschaftler*innen fortgesetzt. Und wieder soll ein Marxist vorgestellt werden, den in Deutschland eher wenige kennen: Guglielmo Carchedi. Die Unbekanntheit hat er leider zu Unrecht. Seine Formalisierung der Hegelschen und Marxschen Dialektik, welche die Berücksichtigung der Zeit als wesentlichen Mehrwert der dialektischen gegenüber der formalen Logik identifiziert, ist leicht verständlich und erklärungsmächtig. Carchedi kann Dialektik, Ontologie, Klasse und politische Ökonomie zusammendenken, beharrt in bester wissenschaftlicher Tradition aber auf die empirische Überprüfbarkeit von Theorie. Im Folgenden sollen seine wesentlichen Leistungen dargestellt werden.

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