⋄ Der Krieg in der Ukraine wird entweder als antifaschistisch oder freiheitlich mythisch verklärt. ⋄ Hinter den Mythen stecken reale materielle und Klassenverrhältnisse. ⋄ In ihrem Buch “Ukraine and the Empire of Capital” (2019) analysiert Yuliya Yurchenko die Mythen der Ukraine und die Rolle der Oligarchie. ⋄ Sie beschreibt die ökonomischen Prozesse als ursprüngliche Akkumulation durch Enteignung des Volksvermögens. ⋄ Die vier wesentlichen Mythen der Ukraine seien die der “Demokratie”, des “Wandels”, der “zwei Ukrainen” und der “anderen Ukraine”. |
Der Kampf in der Ukraine ist schon jetzt ein Mythos. Für die einen der Kampf eines wehrhaften Volks für Freiheit und Demokratie, für die anderen die Befreiung von Faschismus und Willkürherrschaft der NATO. Mythen bleiben zwar Mythen, aber sie sind doch von dieser Welt. In ihnen spiegeln sich die materiellen Grundlagen des Kampfes der Klassen und ihrer historischen Blöcke wieder.
Yuliya Yurchenkos Buch „Ukraine and the Empire of Capital“ über die ursprüngliche Akkumulation durch Diebstahl in der postsowjetischen Ukraine ist eines der meist rezipierten Bücher in der englischsprachigen Linken zur jüngeren Geschichte des Landes. In Deutschland wurde es kaum wahrgenommen. Eine Übersetzung liegt noch nicht vor. In diesem Beitrag sollen die Kernpunkte ihrer Argumentation nachgezeichnet werden. Das Buch ist ein Kompendium der Verflechtungen der einzelnen Oligarchenfraktionen mit Politik, Medien, dem internationalem Kapital und untereinander. Wer hier an Details interessiert, sollte das Buch unbedingt lesen.
Methode: historische Blöcke und ihre Mythen
Dass die Parteibildung in der Ukraine nicht entlang der Klassengrenzen verlief und verläuft, ist schnell zu erkennen. Weder ist es tragbar, den Maidan als reine Bestechungsaktion westlich ausgerichteter Oligarchen und NGOs zu interpretieren. Noch wäre die Sezessionsbewegung im Donbass ohne eine Akzeptanz der Arbeiter*innen denkbar gewesen. Yurchenko greift daher zur Analyse der Ukraine auf das Konzept des historischen Blocks von Antonio Gramsci zurück, bzw. seiner transnationalen Interpretation durch Robert W. Cox. Ein historischer Block ist eine Formation aus verschiedenen Klassen, die sich unter den Bedingungen des Weltmarktes und des Imperialismus zeitweise zusammenschließen. Sie sind „Einheiten des Widerspruchs“. Da diese historischen Blöcke in sich antagonistisch bleiben, benötigen sie verbindende Mythen, welche die Herrschaft der dominierenden Fraktion legitimieren. Diese Mythen sind keine reinen Fantasiegebilde, sondern bilden Momente der Realität in einem ideologischen Zerrspiegel ab.
Auch wenn die Autorin sicherlich Einwände gegen eine solche Interpretation hätte, läuft das ganze auf ein dynamisches und wechselwirkendes Basis-Überbau-Schema hinaus. Die ökonomische Basis ist dabei komplex und durch mehr als nur zwei Akteure bestimmt, wodurch sich historische Blöcke erst herausbilden können. Auf der Ebene des Überbaus übersetzen sich die Klassenverhältnisse in Mythen. Je nachdem, wie erfolgreich der Mythos die Einheit des historischen Blocks herstellen kann, verändert er wiederum dessen ökonomische Basis. Neue Mythen entstehen. Da ein solches Modell leicht in Beliebigkeit ausarten kann, ist bei der konkreten Argumentation besondere Stringenz und Vorsicht erforderlich.
Eine zweite Analysekategorie, welche Yurchenko aufgreift, ist die ursprüngliche Akkumulation bzw. die Accumulation of Dispossession. Damit wird die Kommodifizierung und Kapitalisierung ehemaliger Gemeingüter bezeichnet, z.B. die Privatisierung des Gesundheitssystems. Während Auslegungen, wie die David Harveys, dass diese Form der Akkumulation mittlerweile den Großteil aller Profite ausmache, eher kritisch zu betrachten sind (vgl. den Beitrag hierzu), trägt das Konzept jedoch für zeitlich begrenzte Prozesse.
Wie dieses Framework bei Yurchenko ungefähr aussieht, sei in dieser Grafik veranschaulicht:
Die Basis: Enteignung des Volkes als ursprüngliche Akkumulation
Yurchenko zeichnet in einem historischen Abriss nach, wie bereits mit der Erlaubnis der begrenzten Markttätigkeit für den Komsomol die ersten oligarchischen Keimformen entstanden. Unter diesen ehemaligen Parteikadern wurde das nach Ende der UdSSR herrenlos gewordene Volksvermögen aufgeteilt. Sie stellt dar, wie sich die spätere herrschende Klasse bereits in der ausgehenden Sowjetunion aus verschiedenen Fraktionen der Partei-Nomenklatura herausbildete. Während sich der technologisch entwickeltere Dnipropetrowsk-Block (Interpipe, Privat Group/ Pinchuk, Kuchma, Kolomyskyy, Boholyubov) aus der nationalen Parteielite rekrutierte, sei der arbeits- und rohstoffintensive Donetsk-Block (SCM, ISD/ Akhmetov, Tarua, Mkrtchan) aus der lokalen hervorgegangen (vgl. S.83). Beide Blöcke teilten die Betriebe in einem historischen Kompromiss untereinander auf. Befördert sei diese Enteignung des Volkes durch die Europäische Investmentbank worden, die unter dem Motto des „Wandels“ vor allen Dingen in Privatisierungsprojekte investierte.
Dieser „Wandel“ bzw. die Privatisierung sei in vier Schritten vorgenommen worden. Erstens sei ganz nach dem Charakter der urprünglichen Akkumulation bzw der Accumulation bei Dispossession ehemaliges Staatseigentum in die Hände der Oligarchen übergegangen. Dabei wurde auch illegale und kriminelle Aneignung im Nachhinein durch den Staat anerkannt. Zweitens seien die Regeln für das internationale Kapital festgelegt worden, um Investitionen zu sichern, aber auch die Interessen der Oligarchie zu wahren. Drittens habe der Staat dann ökonomische Sonderzonen eingerichtet. Im letzten Schritt seien die staatlichen Vergabeverfahren so geregelt worden, dass eine maximale Interessenkonvergenz zwischen Staatsführung und Oligarchen gewahrt wurde.
Da das Wachstum in der freien Marktwirtschaft jedoch nicht so stark gewesen sei, wie durch die ideologisch verblendete internationale und nationale Bourgeoisie angenommen, sei kein breiter Kompromiss der Gesamtbourgeoisie mit dem Gesamtproletariat finanziert worden. Die Betriebe wurden zur Profitmaximierung abgewirtschaftet. Innerhalb von nur drei Jahren nach 1990 war das Bruttosozialprodukt um die Hälfte gefallen und die Inflation habe den Unmut der Arbeiter*innen geweckt. Die Frage danach, ob dieser besser durch eine Westbindung mit freien Märkten oder eine Ostbindung mit billigen Rohstoffen und traditionellen Handelsbeziehungen organisiert werden könne, wurde virulent. Dieser Streit war um so heftiger, als dass es noch keinen entwickelten Rechtsstaat oder Zivilgesellschaft gab. So bildeten sich die historischen Blöcke mit den jeweiligen verbindenden Mythen heraus.
Der Überbau: Die vier „Mythen“ der Ukraine
Yurchenko schält aus der Nationalerzählung der Ukraine vier solcher Mythen heraus. Der Mythos des „Wandels“ besagt, dass aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwangsläufigerweise ein Übergang in die Marktwirtschaft erfolgen müsste. Hinter dem Mythos stünde jedoch das Interesse des kleptokratischen Kapitals und der westlichen Staaten nach erweiterter Kommodifizierung und Ausdehnung des liberalen Weltmarktes. Ein solcher Mythos delegitimierte auch die Wünsche der Arbeiter*innen nach dem Erhalt von Systemen kollektiver Sicherheit.
Der Mythos der „Demokratie“ legitimierte die Schaffung des entsprechenden Überbaus, der die Herrschaft der dominanten Kapitalfraktionen sichern und volksdemokratische Elemente beseitigen sollte. Da sich die „Demokratie“ auf die Fragen von Präsidial- oder Parlamentsherrschaft beschränkten, – Kämpfe die zwischen den Oligarchenfraktionen ausgetragen wurden -, sollte der Aufbau einer antioligarchischen Fraktion verhindert werden. Die Herrschaft der alten Nomenklatura konnte so erhalten werden, ohne einen kapitalkonformen Systemwandel zu gefährden.
Zur ideologischen Absicherung der Oligarchenherrschaft wurde als dritter Mythos der des „Anderen“ geschaffen. Während die Ukraine historisch immer ethnisch-pluralistisch gewesen sei, erlaubte die Schaffung eines Nationalmythos es der Bourgeoisie, ihre Gegner als das unukrainische Andere zu markieren. Diese „Anderen“ konnten bei Bedarf die Kommunist*innen sein, die mit Stalin und Holodmor-Legende identifiziert wurden. Sie konnten aber auch die Faschist*innen sein, die zur Stütze der westlichen Oligarchie erklärt wurden und in Widerspruch zum antifaschistischen Erbe der Ukraine stünden.
Auch wenn es nie „die eine Ukraine“ gegeben hatte und damit auch nicht das „Andere“, hatte die Spaltung der Ukraine auf Ebene der herrschenden Klasse eine reale Komponente. Die beiden großen Oligarchenblöcke – der Donetsk- und der Dnipropetrowsk-Block – spalteten alle ukrainischen Klassen an den Linien ihrer Blöcke. In Krisensituationen erweiterte sich der Mythos des „Anderen“ zum Mythos der „zwei Ukrainen“.
Die Entwicklung der Ukraine vor diesem Framework
Vor diesem Hintergrund interpretiert Yurchenko dann die Ereignisse rund um die Eskalation der Konflikte in der Ukraine bis hin zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen. Ich möchte hier nur einige kleine Schlaglichter herausgreifen:
Der Mythos der zwei Ukrainen hat einen Urpsung in den unterschiedlichen materiellen Lebensbedingungen der Arbeiter*innen. Während das westukrainische Proletariat stark von Arbeitslosigkeit und dem Fehlen staatlicher Versorgungssysteme bedroht gewesen sei, kannte die Arbeiterklasse des Donbass eine andere Form von Prekarität. Während das Geschäft des Kapitals hier hochprofitabel gewesen war und die Arbeitslosigkeit daher vergleichsweise gering, wären die Arbeitsverhältnisse katastrophal. 1988 starben pro eine Million Tonnen Kohle vier Arbeiter*innen, die Lebenserwartung lag bei 38 Jahren. Daher sei diese Fraktion des Proleatriats geeint durch eine starken Solidaritätsgedanken, das Bild des heroischen sowjetischen Arbeiters, aber auch eine gewisse Todeserwartung. So konnte der Mythos der anderen Ukraine durch die Kontinuität schlechter Arbeitsbedingungen als eine Sowjetnostalgie übersetzt werden, die allerdings einen Klassenkompromiss mit der Donetsk-Oligarchie herstellte.
Das Assozierungsabkommen wurde im Mythos der Demokratie und Wandels wahrgenommen. Die EU versprach wachsende Prosperität und die Umsetzung der rechtsstaatlichen Mindeststandards. Über die konkreten Bedingungen des Abkommens urteilt Yurchenko jedoch: „So ein Handel bedeutet, dass die Ukraine Rohstoffe und halbfertige Produkte in die EU exportiert und Fertigprodukte importiert, wodurch der Mehrwert bei den Firmen der EU verbleibt.“ (S.154) Der Ukraine wäre des geringste Glied der Wertschöpfungskette geblieben, wodurch ökonomisches Wachstum unmöglich sei. Die Ablehnung durch Yanukowitsch sei daher richtig gewesen, auch wenn sich Yurchenko nicht sicher ist, ob er es aus den richtigen Motiven ablehnte. Das Gefälle sei bei einer Eingliederung in die Eurasische Wirtschaftsunion geringer gewesen, allerdings bei einem erheblich kleineren Markt.
Die Interpretation des Maidan als faschistischen Putsch stellt quasi den Gegenmythos zur „Demokratisierung“ dar. Dieses Narrativ weist Yurchenko jedoch zurück. Sie stellt dar, dass der Großteil der Demonstrant*innen gegen die Polizeigewalt auf die Straße gegangen sei und das Assoziierungsabkommen nur an zweiter Stelle gestanden habe. Allerdings seien die im Kern antioligarchischen Proteste von der Oligarchie gekapert wurden und die Eskalation der Gewalt habe die rechten Korps salonfähig gemacht. Die Rolle der Donetsk-Oligarchie in den Sezessionsprozessen, sei inhomogen und weitestgehend noch unerforscht. Sowohl die Maidan, wie die Anti-Maidan-Bewegung, sieht sie als am Ende von der Oligarchie gekidnapped an.
Zusammenfassung
„Ukraine and the Empire of Capital“ erschien zweieinhalb Jahre vor der Invasion der russischen Truppen in die Ukraine. Während dieser neue Mythen schaffen wird, lohnt es sich, sich nicht nur an den Erscheinungen des Konflikts aufzuhalten, sondern das Wesen der Sache zu ergründen. Yurchenko unterscheidet mit viel Fachkunde – insbesondere über die Oligarchiefraktionen – Mythen, Klassenfraktionen und -blöcke, sowie materielle Interessen. Sie zeigt die Kämpfe in der Ukraine als komplex auf, aber eben nicht als zu komplex, um sie nicht materialistisch analysieren zu können.
Yurchenko macht sich keine Illusionen über den Charakter der EU. Sie weiß, dass die Ukraine dort nur eine Rolle als Neokolonie spielen kann. Sie weiß um die neoliberale Austeritätspolitik, welche der Ukraine aufgezwungen werden wird. Sie weiß jedoch auch, dass die Kumpanei mit der östlichen Oligarchie den Arbeiter*innen ebenso wenig dient und lehnt die Interventionen Moskaus seit 2014 ab.
Momentan befindet sie sich in der Ukraine im Kampf gegen die Invasion. Ihr Buch kann jedoch nur als Aufruf an eine europäische Linke verstanden werden, mit der EU zu brechen und dem NATO-Imperialismus ebenso den Kampf anzusagen. Das ukrainische Proletariat verliert sonst langfristig – mit oder ohne Krieg.
Literatur:
Yurchenko, Y. (2019): Ukraine and the Empire of Capital. From Marketisation to armed Conflict. London: Pluto Press.