Wahrscheinlich hat Marx Recht

⋄ Das Buch Laws of Chaos (1983) beeinflusst in den vergangenen 40 Jahren zahlreiche marxistische Ökonom*innen.

⋄ Die Autoren Moshe Machover und Emmanuel Farjoun präsentierten darin eine wahrscheinlichkeitstheoretische Interpretation der marxistischen Wertrechnung, die Thermodynamik in der Physik angelehnt ist.

⋄ Das
How Labor powers the Global Economy, welches sie mit David Zachariah zusammen schrieben, ist das Sequel zu Laws of Chaos.

⋄ Sie entwickeln darin ihren Ansatz hinsichtlich Arbeitswertrechnung und empirische Anwendung weiter.

⋄ Sie können empirisch und theoretisch zentrale Aussagen des dritten Kapitalbandes und die Lösungsunfähigkeit des Kapitalismus belegen, Menschheitsprobleme zu lösen.
Moshe Machover, einer der drei Autoren (von den anderen leider keine Bilder mit CC-Lizenz vorhanden)

Es könnte eines der spannendsten Buchprjekte des Jahres 2022 sein. Fast 40 Jahre nach Laws of Chaos bringen die beiden israelischen Wissenschaftler Emmanuel Farjoun und Moishe Machover einen zweiten Band ihres Erstlingswerks heraus. Hilfe erhalten sie von David Zachariah aus Schweden. Mit ihrer wahrscheinlichkeitstheoretischen Interpretation (hier zusammengefasst) der Durchschnittsprofitrate entwickelten sie 1983 einen originellen Ansatz zur empirischen Analyse der kapitalistischen Wirtschaft … und knüpften Verbindungen zur theoretischen Physik. Während sich Laws of Chaos eher mit grundsätzlicher Methodik befasste und die empirische Bestätigung eher dünn war, soll nun How Labor powers the Global Economy die praktische Anwendung veranschaulichen. Was sind die zentralen Aussagen des Buches?

Die Methode

Der theoretische Ansatz der Autoren besteht darin, dass Arbeit die wesentliche Ressource der Ökonomie ist. Kapital ist entweder die Verfügungsmacht über kommende wertbildende Arbeit oder über bereits vergegenständlichte Arbeit in Form von Produktionsmitteln. Die Arbeit selbst könne in Minuten, Stunden, etc. gemessen werden.

„Anders als Währungsgeld und andere Formen des Kapitals ist die Arbeitszeit unbestechlich, sie ist die eine und einzige harte Währung. Zeit ist Geld, sowie Arbeitszeit der einzige reale Kostenfaktor ist!“

S.5

Damit weisen sie vor allen Dingen die Vorstellungen vieler bürgerlicher Ökonom*innen zurück, dass Lohn und Kapital zwei separate Beiträge zum Wert beitrügen. Die unterschiedliche Qualifizierung der Arbeitskräfte wird dadurch verrechnet, dass einerseits in der Qualifikation bereits Arbeitskraft in Form von Bildung im Menschen vergegenständlicht wurde und zweitens durch die wahrscheinlichkeitstheoretische Verteilung der Löhne. Damit kommen wir auch schon zur Besonderheit von Farjoun und Machover: dem probabilistischen Ansatz.

„Ein wichtiger Unterschied zwischen unserer Analyse und der eher traditionellen Lesart der Arbeitswertlehre ist der, dass wir nicht einen hypothetischen „Wert der Arbeitskraft“ annehmen. Wir fassen dagegen die Heterogenität der Löhne als fundamental und nicht ableitbar auf und quantifizieren sie in Bezug auf ihre Kaufkraft.“

S.83

Löhne sind also notwendigerweise unterschiedlich hoch, aber nicht beliebig. Sie sind wahrscheinlichkeitstheoretisch verteilt, wobei sich diese Verteilung durch eine Gamma-Funktion darstellen lässt.

Der rot markierte Bereich bildet 50% der Arbeiter*innen ab. Die blaue Stelle den Durchschnittslohn. Eine solche Verteilung macht deutlich, warum der Durchschnittslohn höher ist, als der Lohn, den 50% der Arbeiter*innen bekommen. Wie diese Verteilung zustande kommt, wird nicht noch einmal separat erläutert, sondern auf das erste Buch Laws of Chaos verwiesen. Gleiches gilt für die Profitraten. Durchschnittslohn und Durchschnittsprofitrate seien nur gravitative Zentren für alle Löhne und alle Profite, wobei die Mehrzahl von ihnen unter dem Durchschnitt liege.

Jedes einzelne Kapital folge dabei rationalen Interessen und müsse bestimmte Regeln befolgen. So dürfe eine neue Produktionsmethode nicht unproduktiver sein als eine alte. Extraprofite durch Monopolstellungen werden im Modell nicht berücksichtigt. Geschenke der Natur gehen nur mit dem Wert der Arbeitskraft ein, die zu ihrer Bereitstellung notwendig ist. Die Entscheidungen, die ein Unternehmen au mikroskopischer Ebene treffen kann, sei nicht determiniert, sondern bewege sich innerhalb einer oberen und einer unterem Grenze. So liege die untere Grenze des Lohns dort, wo die Arbeitskraft nicht mehr reproduziert werden kann, die obere dort, wo der komplette Mehrwert aufgefressen wird. Innerhalb dieser Grenzen verhielten sich die Einzelentscheidungen dann global gesehen wahrscheinlichkeitsverteilt.

Theoretische und empirische Ergebnisse

Mit Hilfe dieses Ansatzes arbeiten die Autoren dann einige Konzepte heraus, mit deren Hilfe sie Daten der bürgerlichen Ökonomie nutzen können, um sie in einem Marx sehr nahestehenden System zu analysieren. Dabei kommen sie auf folgende Erkenntnisse:

  • Die von Marx aufgestellte Tendenz, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals (das Verhältnis von Produktionsmitteln zur Arbeitskraft) zunehmend steige, konnte sich empirisch bestätigen. In den entwickelten kapitalistischen Ökonomien beträgt der Anstieg jährlich fast 3%, bis zum zweiten Weltkrieg etwa 2%
  • Totale Automatisierung ist aus den inneren Gesetzen des Kapitalismus nicht möglich. Man brauche weder Dystopien einer riesigen Arbeitslosigkeit noch Utopien eines fully automated space capitalism wissenschaftlich zu berücksichtigen. Eine minimale Grenze des Anteils lebendiger Arbeit an einer Produktion können die Autoren mit 5,4% beziffern, wenn eine Mehrwertrate von 50% vorausgesetzt werde.
  • Die Mehrwertrate bzw. die Ausbeutungsrate schwankt seit fast 150 Jahren stabil um die 50%. Ausnahme ist der Immobilienmarkt, auf dem im wesentlichen Renten und keine Profite erwirtschaftet werden. Regional gibt es kaum Unterschiede. Marx hatte ein gutes Händchen, in seinen Rechenbeispielen meistens von dieser Rate auszugehen.
  • Bei konstanter Mehrwertrate und steigender organischer Zusammensetzung ergibt sich die fallende Profitrate von selbst. Die Autoren zeigen jedoch auch auf, dass die Flucht in die Finanzmärkte, in denen manchmal die Gewinnerwartungen grenzenlos zu sein scheinen, streng durch den produktiven Sektor limitiert ist.
  • Um trotz sinkender Profitrate die Profitmasse zu erhöhen oder wenigstens konstant zu halten ist die Ausdehnung des Kapitalismus in bisher nichtkapitalistische Bereiche notwendig. Die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten muss wachsen, was sich in den empirischen Daten auch zeigt. Weltweit nimmt die Zahl der Lohnarbeiter*innen um ca. 1,5% zu, wobei die Tendenz in den entwickelten kapitalistischen Staaten eher bei 0,5% liegt.

Zukunftsaussichten

Vor diesen empirischen Ergebnissen halten Machover, Farjoun und Zachariah fest, dass zentrale Probleme der Menschheit in einer profitorientierten Wirtschaftsweise nicht gelöst werden können. Die Natur muss im Kapitalismus stärker ausgebeutet werden, die Arbeitszeit muss steigen, der Müll muss zunehmen. Sie referenzieren auf Albert Einstein, dass nur eine geplante Wirtschaft die Lebensgrundlagen aller Menschen gewährleisten könne. Zu lösen seien für Wissenschaftler*innen in erster Linie die Probleme des Übergangs. Als begünstigenden Faktor sehen die Autoren an, dass die von Marx prognostizierte Zentralisierung des Kapitals weitestgehend eingetreten sei, sodass große Firmen zwar große Macht hätten, aber auch ein klares markierbares Ziel seien. Sie fragen auch nach den Bruchstellen, an denen revolutionäre Bewegungen ansetzen könnten. Sie sehen den Logistik-, Transport- und Energiesektor der entwickelten kapitalistischen Staaten als einen kritischen Sektor, der alle anderen Industrien beeinflusst. Zudem müssten revolutionäre Bewegungen sowohl Arbeiter*innen aus verschiedenen Rollen (Reproduktions- und Produktionsarbeiter*innen, qualifizierte und unqualifizierte) zusammenbringen, sowie Arbeiter*innen aus verschiedenen Regionen.

Als offene theoretische Fragen werfen die beiden Autoren auf, dass die Theorie noch nicht erklären könne, warum die Mehrwertrate so stabil ist, wie empirisch nachgewiesen. Hier öffnet sich die Schnittstelle zur Soziologie der politischen Kämpfe. Weiterhin sei nicht geklärt, wie das Kapital zukünftig praktisch mit der sinkenden organischen Zusammensetzung umgehe, da der Service-Sektor nicht unbegrenzt wachsen könne und zu viele Arbeitslose jedoch die Gesamtproduktivität senkten.

Zusammenfassung

How Labor powers the Global Economy ist eine Blaupause dafür, wie man mit Hilfe des wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatzes und weniger plausibler Gesetze empirisch arbeiten kann. Der Formelapparat ist simpel, wenn man sich nicht von geschwungenen Buchstaben und den vier Grundrechenarten abschrecken lässt. Man merkt, dass drei Mathematiker das Buch geschrieben haben. Auf nur 150 Seiten ist viel Inhalt komprimiert und auf Wiederholungen wird verzichtet. Der Nachteil: Die Autoren setzen voraus, dass man Laws of Chaos gelesen hat, wenn amn verstehen will, warum dasieser probabilistische Framework funktioniert.

Farjoun, Machover und Zachariah betreiben keine Marx-Exegese, sondern argumentieren in einer Sprache, die auch bürgerliche Ökonom*innen verstehen. Sie zeigen auf, dass unter sehr einsichtigen Prämissen zentrale Aussagen des dritten Kapitalbandes theoretisch schlüssig sind und belegen dies mit empirischen Daten. Dabei geht zwar die ein oder andere Pointe der Kritik von Marx verloren, etwa wenn die Autoren davon schreiben, dass es die abstrake Arbeit seit the dawn of mankind gegeben hätte. Marx hätte scharf widersprochen. Da sich die Autoren sich ohnehin nur mit dem Kapitalismus beschäftigen, bleiben solche Differenzen folgenlos.

Leider kommt der materielle Gehalt des wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatzes im Buch zu kurz. Die Mathematik versteckt sich im Anhang. Hier und da werden Ergebnisse als Flächen unter einer Gamma-Kurve dargestellt, aber so richtig wird nicht deutlich, was daraus folgt. Die Wechselwirkung zwischen der makroskopisch analysierbaren Wahrscheinlichkeitsverteilung und den mikroskopisch wirkenden Imperativen wird kaum problematisiert. Der Aha-Effekt des ersten Werks bleibt somit aus. Farjoun, Machover und Zachariah haben also ihren Ansatz noch lange nicht erschöpfend behandelt, sondern mehr eine knappe Skizze dessen Potentials vorgelegt. Schlecht für jede, die sich mehr konkrete Ergebnisse erhofft hätten; gut für jene, die noch die Schätze dieser Theorie bergen wollen.

Literatur:

Forjoun, E., Machover, M. & Zachariah, D. (2022): How Labor powers the Global Economy. Cham: Springer.

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