Deviante Forschung zum Ukraine-Krieg (1/2)

⋄ Die Mehrheit der Politikwissenschaften stehen hinter dem westlichen Narrativ des Ukraine-Kriegs, wasangesichts der Hegemonie des Imperialismus und akademischer Abhängigkeiten wenig überrascht.

⋄ Die
International Critical Thought hat kritische Beiträge zu den Ursachen des Ukraine-Kriegs und dessen Rolle in der Geopolitik gesammelt.

⋄ Michael Dunford sieht im verspäteten Nationabuilding und die Absage an Multiethnizität und – lingualität entscheidende Ursachen für die Zuspitzung des Konflikts mit dem Donbass.

⋄ Daniel Gaido stellt Stephen Cohens Analysen vor, der insbesondere Yanukovich als missverstandenden tragischen Helden zwischen den Fronten erkennt.

⋄ Tim Beal bettet die aktuelle amerikanischen Politik in die über hundert Jahre als Heartland-Konzeption ein, in das russische Gebiet eine Schlüsselrolle für globale Dominanz spielt.

Kurz nach dem Ukraine-Krieg waren wissenschaftliche Artikel zu dessen Ursachen und zur Einordnung in die geopolitische Lage rar gesät. Das ist verständlich, braucht wissenschaftliche Recherche Sorgfalt und damit Zeit. Mittlerweile haben sich die meisten Teile der wissenschaftlichen Community jedoch positioniert und entsprechende Beiträge veröffentlicht. Der Großteil dieser Beiträge stützt die westlichen Narrative, was in Anbetracht der ideologischen Dominanz des Imperialismus und den akademischen Abhängigkeitsstrukturen zunächst nicht verwunderlich ist. Diese Interpretationen müssen sich jedoch an ihrer Kritik messen lassen.

Die International Critical Thought hat zahlreiche Beiträge versammelt, die abweichende Deutungen der Ursachen des Ukraine-Kriegs beschreiben. In einem Zwei-Teiler sollen diese Positionen hier dargestellt werden, wobei sich der erste Teil auf Beiträge zur amerikanischen Geopolitik und der zweite auf die zu weitreichenderen Imperialismuskonzepten konzentrieren wird.

Michael Dunford: Ukraine als späteste Nation

Michael Dunford, Gastprofessor an der Universität von Sussex und bekennender Materialist, sieht den Konflikt wesentlich in einem ethnischen Nationalismus – oder besser gesagt, in einer Reethnisierung des post-sowjetischen Nationalismus – begründet. Die Sowjetunion sei eine mulitlinguale, multiethnische und multikulturelle Föderation gewesen, deren Republikgrenzen oft kaum mehr Bedeutung als die einer Verwaltungsgrenze hatten. Nach der Auflösung der Sowjetunion lebten noch 25 Millionen ethnische Russ*innen in den nun unabhängigen Republiken. Darüber hinaus sei insbesondere die Ukraine durch einen besonders ausgeprägten Pluralismus geprägt gewesen, da sie nach 1991 überhaupt das erste Mal eine längere Staatlichkeit besessen und somit keine effektive Nationenbildung durchlebt hatte. Diese habe nach 1991 nachgeholt werden müssen und spätestens seit der Orangenen Revolution 2006 war die Orientierung Richtung EU ein entscheidender Pfeiler dieser Ideologiearbeit. Während sich große Teile des Ostens sowohl kulturell an Russland orientierten, als auch von den Absatzmärkten und billigen Gasimporten profitierten, habe der westlich geprägte Teile diese Verbindungen kappen wollen. Der NATO war dieser innenpolitische Konflikt gerade Recht, sah man doch die Chance, Russland außenpolitisch nach Jugoslawien einen weiteres Mal empfindlich zu schwächen.

Der Krieg gegen den Donbass als Folge der Zuspitzung dieses innenpolitischen Konflikts im Zuge der Maidan- und Gegenmaidan-Demonstrationen, habe der Regierung die Möglichkeit geboten, die ethnische Nationalisierung der Ukraine voranzutreiben. Die Armee wurde modernisiert und gleichzeitig die Verbindungen zu paramilitärischen rechten Verbänden formalisiert. Der Wegfall der Hochburgen der pro-russischen politischen Parteien Krim, Donetzk und Luhansk ermöglichte kontinuierliche Mehrheiten für eine pro-westliche und nationalistische Politik. Der Verzicht auf die Umsetzung des Minsker Abkommens sei im Rahmen dieses Nationalismus und der Uniformierung zu erklären. Der Autor begründet die Authentizität des Verdachts, dass die Ukraine selbst eine neue Offensive im Donbass geplant habe, mit dem massiven Anstieg des Beschusses des Donbass zwischen dem 15. und 22. Februar 2022. Seither habe der Krieg neben seinen verheerenden Folgen für die Ukraine insbesondere die deutsche Ökonomie geschwächt, deren Energiekosten sich enorm verteuert hätten und stark am Wettbewerbsmodell der Bundesrepublik nagten, während Russland durch die Stärkung des Bündnisses von China, eine verstärkte innere Akkumulation und die weiterhin bestehende Nachfrage nach seinen Rohstoffen weniger schwer betroffen sei.

Dunfords Darstellung ist zwar gut recherchiert, bleibt aber der Oberfläche der Ideologie verhaftet und stellt die Ereignisse in der Ukraine recht einseitig dar. Man darf seinen Essay als ein fundiertes Gegennarrativ zu nicht weniger einseitigen westlichen Beiträgen aus der wissenschaftlichen Community lesen, sollte sich jedoch bewusst sein, dass es in Tiefe und Breite unvollständig bleibt.

Daniel Gaido: Yanukovich zwischen den Fronten

Daniel Gaido reflektierte den Ukraine-Krieg vor dem Hintergrund der Studien Stephen Cohens, der 2020 starb. Der Autor einer vielgelesenen Bukharin-Biographie galt als einer der besten Russland-Forscher der Vereinigten Staaten. Anfangs ein Unterstützer der Reformen Gorbachevs, war er bestürzt von den Entwicklungen der Yeltsin-Ära. Insbesondere nach 2014 nahm Cohen in amerikanischen Talkshows eine verständnisvolle Position für die Sorgen Russlands vor einer weiteren NATO-Osterweiterung ein. In der Öffentlichkeit wurde eher daher als Putinversteher gebrandmarkt, während selbst kritische Kolleg*innen seine kenntnisreichen Arbeiten schätzten.

2014 sei die Ukraine als eines von sechs post-sowjetischen Ländern, deren Bruttosozialprodukt noch unter dem Niveau von 1989 gelegen hätten, in einer desolaten wirtschaftlichen Situation gewesen. Yanukovich war in dieser Lage und angesichts der Schuldenkrise nicht bereit, die Austeritätskriterien für einen EU-Beitritt umzusetzen, da diese eine weitere Verarmung großer Teile der Bevölkerung bedeutet hätten. Er habe versucht, das Assoziierungsabkommen mit der EU neu zu verhandeln und habe dabei Russland gegen die EU ausspielen wollen. Da die EU nicht bereit war, Yanukovich entgegenzukommen, habe er letztendlich Putin als Partner wider Willen akzeptieren müssen. Es sei Yanukovichs großer Fehler gewesen, diese Strategie nicht in die Bevölkerung kommuniziert zu haben. Die EU habe im Gegensatz dazu durch die Zurückweisung sowohl von Kompromissen als auch von alternativen Rettungsplänen der Ukraine vor dem finanziellen Kollaps und die Beteiligung führender Politiker*innen die Eskalation politisch gefördert. Zudem hätten die EU-Außenminister*innen ihren eigenen ausgehandelten Kompromiss zwischen Regierung und Opposition, der die Vorverlegung der Wahlen beinhaltete, zu Gunsten eines Coup d´état fallen lassen. Für Putin habe damit auch keine Vertrauenswürdigkeit hinsichtlich solcher Verhandlungen mit der EU bestanden. Auch die Vereinigten Staaten hätten die die Spaltung des Landes und den Bruch mit Russland voraussehen müssen, was den Schluss nahe lege, dass sie ihn bewusst forciert hätten.

Die NATO-Osterweiterung, die Stationierung von amerikanischen Waffen in der Ukraine, die Aufrüstung des Staates selbst und die Einbindung in die Kommandostrukturen hätten Russland das Zeichen gegeben, dass die NATO Russland in Fragen der Sicherheitsinteressen nicht als gleichberechtigten Partner akzeptierten. Hinzu kämen die zahlreichen Manöver im Baltikum und die Deckung der georgischen Aggression gegen Südossetien. Seine Kritik an der NATO-Strategie teilten auch konservative Wissenschaftler in den Staaten, da sie befürchteten, Russland in die Arme von China zu treiben, das die USA eigentlich als Hauptfeind auserkoren hatten.

Cohen beschrieb also, dass die Vereinigten Staaten auf einen Stellvertreterkrieg in der Ukraine vorbereitet waren und diesen in Kauf nahmen. Er kritisiert diese Politik als eine der politischen Destabilisierung. Seine Betrachtungen haben leider zwei Verkürzungen. Erstens stellt er den US-Imperialismus nicht als solchen in Frage. Er kritisiert die falsche Sicherheitspolitik der USA, aber nicht, warum die USA generell eine Sicherheitspolitik außerhalb ihrer Landesgrenzen betreiben. Und zweitens stellt er nicht dar, welche ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte auf die Konfrontation mit Russland gedrängt haben. Die Beschreibung des Systems Putin als ein bonapartistisches, welches durch den inneren Druck der eingehegten Oligarchen und den äußeren Druck des US-Imperialismus zusammengehalten wird, ist hingegen recht fruchtbar. Denn die beste Waffe gegen Putin wäre nach dieser Lesart eben der Verzicht auch äußeren Druck und die Behandlung auf Augenhöhe, was eines der beiden Standbeine des Systems aushebele.

Tim Beal: 100 Jahre Heartland-Strategie

Nach Tim Beal ist die Zurückdrängung Russlands, ob als Zarenreich, Teil der Sowjetunion oder als kapitalistischer Nationalstaat eine Konstante der amerikanischen Außenpolitik seit Ende des 19. Jahrhunderts. Russland, das China und Europa geographische miteinander verbinde, sei dabei das Gegenstück zur maritimen Militärdoktrin der Vereinigten Staaten. Diese Kontinuität versucht er an den drei geostrategischen Fallbeispielen Halford Mackinder, Zbigniew Brzeziński und Victoria Nuland zu verdeutlichen.

Von Halford Mackinder stamme die Idee, dass Russland das Herzland, das Heartland, der Weltinsel Europa-Asien-Afrika sei, der größten und bevölkerungsreichsten zusammenhängenden Landmasse. Wer diese Region kontrolliere, habe den Schlüssel zur Weltmacht, so Mackinder. Damit wollte dieser den Isolationismus der USA ideologisch überwinden. Obwohl seine Theorie sehr kontrovers diskutiert worden sei, ziehe sie sich nach Beal durch die amerikanische Außenpolitik bis heute durch. Sie habe dabei die USA nach dem Zweiten Weltkrieg in immer tiefere Widersprüche verstrickt. Während die USA eigentlich das Image der Vertreter*in aller unterdrückten Nationen hegten, konnten sie sich aus Rücksicht auf Großbritannien und Frankreich nicht als Anwalt der kolonialen Befreiungsbewegungen inszenieren. Denn diese wurden als Verbündete gebraucht, um mit der NATO eine weitere Expansion des Sozialismus in Europa zu verhindern. Die antikolonialen Bewegungen orientierten sich nun aber gerade an der Sowjetunion, was ebenso nicht von den USA im Rahmen der Heartland-Strategie geduldet hätte werden dürfen und das Imperium in die blutigen Interventionen in Korea und Vietnam mit Millionen toten Zivilist*innen zog. Immerhin sei es den USA gelungen, ein Spaltkeil zwischen die Sowjetunion und China zu treiben und so eine kommunistische Machtkonzentration zu verhindern.

Nach dem Ende der Sowjetunion habe die amerikanische Strategie darauf abgezielt, Europa sowohl als Verbündeten zu halten, aber eine Stärkung Europas durch eine Vernetzung mit Russland gleichzeitig zu verhindern. Beide Ziele auf einmal konnten nach Zbigniew Brzeziński durch die Expansion der NATO erreicht werden, der deshalb riet, die Schwäche Russlands in den 90er Jahren zu nutzen, um diese voranzutreiben. Die Bewaffnung Europas potenziere so den amerikanischen Einfluss in Europa. In diesem Kontext sei auch Brzezińskis Gegnerschaft zum „Krieg gegen den Terror“ zu sehen. Er sei keinesfalls Antiimperialist oder Pazifist gewesen, sondern er habe die amerikanischen Ressourcen lieber im Kampf gegen Moskau anstatt gegen die Taliban gesehen.

Als letztes stehe nach Tim Beal Victoria Nuland in der Tradition dieser Politik. Sie habe den Regime Change des Maidans offen unterstützt und die amerikanische Finanzierung der Opposition zugegeben. Im Ukrainekrieg zeige sich erneut der Doppelcharakter der Heartlandstrategie. Während einerseits Europa durch die amerikanischen Militärhilfen politisch an die USA gebunden werden, schadet das Sanktionsregime vordergründig den europäischen Ökonomien. Allerdings sehen Teile der USA ihr Blatt in der Ukraine bereits überreizt. Wenn auch Europa politisch so weit entfernt von Russland ist, wie nie zuvor, bildet sich ein neues Bündnis zwischen der RF und China. Eine erfolgreiche neue Belt-and-Road-Initiative und ein festes Bündnis mit Russland wäre die Definition des Versagens der Heartland-Strategie. Somit würden die Stimmen aus den Staaten, die entweder eine schnelle Entscheidung auf dem Schlachtfeld oder Verhandlungen forderten immer lauter.

Die Heartland-Strategie ist sicherlich ein interessantes narratives Konstrukt. Allerdings stellt es die Ideologie über die ökonomische Basis. Seit der Zeit von Mackinder hat sich in den USA und global zu viel gewandelt, um eine konsistente, dauerhafte Erzählung glaubhaft machen zu können.

Zusammenfassung

Die Beiträge stellen alle heraus: Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur, aber auch ein Schlachfeld amerikanischer Interessen. Welches Narrativ am überzeugendsten ist, darüber soll hier nicht geurteilt werden. Denn allen Artikeln ist auch gemein, dass eine Verankerung der Argumentation in der politischen Ökonomie und der Klassenbasis fehlt. Keiner der Artikel entwickelt eine Dialektik von gesellschaftlichen Kräften und Gegenkräften. Sie fokussieren sich einseitig auf Entwicklungen der amerikanischen Politik, ohne sie hinreichend durch innere Widersprüche und äußere Veränderungen zu erklären. Das lässt die USA als alleinigen, unangetasteten Hegemon erscheinen; ein Konzept, das zunehmend fragwürdig ist. Der zweite Teil erscheint am Montag und widmet sich den breiten Imperialismuskonzepten in der ICT.

Literatur:

Beal, T. (2023): Weaponizing Europe, Countering Eurasia: Mackinder, Brzezinski, Nuland and the Road to the Ukraine War. In: International Critical Thought. Online First. DOI: 10.1080/21598282.2023.2188575.

Dunford, M. (2023): Causes of the Crisis in Ukraine. In: International Critical Thought. Online First. DOI: 10.1080/21598282.2022.2163417.

Gaido, D. (2023): An Alternative View of the Ukrainian Conflict: Stephen F. Cohen on the Origins of the New Cold War. In: International Critical Thought. Online First. DOI: 10.1080/21598282.2023.2185901.


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