Nutzt Putin Hunger als Waffe?

⋄ Auf Grund des Einflusses auf die Landwirtschaft, warf man Russland 2022 vor, den globalen Hunger als Waffe zu nutzen.

⋄ Derek Hall untersuchte im Journal of Peasant Studies, ob die Wissenschaft diesem Urteil folgt.

⋄ Hall konnte dabei drei unterschiedliche Bewertungen identifizieren, wobei der Mainstream der Schock-Interpretation folgt.

⋄ Andere Theoriestränge sehen den Krieg nur als Auslöser der Preissteigerungen, während entweder das globale Ernährungsregime an sich oder Börsenspekulationen die eigentliche Schuld tragen.

⋄ Im Ergebnis erweist sich das momentan Handelssystem als zu komplex, um befriedigend beschrieben werden zu können.

Es war eine seltsame Klage, welche die osteuropäischen Länder Ende Januar erhoben. Billiger ukrainischer Weizen überschwemme die Futtermittelmärkte. Anstatt weiter nach Afrika oder in den Nahen Osten verschifft zu werden, würde der Weizen von europäischen Mastbetrieben aufgekauft. Einheimische Produkte könnten nicht mehr abgesetzt werden. Ungeerntete Maispflanzen verrotteten in Rumänien vor sich hin.

Dabei wurden noch im Sommer 2022 Schreckensszenarien ausgemalt, wie die russische Invasion in der Ukraine den Welthunger befördern würde. In Istanbul wurde zwischen Russland und der Ukraine ein komplexes Vertragswerk für einen humanitären Ausfuhrkorridor ausgearbeitet. Die EU baute Handelsschranken für den Import ukrainischer Agrarprodukte ab. Dennoch verdoppelte sich der Weizenpreis zeitweilig.

Nun landet also der ukrainische Weizen garnicht auf den Tischen der kapitalistischen Peripherie, sondern in den Bäuchen von Mastschweinen. Warum ist das so? Die Forschung kann dazu zunächst keine konsensuelle Antwort geben. Derek Hall hat im aktuellen Journal of Peasant Studies die Erklärungsansätze der Forschung systematisiert.

Der russische Invasion und die Landwirtschaft

Ohne Frage ist der Einfluss des Krieges in der Ukraine verheerend für die ansässige Landwirtschaft. Weizenfelder wurden zu Schlachtfeldern und im trockenen Sommer kam es bei Raketeneinschlägen leicht zu Bränden. Ernten wurden völkerrechtswidrig konfisziert oder Produkte zwangsverkauft. Herkömmliche Import- und Exportwege schlossen sich und zerrissen so die Lieferketten, die sehr fein aufeinander abgestimmt werden müssen, um im Agrarsektor profitabel zu sein. Die politisch instabile Lage erschwert Investitionen in die Zukunft. Dies alles ließ die Lebensmittelpreise innerhalb der Ukraine mächtig ansteigen, also in einem Land, dessen Pro-Kopf-Einkommen dem El Salvadors entspricht.

Wesentlich umstrittener ist jedoch die Frage, welchen Einfluss der Krieg auf das globale Ernährungsregime hatte. Der Westen warf Russland vor, den Welthunger als Waffe einsetzen zu wollen und berief sich auf das Bild der Ukraine als „Kornkammer der Welt”. Tatsächlich ist diese These jedoch in der Forschungsliteratur umstritten. Ein Grund dafür ist, dass Interessengruppen und Forschung auf dem Gebiet der Agrarökonomie so verzahnt sind, wie womöglich nur im Finanzsektor. Derek Hall konnte hier drei Hauptströmungen ausmachen. Erstens die Interpretation eines Schocks, der durch den russischen Krieg verursacht sei. Zweitens die Interpretation eines großen Einflusses, der aber auf die Struktur der Lebensmittelindustrie selbst zurückzuführen sei. Und drittens die Interpretation eines kaum spürbaren Einflusses.

Die Schock-Interpretation

Sowohl im akademischen Mainstream als auch in einigen kritischen Berichten wurde das Bild des „Schocks“ bemüht, um die Auswirkungen des Ukrainekriegs auf die Lebensmittelmärkte zu beschreiben. Das Zusammenspiel zwischen chemischer Düngemittelindustrie, Energie, Transportkapazitäten und Preisen sei so empfindlich, dass ein Krieg auf dem Boden eines so hochproduktiven Erzeugers wie der Ukraine dieses Gefüge zwangsläufig sprengen müsse. Ein Teil dieses Diskussionsstranges sieht den Krieg als Höhepunkt vieler aufeinanderfolgender Krisen – Finanzkrise, Klimawandel, Covid -, während andere die Singularität dieser Krise betonen. William Moseley etwa verglich den Krieg mit einem Dürrejahr, von dem es bereits viele gegeben habe und dem viele noch nachfolgen werden.

Hall schreibt, dass die „Schock“-Interpreten sich im Wesentlichen auf die eingetretenen Wirkungen stützten, also eher deskriptiv argumentierten. Ein überzeugendes, analytisches Modell des Zusammenspiels der einzelnen Komponenten gebe es nicht. Es würden die betroffenen Bereiche meist aufgezählt und mehr oder weniger detailliert dargestellt, aber deren Wechselwirkungen und Abhängigkeiten fänden kaum Beachtung. So sind es natürlich die Preiserhöhungen, die besonders ärmere Länder treffen, aber zwischen Krieg und Preiserhöhung liegt eine Art Black Box.

Beispielhaft kann man den Bericht zur Ernährungssicherheit und Unterernährung der Food and Agriculture Organization of the United Nations anführen, den Hall etwas ausführlicher diskutiert.

Abbildung: FAO, IFAD, UNICEF, WFP and WHO. 2022. The State of Food Security and Nutrition in the World 2022.
Repurposing Food and Agricultural Policies to Make Healthy Diets more Affordable. Rome: FAO. S.5.

Während das hier aufgezeigte Modell zwar sehr komplex ist, ist es doch nur wenig operationalisierbar. Die Schätzungen des Einflusses des Krieges hängen bei der FAO letztendlich nur von Schätzungen des Preisanstiegs von Weizen plus einem abgeschätzten Rohlölpreis und reflektieren damit kaum eine realistische Antwort des gesamten „Organismus“. Und das, obwohl man sich des komplexen Zusammenspiels offenbar durchaus bewusst ist.

Die Systemkrise-Interpretation

Ein zweiter Strang, der im Wesentlichen aus der kritischen Agrarökonomie kommt, stimmt mit dem Mainstream zwar darin überein, dass der Krieg in der Ukraine massiven Einfluss auf das Welternährungsregime hatte, benennt diesen jedoch nicht als Ursache, sondern nur als Auslöser. Ursache sei das System an sich. Zu diesen Vertretern zählen das FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk oder das International Panel of Experts on Sustainable Food Systems. Die Vernichtung traditioneller Ernährungsweisen, die Lebensmittelimportabhängigkeit der kapitalistischen Peripherie, Monokulturen, Schuldenregime, Investitionsanreize für Biosprit, ungleiche Verhandlungsbedingungen, Patentmonopole und die Spekulation mit dem Hunger seien der skandalöse Alltag, in dem die aktuelle Krise nur die Spitze des Eisbergs wäre.

Diese Expert*innen fordern eine prinzipielle Umkehr in der globalen Ernährungspolitik und sehen in der aktuellen Krise sogar die Chance, die Instabilität der aktuellen Handelsbeziehungen zu veranschaulichen. Ibrahima Coulibaly etwa sagte, dass es Fake News seien, dass Afrika auf ukrainischen Weizen angewiesen sei. Stattdessen bräuchte der Kontinent wieder Autonomie über seine Landwirtschaft. Da der Westen jedoch vom momentanen Status Quo profitiere, könnten dessen Interessen vielleicht gar nicht in der Verhinderung von Hungerkatastrophen liegen. Es könnte vielmehr so sein, dass er befürchtet, dass die Ausfälle aus der Ukraine alternative und lokalere Produktions- und Handelswege öffne und damit ein Stück Kontrolle über Afrika entziehe. Daraus leitet Hall ab, dass es auf Seiten dieser kritischen Agrarökonomen stillschweigende Zustimmung zu Putins Angriffskrieg gäbe.

Die Spekulations-Interpretation

Ein kleiner Teil der Forscher*innen hingegen sieht die aktuelle Ernährungskrise überhaupt nicht in der Realökonomie begründet. Global wären die Weizenreserven zu groß, als dass die Ausfälle in der Ukraine einen nennenswerten Effekt hätten. Einzig Reibungsverluste bei der Umstellung der Lieferketten seien zu erwarten gewesen. Dass es dennoch sichtbare Effekte gebe, habe mit der Börsenspekulation zu tun. So schrieb Rupert Russell in der Jacobin, dass die Wall Street und nicht der Kreml für die steigenden Lebensmittelpreise verantwortlich gemacht werden müsste. Allerdings ist sich dieser Strang nicht einig, wie es zu den Spekulationen kam. Während ein Teil die Informationspolitik der Regierungen kritisierte, die mit Horrormeldungen über künftige Engpässe die Investoren verschreckt hätte, sehen andere in letzteren das Problem. Viele Händler hätten die Unsicherheit und die Krisenstimmung für mächtige Preisaufschläge genutzt. Die Möglichkeiten, auf die Preisanstiege zu reagieren, wären demnach eine strengere Börsenkontrolle und eine verbesserte politische Kommunikation. Auch hier steht natürlich der Verdacht im Raum, dass nicht Russland den Hunger als Waffe nutzen wollte, sondern der Westen moralische Überlegenheit durch übertriebene Panikmache zu schaffen suchte.

Derek Halls Synthese

Derek Hall kritisiert alle Erklärungsansätze dafür, dass sie den Krieg in der Ukraine als exogene Größe behandelten, anstatt auch die Ursachen des Krieges im globalen Ernährungsregime zu suchen. Er versucht, den Krieg als eine Form des Land Grabbings darzustellen. Wenn die Ukraine die Kornkammer der Welt sei, dann ist die politische Kontrolle über die Ukraine auch als wesentlicher Hebel des russischen Imperialismus zu betrachten.

Was an dieser Analyse stimmt, ist, dass Land Grabbing ein wichtiges Thema in der Ukraine ist. Bis vor kurzem gab es starke Beschränkungen des Bodenerwerbs durch ausländische Investoren. Auch dies war ein Zankapfel im Streit um das Assoziierungsabkommen zwischen Janukowitsch und der EU. Solche Regelungen hätten im Zuge des EU-Beitritts der Ukraine abgebaut werden müssen. Nach dem Maidan wurde das Land Grabbing über Mittelsmänner auch nach und nach durch Reformen legalisiert. Zuletzt wurden die Hindernisse des Landerwerbs durch ausländische Investoren 2022 erneut gelockert, um der angeschlagenen Landwirtschaft eine Zukunftspersoektive zu schaffen und sei es um den Preis ihres Ausverkaufs. Insofern hängen natürlich Krieg und Land Grabbing miteinander zusammen, aber nicht so simpel, wie Hall es darstellt. Obwohl Hall die Ursachen des Krieges als komplex und umstritten darstellt und durchaus auch auf dem Westen gegenüber kritisch eingestellte Quellen verweist, dekontextualisiert Hall den Konflikt zu stark, baut ein einfaches Aggressor-Opfer-Schema auf nährt es mit sehr anstrengendem Moralismus.

Hall wirft insbesondere den kritischen Ernährungsstudien vor, nicht solidarisch genug mit der Ukraine zu sein. Vielmehr würden sie die Vorkriegsukraine als Teil des Problems ansehen, die durch ihre guten geographischen Bedingungen und die Produktivitätssteigerungen in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem Großteil des Weltmarktweizens beitrage. Müsste die Ukraine ihre Landwirtschaft im Zuge des EU-Beitritts für weitere Investitionen öffnen, würde sie von der protektionistischen Agrarpolitik der Staatengemeinschaft profitieren und mit der EU im Rücken noch größere Handelsvorteile bekommen, hätte sie zu einer Verschärfungen der Probleme des globalen Ernährungsregimes noch mehr beigetragen. Daher unterstellt Hall ihnen stille Sympathie für den Einmarsch, von dem sie sich eine reinigende Krise erhofften.

Zusammenfassung

Trotz dieser Mängel schafft Derek Halls Systematisierung immerhin eines. Die Mängel beeinträchtigen die komplette Studie nicht so sehr, dass man nicht einiges aus ihr lernen könnte. Man sollte den appellativen Ton der Studie auch nicht pauschal verurteilen, schließlich fordern auch Linke von der Wissenschaft, Haltung zu zeigen. Das muss man respektieren, auch wenn man die politische Einschätzung nicht teilt.

Die Systematisierung des wissenschaftlichen Diskurses und die Literangabe als kleine Bibliographie haben auf jeden Fall großen Wert. Halls Darstellung macht offenkundig, dass sich der Kapitalismus mit seinem globalen Ernährungsregime ein Rätsel geschaffen hat, dass er selbst zu lösen nicht mehr im Stande ist. Innerhalb der großen Unklarheit positionieren sich einzelne Institute und Lobbygruppen je nach nationalen und Klasseninteressen und liefern gleichermaßen überzeugende wie unvollständige Erklärungen. Innerhalb dieses Konzepts wird dann aber auch verständlich, warum gerade in der kapitalistischen Peripherie die Anteilnahme am Krieg in der Ukraine eher gering ist. Die marxistische Durchdringung der Agrarökonomie bleibt eine Arbeit, die noch geleistet werden muss, und die vielleicht noch komplizierter ist, als die des Finanzsektors. Allen Forscher*innen auf diesem Gebiet sei viel Erfolg gewünscht.

Literatur:

Hall, D. (2023): Russia’s invasion of Ukraine and critical agrarian studies. In: The Journal of Peasant Studies, Jahrgang 50. Ausgabe 1, S.26-46.

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