War Marx Speziesist?

⋄ Unter Speziesismus versteht man die strenge Unterscheidung und Hierarchisierung von Mensch und Tier.

⋄ Von Seiten der bürgerlichen Tierrechtsbewegung wurden Marx und Engels Speziesismus und Anthropozentrismus vorgeworfen.

⋄ Michael Sommer und Christian Stache untersuchten in der Capital&Class, ob sich dieser Vorwurf jenseits einzelner Zitate aus dem Frühwerk belegen lässt.

⋄ Sie zeigten auf, welche Aspekte des Marxschen Arbeitsbegriffs rein menschlicher und welche interspeziesistischer Art sind.

⋄ Sie resümmieren, dass nicht Marx in der Theorie den Menschen vom Tier unterscheide, sondern der Kapitalismus in seiner Praxis.
Wie weit darf die Gleichsetzung von Mensch und Tier gehen?

Veganismus ist in der Linken ein heiß diskutiertes Thema, da es in die unmittelbaren Lebensgewohnheiten eingreift. Manche Genoss*innen essen aus ökologischen Gründen vegan, etwa um Emissionen zu reduzieren. Andere aus sozialen, um zum Beispiel die Vertreibung von Indigenen für Weideland nicht zu unterstützen. Andere erwägen gesundheitliche Gründe und wieder andere halten Veganismus für bürgerliche Konsumkritik, die an den eigentlichen gesellschaftlichen Problemen vorbeiginge.

Die Kritik am Speziesismus, die Ablehnung, Tiere zum Mittel des menschlichen Genusses zu degradieren oder für sich nutzbar zu machen, stellt insbesondere für Tierrechtsaktivist*innen eine Motivation dar, auf Fleisch zu verzichten. Mit dem Marxismus verbindet sie eine Hass-Liebe. Auf der einen Seite stellt der Marxismus angesichts der Zuspitzung des Tierleids im industriellen Kapitalismus einen natürlichen Bündnispartner dar. Auf der anderen Seite wird Marx eine Verengung seiner Kritik auf das menschliche Elend unterstellt, die auf Grund eines teleologischen Fortschrittdenkens und übersteigerten Humanismus das Schicksal von Tieren als Produktionsmittel rechtfertige.

Die beiden unabhängigen Hamburger Wissenschaftler Michael Sommer und Christian Stache haben sich der Frage nach einem vermeintlichen Speziesismus von Karl Marx über seinen Arbeitsbegriff angenähert. Ihr Aufsatz Marx’s non-speciesist Concept of Labour erschien aktuell in der Capital&Class als Online First.

Rezeption zur Anthropozentrismus-Frage bei Marx

Zunächst setzten sich Sommer und Stache mit der zeitgenössischen Rezeption zur Marxschen Theorie von Mensch und Tier auseinander (Wenn im Folgenden öfter Mensch und Tier getrennt genannt werden, soll dies nie eine einer strenge Trennung vorwegnehmen, sondern trägt dem Umstand Rechnung, dass Natur- und Gesellschaftswissenschaften historisch begründete unterschiedliche Ontologien besitzen.). Die deutsche interspreziesistische Forscherin Birgit Mütherich warf Marx beispielsweise vor, in einer karthesischen Tradition des Dualismus von Mensch und Tier zu stehen und den neuen Menschen im Kommunismus als Antithese zum Tier anzusehen. Auch Tierbefreiungsaktivisten wie Steven Best hätten diesen Vorwurf bereits erhoben.

Rene Descartes sah eine strenge Distinktion von Mensch auf der einen und Natur auf der anderen Seite. Dass Marx dessen Ansatz übernommen habe, ist bereits angesichts der Marxschen dialektischen Methode nicht plausibel. Doch auch Descartes´ Trennung von menschlicher Substanz und natürlichem Körper wäre mit dem Materialismus nicht vereinbar. Im Gegenteil lassen sich insbesondere im Marxschen Frühwerk einige Kritiken an Descartes’ Metaphysik finden. Eines der wenigen stichhaltigen Indizien ist die sprachliche Nebeneinanderstellung von “Mensch und Natur”. Ob diese Aufzählung jedoch auf eine scharfe Grenze hinweist oder den Lesegewohnheiten des Zielpublikums geschuldet sein mag, ist nicht eindeutig.

Marx über Tier und Mensch

Dass Marx unterscheidet in den Pariser Manuskripten zwischen bewusster Tätigkeit des Menschen und gattungsspezifischer Arbeit im Tierreich. Da mittlerweile wissenschaftlich erwiesen ist, dass sich auch Tiere bereits Vorstellungen von ihren Arbeitsergebnissen machen können, ist die Gegenüberstellung nicht mehr zeitgemäß. Heute müsste man wohl eher vom gattungsspezifischen Bewusstsein des Menschen sprechen. Dies konnte Marx noch nicht wissen. Gleiches gilt für folgenden Satz aus dem Kapital:

“Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.”

MEW 23, S.193

Sommer und Stache stellen jedoch in Frage, ob dieser Satz wirklich nur unter dem Blickwinkel der Differenz gelesen werden sollte oder ob Marx sogar gegenteilig nur deshalb die Arbeit der Spinne und de*r Spinner*in miteinander vergleichen kann, weil sie eben Gemeinsames besitzen.

Ein weiteres Indiz für einen vermeintlichen Anthropozentrismus im Marxismus ist die Unterscheidung zwischen Mensch und Affe an Hand der Arbeit, wie sie Friedrich Engels im Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen vornimmt. Die Autoren argumentieren hier, dass Engels auch sagt, dass “die Hand nicht nur das Organ der Arbeit [ist, sonder auch] ihr Produkt” (MEW 20, S.445) sei. Es muss also einen fließenden Übergang zwischen Mensch und Tier gegeben haben, wenn die Arbeit der Hand als Distinktionsmerkmal des Menschen voranging. Noch direkter wird Engels, wenn er die “widersinnige und widernatürliche Vorstellung von einem Gegensatz zwischen Geist und Materie, Mensch und Natur, Seele und Leib, wie sie seit dem Verfall des klassischen Altertums in Europa aufgekommen und im Christentum ihre höchste Ausbildung erhalten hat”, (MEW 20, S.453) kritisiert.

Gemeinsamkeiten menschlicher und tierischer Arbeit

Nach Sommer und Stache muss zur Erörterung der Tier-Mensch-Auffasung von Marx der Arbeitsbegriff zentral herausgearbeitet werden. Die beiden Autoren halten dabei zunächst fest, dass es in allen überlieferten Schriften von Marx keinen expliziten methodischen Kommentar gäbe, der den Begriff der Arbeit allein auf den Menschen beschränke.

Wichtig ist, dass Arbeit eine Doppelgestalt in Form konkreter und abstrakter Arbeit besitzt. Konkrete Arbeit ist jedwede “Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv”, die zielgerichtet Materie verändert. Nach dieser Definition ist die Arbeit von Tieren und Menschen zunächst nicht unterscheidbar. Da der Kommunismus eine rein nach konkreter Arbeit planende Gesellschaftsform ist, eröffnet er somit eine erste speziesismuskritische Perspektive.

Die abstrakte Arbeit als soziales Verhältnis ist etwas komplizierter. Der erste Anknüpfungspunkt dafür, dass diese in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie nicht scharf anthropozentrisch betrachtet werden kann, ist der Umstand, dass sich der Wert der Ware Arbeitskraft des Menschen wie der jeder anderen Ware verhält. Er entspricht den Mitteln zur Reproduktion ihres Gebrauchswerts. Unabhängig davon, ob ein Tier hier als Sache behandelt würde oder nicht: für die Proletarier*in unterscheidet sich ein wesentlicher Bestandteil ihres Wesens nicht von dem einer Sache und somit selbst in der vermeintlich speziesistischen Lesart nicht vom Tier. Ebenso gemeinsam haben Mensch und Tier, dass beider Produktivkraft ein Produkt der historischen, sprich evolutionären Entwicklung ist.

Der feine Unterschied

Die Vergleichung von Mensch und Tier findet jedoch im Arbeitsbegriff ebenso ihre Grenze. Es steht außer Frage, dass sich die Arbeit von Tieren von der des Menschen im Spiegel des historischen Materialismus mindestens in dem Ausmaß unterscheiden muss, sowie sich der Charakter der Arbeit zwischen verschiedenen historischen Epochen unterscheidet. Daher stellt Marx im Kapital klar. Abstrakte Arbeit ist ganz explizit “gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit.” (MEW 23, S.52) bzw. “bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit” (MEW 23, S.52). Diese Einschränkung macht Marx nicht willkürlich. Abstrakte Arbeit kann nur in Gesellschaften auftreten, die Eigentum kennen und auf äquivalentem Tauschhandel beruhen. Dass die Proletarier*in ihre Arbeitskraft verkaufen muss, setzt voraus, dass sie wenigstens dieses Eigentum besitzt und damit verkaufen kann. Tiere besitzen jedoch nicht im strengen Sinne Eigentum. Sie können vielmehr Eigentum sein und werden.

Man ginge jedoch fehl, Marx auf Grund dieser Feststellungen Speziesismus zu unterstellen. Sommer und Stache schreiben:

“Es ist nicht Marx, der Tiere von seiner Konzeption der kapitalistischen Gesellschaft ausnimmt. Die Gesellschaft ist in dieser Weise strukturiert, dass sie nur menschliche Arbeit als Arbeit wahrnimmt und verschiedene menschliche Arbeiten vergleicht, indem sie ihre Produkte vergleicht.”

S.11

Arbeit von Tieren wurde zwar schon vor dem Kapitalismus genutzt. Aber anders als in der heutigen Gesellschaft waren sie nicht so streng aus der Gesellschaft exkludiert wie heute. Ein besonders prägnantes Beispiel sind die mittelalterlichen Tierprozesse, in denen Schweine strafrechtliche Urteile erhielten oder Ratten angeordnet wurde, eine Stadt zu verlassen. Die Dynamik, welche die zunehmende Trennung von Mensch und Natur im Laufe der Geschichte bis zum modernen Kapitalismus vorantrieb, liegt in einem Unterscheidungsmerkmal begründet: die Fähigkeit des Menschen, dauerhaft ein Mehrprodukt zu schaffen und dieses zu akkumulieren. Diese erlaubte eine Arbeitsteilung, die sich qualitativ von Arbeitsteilungen im Tierreich unterscheidet. Allerdings zu einem Preis. Die Schaffung eines Mehrprodukts bildete die Grundlage dafür, Menschen von den Mitteln ihrer eigenen Reproduktion auszuschließen, in Klassen zu spalten und ihn zu entfremden. Erst durch die Überwindung dieser Entfremdung mittels gemeinschaftlicher und geplanter Produktion kann der Menschen wieder seinem Gattungswesen annähern.

Das Verhältnis, welches Kultur und Natur in dieser Argumentation einnehmen, geht über einen bloßen Gegensatz hinaus. Während der Mensch sich seines natürlichen Ursprunges durch Kultur entfremdet hat, ist wiederum die auf die Spitze getriebene Kultur die Rückkehr zur Natur auf höherer Stufenleiter. Während Kultur hier explizit auf die menschliche Gesellschaft angewandt wird und der historische Materialismus sich auf die menschliche Praxis beschränkt, bleibt die Dialektik dieser Bewegung nicht allein dem Menschen vorbehalten. Sie ist ein Bestandteil der prinzipiellen evolutionären Praxis in der Natur, mit dem Menschen als Spezifikum.

Sind Tiere ausgebeutet oder gar überausgebeutet?

Von linken Tierrechtler*innn wird häufig auf eine Ausbeutung oder Überausbeutung von Tieren hingewiesen. Sommer und Stache argumentieren hier folgendermaßen: Da Tiere zwar nicht am sozialen Verhältnis der Lohnarbeit teilhätten, aber in das Kapitalverhältnis als Produktionsmittel eingebunden seien, sehen die beiden Autoren Tiere in einem Verhältnis der Überausbeutung. Sie seien nicht einmal in der Hinsicht frei, wie die doppelt freie Lohnarbeiter*in frei sei. Diese Schlussfolgerung muss man kritisch sehen. Das Kapitalverhältnis ist nach Marx das soziale Verhältnis zwischen den Klassen, dass die Ausbeutung der Arbeiter*innen mit einschließt. Wo es also keinen Sinn ergibt, Tiere als ausgebeutet zu betrachten, macht es ebenso wenig Sinn, sie als überausgebeutet zu betrachten. Die Autoren haben zwar mit ihrer klugen Bemerkung Recht, dass die heutige Gesellschaft, in der Tiere zu reinen Produktionsmitteln degradiert sind, ein Ergebnis von Klassenkämpfen ist, deren aktuelle Form der bürgerlichen Herrschaft anthropozentrisch ist. Daraus ließe sich aber viel besser schlussfolgern, dass die Degradierung des Tieres zum Produktionsmittel historisch auch überwindbar sei, anstatt falsche Unterscheidungen zwischen sozialem Verhältnis und Kapitalverhältnis zu treffen. Tiere sind eine Ware. Sie müssen es nicht bleiben, aber sie sind es. Und Waren an sich können nicht ausgebeutet werden, sondern nur ihren Wert übertragen. Und dieser Wert besteht in der “durchschnittlich menschlichen Arbeit”, ihren Gebrauchswert – Fleisch des Tieres, Muskelkraft – zu produzieren.

Zusammenfassung

Der Vorwurf gegen Marx und Engels, einen scharfen Dualismus von Mensch und Tier vertreten zu haben, resultiert nach Michael Sommer und Christian Stache aus unsystematischem Herangehen and das Werk und einem Missverständnis der Dialektik. Der Wert der marxistischen Theorie bestehe darin, die Degradierung des Tieres als historische Etappe kennzeichnen zu können, damit auf ihre Überwindbarkeit zu verweisen und die Bedingungen zur Überwindung klar aufzuzeigen. Die Grenze zwischen Mensch und Natur zogen Marx und Engels nicht starr und theoretisch, sondern als dialektisch durch historische Praxis entstanden und sich mit dieser weiter entwickelnd.

Berücksichtigt man den sozialen Inhalt des Begriffs der abstrakten Arbeit, so wird auch klar, dass Theorien wie die Gleichsetzung von unbezahlter Reproduktionsarbeit und Tierarbeit oder eine vermeintliche Surplusausbeutung von Tieren bei Marx keine theoretische Fundierung besitzen. In der Kritik der politischen Ökonomie sind Tiere ein Produktionsmittel. Aber unter Berücksichtigung der Entfremdung des Menschen von sich, anderen und der Natur, ist dies kein blinder Fleck bei Marx. Es ist ein Mangel an der kapitalistischen Gesellschaft selbst. Marx hatte sich selbst immer ein weitestgehendes utopisches Bilderverbot auferlegt. Und das erstreckt sich auch auf ein zukünftiges Tier-Mensch-Verhältnis. Ob als eine kommunistische Gesellschaft vegan ist oder welche Beziehung der Mensch zur Tierwelt entwickelt; darüber wird man bei Marx nichts finden. Dass eine Gesellschaftsform, in der der Mensch seine gesamte Umwelt nur unter dem Aspekt der Produktivität, des geldwerten Nutzens und der Ausbeutung betrachtet, dies wird man finden.

Zu guter Letzt: Marx hat keine Abhandlungen für intellektuelle Eliten geschrieben. Marx hat seit der Formulierung des Kommunistischen Manifests das Proletariat als revolutionäres Subjekt angesprochen. Das politische Subjekt seiner Selbstbefreiung ist nach Marx der Mensch selbst. Und der Mensch ist das politische Subjekt der Tierbefreiung. Es ist der durch Menschen geschaffene Kapitalismus, der maßloses und unnötiges Tierleid schafft. Dass er aber durch Tiere abgeschafft werden könne, kann selbst der radikalste Antispeziesist nicht ernsthaft behaupten. Die Adressierung des revolutionären Auftrags von Karl Marx und Friedrich Engels an den Menschen als Speziesismus aufzufassen, mag daher in akademischen bürgerlichen Kreisen als schick gelten, ein realer Beitrag zur Tierbefreiung wird jedoch damit nicht geleistet.

Literatur:

Sommer, M & Stache, C. (2023): Marx’s non-speciesist concept of labour. In: Capital&Class. Online First. DOI: 10.1177/03098168221145453.

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