Das politische Subjekt Palästinenser*innen

Die Frage, seit wann es eigentlich das palästinensische Volk gibt, ist nur in zweiter Linie eine historische. Sie ist eine politische. Zionistische Vertreter*innen haben über die Jahrzehnte hinweg das Narrativ verbreitet, ein Volk ohne Land habe Israel auf einem Land ohne Volk errichtet. Und noch bis heute wird in höheren Kreisen die Auffassung vertreten, dass die Palästinenser*innen ja eigentlich Araber*innen seien und damit auch überall im Maghreb oder im Nahen Osten glücklich werden könnten. Das Beharren auf das kleine Stückchen Land zwischen Jordan und Rotem Meer sei damit nur durch einen tief verwurzelten Antisemitismus zu verstehen. Doch wie nicht wenige Völker haben sich die Palästinenser*innen durch den Kampf als politisches Subjekt konstituiert. Mit der Struktur und Entwicklung dieses politischen Subjektes hat sich die aktuelle Critical Sociology auseinandergesetzt. In mehreren Beiträgen beschreiben die Autor*innen, wie Rassifizierung, Kolonialismus, Sexismus, aber auch Solidarität unter Arbeiter*innen die heutigen Palästinenser*innen geprägt hat.

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Internationalismus international

Einer der wichtigsten Kernwerte der sozialistischen Bewegung steht momentan zur Disposition: die internationale Solidarität. Das bürgerliche Lager hat den Ukraine-Krieg zum Anlass genommen, militärische Hilfe für die Ukraine als Ausdruck internationaler Solidarität zu framen. Pazifist*innen, die sich dagegen stellen, wird ihr Internationalismus abgesprochen.
Im Millenium: Journal of International Studies hat Miri Davidson mit Dilar Dirik, Musab Younis, Maria Chehonadskih und Layli Uddin gesprochen. Alle vier beschäftigen sich mit Akteur*innen und Bewegungen, die dem proletarischen Internationalismus zugerechnet werden können und versuchen ihre Ergebnisse zusammenzubringen.

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Hippies, Nerds und Kommunisten … und Empanadas

Evgeny Morozov erzählt in seinem neusten Podcast The Santiago Boys die Geschichte eines der ambitioniertesten Projekte der sozialistischen Linken aller Zeiten. Das ist die Geschichte von Cybersyn. Das ist die Geschichte von Allende. Und es ist die Geschichte seines Sturzes. Er zeichnet Figuren nach. Er erläutert Hintergründe. Er weckt Emotionen. Und er stellt die Frage nach der Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen politischen Problemen und technologischen Lösungen am historischen Fall der Regierung Allende in Chile ganz konkret.

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Der Knast als Spiegel der Gesellschaft: die Geschichte der Prisoners Union

Etwa zwei Millionen Menschen befinden sich zur Zeit in den USA in Haft. Jeder zwölfte männliche Schwarze zwischen 30 und 40 Jahren sitzt hinter Gittern. Ein großer Teil der Häftlinge sind dabei keine Mörder oder Vergewaltiger, sondern Menschen, die ihre Schulden nicht bezahlen konnten oder in die Illegalität gezwungen wurden, um ihre Schulden zu bezahlen.
Über die Jahre und in den verschiedenen Ländern hat es daher immer mal wieder Versuche gegeben, Gefangenengewerkschaften zu organisieren. Das erfolgreichste Projekt war dabei wohl die Prisoners Union, die vom Ende der 60er Jahre bis zum Ende der 70er Jahre an der US-amerikanischen Westküste aktiv war. Ihre Geschichte erzählte Michael Gibson-Light vom Department of Sociology and Criminology der University of Denver im Prison Journal. Er griff dabei auch auf das theoretische Framework der kritischen Theorie zurück, dass Georg Rusche und Otto Krichheimer hinterließen.

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Bereits der Versuch ist strafbar

Wie würde ein Buch über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aussehen, wenn es nur aus Sicht der Opposition geschrieben wäre. Man würde darin von der personellen Kontinuität der Eliten zwischen Hitlerfaschismus und Adenauerdemokratie lesen und dass die gleichen Richter, die im Dritten Reich Kommunist*innen verurteilten, nun die KPD verboten. Das linke Beamte aus dem öffentlichen Dienst flogen. Man würde lesen, dass erst ein Generalstreik, der von britischen Panzern niedergeschlagen wurde, Ludwig Erhardt zur sozialen Marktwirtschaft zwang. Man würde lesen, dass die Frau an den Herd gefesselt wurde, um die Arbeiter*innenklasse in Brotverdiener und Kinderversorger zu spalten. Die Vergewaltigung in der Ehe war die gesamte Zeit über legal. Man würde lesen, dass Adenauer mit der Währungsreform, dem Grundgesetz und der Schaffung der Bundeswehr immer den ersten Schritt zur Spaltung Deutschlands machte und ihm das Angebot eines vereinigten, aber neutralen Deutschlands bereits zu links war.

Das alles könnte man lesen. Aber unsere Geschichtsbücher schreiben die Geschichte aus Sicht der Eliten und der von ihnen ideologisch dominierten Bevölkerungsmehrheiten. Wer jedoch die Geschichte der DDR genauso schreiben möchte, begibt sich auf gefährliches Terrain. Und nichts anderes versuchte Katja Hoyer mit ihrem in England erschienenem und ins Deutsche übersetztem Buch Beyond the Wall/ Diesseits der Mauer. Ist ihr Versuch gelungen? Den zu erwartenden Aufschrei hat sie zumindest erreicht.

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Die Linke und der Frieden: eine kurze Geschichte

Der Streit um die Haltung der Linken zum Krieg ist also so alt wie die Arbeiter*innenbewegung selbst. Für viele Linke gilt das Jahr 1914 als der Sündenfall der Linken. Während die erste und die zweite Internationale unter dem Einfluss von Marx, Engels, Liebknecht und Bebel noch in jedem Krieg einen Bürgerkrieg gesehen hätte, in dem die Arbeiter*innen nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren hätten, habe eine arbeiter*innenaristokratische Kaste in den führenden Ländern Europas die traditionell pazifistischen Werte verraten und ihren jeweiligen Regierungen die Treue gehalten. Dabei bestand bereits die erste Internationale ihre Feuertaufe – den Deutsch-Französischen Krieg – eher schlecht als recht. Marcello Musto fasste in der Critical Sociology die Haltung der Linken zum Krieg in der Geschichte zusammen.

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Soziologie in Berlin (Hauptstadt der DDR)

Wovon spricht man, wenn man „DDR-Soziologie“ sagt? Von der Entfaltung einer Wissenschaft unter den ganz konkreten Bedingungen eines auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs aufgebauten sich sozialistisch verstehenden Staates? Von einer durch den Marxismus-Leninismus geprägten Interpretation einer Wissenschaft? Vom kollektiven Werk der Soziolog*innen in der DDR oder von den Menschen, welche diese Werke verfasst haben? Oder einfach von der Negativfolie einer politisch indoktrinierten unfreien Wissenschaft gegenüber der heutigen jeglicher Ideologie und politisch-ökonomischen Beeinflussung unverdächtigen freien Soziologie?

Barbara Grüning von der Universität in Mailand Bicocca hat im Journal of Classic Sociology das Werk und Wirken von 63 ostberliner Soziolog*innen analysiert, um tiefer in die Geschichte der Wissenschaft einzutauchen. Sie eröffnet damit einen facettenreichen Blickwinkel auf die Dynamiken zwischen Wissenschaft und Politik in der DDR, die sich mit dem Begriff Totalitarismus nicht redlich beschreiben lassen.

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Frankreichs gefährliche Klassen

In Frankreich geht gerade ein ganzes Volk gegen die Rentenreformpläne von Präsident Macron auf die Straße. Die momentane Situation in Frankreich ist deshalb so besonders, da insbesondere der gewaltsame Protest ansonsten Ausdrucksform der marginalisierten Gruppen ist. People of Color aus den Banlieues, subkulturelle Jugendliche oder Illegalisierte in kriminellen Parallelwelten. Viele postmoderne Linke sehen längst in einer Klasse, die Marx einst als das Lumpenproletariat bezeichnete, das eigentliche revolutionäre Subjekt. Und sie kritisieren Marx für seine vermeintliche Verachtung gegenüber diesen Subalternen. Jérôme Beauchez und Djemila Zeneidi haben in der aktuellen Space and Culture eine Gruppe vorgestellt, die Marx vermutlich Pate bei seiner Charakterisierung des Lumpenproletariats im Achtzehnten Brumaire gestanden hatte: die Zoniers.

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Marxistische Medientheorie in Brasilien

Dass die Medien die vierte Gewalt im Staate sind, konnte man in den vergangenen zwölf Monaten wieder eindrücklich erleben. Mit dem Verhältnis von Staat, Klassen, finanzkräftigen Klientel und den Medien befassen sich seit 90 Jahren auch Marxist*innen aus Brasilien. Die Medienlandschaft in Brasilien ist geprägt von einer hohen Konzentration der Eigentümerschaft und einer oft einseitigen Berichterstattung, die in Veracht steht, insbesondere den Interessen der Eliten zu dienen. Francisco Rüdiger und Otávio Daros haben in der aktuellen Capital&Class die Debatte Revue passieren lassen und in die jeweiligen politischen Verhältnisse des größten südamerikanischen Landes eingeordnet. Ein kleiner Streifzug.

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Der Jugend die Welt

Rosa Luxemburg schrieb einst, dass die Jugend die hellste Flamme der Revolution sei. Sie gilt als begeisterungsfähig, progressiv, aktiv und weitestgehend frei von den Sorgen des Alltags. Ihr ist einiges zuzumuten und zuzutrauen. Gleichsam ist sie rebellisch, sucht ihre eigenen kulturellen Ausdrucksformen und lässt sich nicht so leicht vereinnahmen, wie es zuweilen Absicht der Herrschenden war. Die aktuelle Social History warf einen Blick auf die verschiedenen Formen jugendlichen Internationalismus. Sie fragte dabei nicht nur nach den Inhalten, sondern insbesondere nach den Formen.

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