Kampf ums Kapital: „Wert“-Übersetzungen in Russland und Indien (2/2)

Fortsetzung

Die Entwicklung der indischen kommunistischen Bewegung

1920 fand in Baku der sagenumwobene Kongress der Völker des Ostens statt. Nicht nur die archaischen Räumlichkeiten, die beschwerlichen Anfahrtswege durch Bürgerkriegsgebiete und die dutzenden gesprochener Sprachen ließen den Kongress wie eine kaleidoskopisches Chaos erscheinen. Auch politisch lag das Spektrum von westlich geprägten Kommunisten bis hin zu islamisch-religiösen Bewegungen unglaublich weit auseinander. Die Orientwissenschaften in der jungen sozialistischen russischen Republik waren uneinheitlich und von zwei Fraktionen bestimmt. Da waren die altgedienten Akademiker, die sich im wesentlichen auf ethnografische Forschungen konzentriert hatten und eher mit Fremdheit auf die Völker Asiens und Afrikas blickten. Und die jungen kommunistischen Studierenden, die gemeinsame politische Projekte suchten. Aber was sollte dieses Projekt sein? Die Bolschewiki wollten gleichzeitig eine anti-imperialistische Einheit schmieden, setzten aber gleichzeitig auf industrielle Entwicklung, die in vielen Ländern nur auf Druck des westlichen Imperialismus überhaupt in Gang kam. Das war keine Sache der theoretischen Klärung, sondern eine der kleinteiligen Bewältigungen in unendlich vielen Prozessen politischer Praxis, die nicht alle erfolgreich sein konnten und waren.

Auf dem Kongress wurde neben der Bedeutung der chinesischen Kommunisten die der erst Monate zuvor auf dem II. Weltkongress der Kommunistischen Internationale in Tashkent gegründeten Kommunistischen Partei Indiens in der Eröffnungsrede Sinowjews hervorgehoben. Diese waren bereits sehr selbstbewusst aufgetreten. Während Lenin auf dem II. Weltkongress die Bedeutung der Revolution in Westeuropa noch als maßgeblich erachtete, widersprach KPI-Gründer M.N. Roy und sah die antikolonialen Bewegungen als den wesentlichen Verbündeten Sowjetrusslands.

Wie Marx Indien im Wesentlichen durch Berichte russischer Kollegen kennenlernte, kam Marx über den Umweg von Lenins die Entwicklung des Kapitalismus in Russland nach Indien. Denn die Frage, ob man sich als Kommunisten an die Seite aufständischer Bauern stellen sollte oder gemeinsam mit den Nationalisten erst einen bürgerlichen Staat und die volle Entfaltung der Produktivkräfte anstreben sollte, wurde in der revolutionären Jugend Indiens brennend diskutiert. Die Hauptlinie verweigerte sich der Zusammenarbeit mit Gandhi und der Methode der Gewaltlosigkeit. Roy kritisierte die Darstellung Indiens als feudalen Zwischenschritt zu einem kapitalistischen Staat und pochte auf einen indischen Sonderweg.

Mögen die Übersetzungen beginnen

Erst 1935 änderte sich die Strategie. Die KPI musste sich den Weisungen Moskaus ergeben, die eine Volksfrontstrategie auf die Tagesordnung setzten, da ihr ansonsten der Ausschluss aus der Komintern drohte. Insbesondere die bisher dominierenden intellektuellen Eliten der Partei, die sich offiziell fügten, organisierten Protest gegen diese Rechtswende und zwar auf der intellektuellen Ebene. Da die zweite englische Ausgabe des Kapitals den Kurs der Komintern stützte, wurden Übersetzungen des Kapitals und des Manifests in den einheimischen Sprachen angefertigt. Gangadhar Adhikari, der zeitweilig Doktor der Chemie an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der KPD war, übersetzte 1931 das Manifest in Marathi. Er argumentierte unter anderem für eine Korrespondenz der Begriff von Klasse und Kaste. Das Kapital folgte 1939 durch P.D. Gadghil. Der Übersetzer versuchte hierbei volkstümliche zu bleiben und baute sogar Volkssagen als Anschauungsbeispiele ein.

Diskutiert wurde allerdings insbesondere die Übersetzung in Bengali. Bengalien galt als Musterkolonie, in der die Engländer durch Landnahme Massen von Lohnarbeitern geschaffen hätte, die ein revolutionäres Subjekt bilden können. Der Marxismus entwickelte sich hier zwischen den 30ern und 50ern in den industriellen Zentren und war daher ideologisch dem westlichen Marxismus näher als andernorts. Rebati Barman übersetzte in langen Gefängnisjahren das Kapital beruhend auf der englischen Version von 1886. Diskutiert wurde unter anderem, wie eigentlich der Begriff des Mehrwerts als einem vor der Realisierung in den Profit rein potentiell vorliegenden Arbeitsquantums mit den sprachlichen Mitteln der Bengali-Sprache in Einklang zu bringen war. Erschwert wurde dieses Unterfangen gerade durch die Nutzung der englischen und nicht der französischen Ausgabe.

Mit der Unabhängigkeit Indiens änderte sich auch hier viel. Nach einer anfänglichen Skepsis gegenüber der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion erkannte die Nationalbewegung mit der Zeit, dass eine eigene Industrialisierung und die Substituierung von Importen als wichtige politische Strategie anzuerkennen sei. Krushchev erhoffte sich durch die Modernisierung neutraler, nicht-sozialistischer Staaten eine geringere Abhängigkeit vom Westen und eine prinzipiell wohlgesonnene Mehrheit in der Staatengemeinschaft. Pläne Bukharins zur Hebung des Lebensstandards der Bauernschaft wurden restituiert und große Teile der Landwirtschaft mechanisiert. Allerdings hieß industrielle Entwicklung auch, dass weiterhin ein Mehrwert der Arbeiter*innen und Bauern durch Privatleute oder den Staat angeeignet werden musste, der zur Produktionsmittelerweiterung benutzt wurde, anstatt durch zeitnahen Konsum den Lebensstandard zu heben. Und in diesem Widerspruch bot sich ein alternativer Entwicklungsweg: der Maoismus. 1964 spaltete sich die Kommunistische Partei in arbeiterorientierte Leninisten und bauernorientierte Maoisten.

Viele Wege führen zur Volkstümlichkeit

Analog zirkulierten auch zwei unterschiedliche Übersetzungen des Kapitals im Englischen. Einmal die auf der dritten deutschen Auflage beruhenden von Moore und einmal die auf der in der Sowjetunion kanonisierten vierten Auflage, die durch Engels nach der Bearbeitung der Bände zwei und drei revidiert wurde. Bei der Übersetzung in die indischen Nationalsprachen aber ließ sich der Dualismus zwischen einer trajektoriell offeneren Interpretation historischer Gesetze in der ersten und einer geschlosseneren Interpretation in der zweiten englischen Übersetzung gar nicht aufrecht erhalten. Als 1970 Vasant Tulpule alle drei Bände des Kapitals in Marathi übersetzte, sah er sich stark der sowjetischen Kritik ausgesetzt, den Wert zu nah an der Bedeutung von Produktionskosten übersetzt zu haben … und das obwohl der Unterschied in der zugrunde liegenden Ausgabe offensichtlich herausgearbeitet ist. Tulpule argumentierte, sich streng an das wissenschaftliche Wörterbuch der Universtität von Pune gehalten zu haben. Aber dieses war eben ein bürgerliches Buch, dass sich kaum mit dem Wesensgehalt marxistischer Spitzfindigkeiten auseinandersetzte.

Die Übersetzung in Hindi wurde daher sehr streng von Moskau überwacht. Auf der anderen Seite wurde der erste Übersetzer aller Kapitalbände in Begali, Piyush Dasgupta, wegen linksradikaler Abweichungen aus der Partei geschmissen. Obwohl er die bisherige Volksnähe der Übersetzungen als unwissenschaftlich kritisierte und die Kritik Lenins an popularisierenden Begriffen teilte, nutzte er die von der französischen Übersetzung beeinflusste Moore-Übersetzung anstatt der sowjetisch autorisierten. Er unterschied wieder klar Wert und Produktionskosten und sprach sich für die universelle Geltung der historischen Entwicklung der Warenform aus.

In Indien lässt sich also nicht nur auf Grund der sprachlichen Vielfalt nicht eine bestimmte Begriffs- oder Editionsverwendung mit der politischen Strömung in Verbindung bringen. Sowohl Maoisten als auch Leninisten beanspruchten jeweils, die wahre marxistische Orthodoxie zu vertreten. Die Frage, dies sich stellte, war, ob man lieber die etwas umgangssprachlichere englische erste Übersetzung genauer übersetzen sollte oder die zweite englische Übersetzung notgedrungen etwas vulgärer. Insofern hat Dipesh Chakrabarty Recht, wenn er auf die Übersetzungsprobleme des Kapitals hinweist. Allerdings, welche Kapital-Ausgabe nutzte eigentlich Chakrabarty. Seinen Fußnoten ist zu entnehmen, dass er sich auf die 1990 durch Ben Fowkes übersehene Moore-Übersetzung stützt. In einem 90-seitigen Vorwort legt Fowkes hier dar, dass Marx keine prototypischen Entwicklungen von einer Feudal- über eine kapitalistische hin zu einer sozialistischen Gesellschaft postuliert habe, sondern in der Auseinandersetzung mit französischen, russischen und englischen Sozialisten eine Position der Eigengesetzlichkeit historischer spezifischer Klassenformationen eingenommen habe. Die Kritik Chakrabartys stützt sich also ausgerechnet auf die am wenigsten orthodoxe und als eurozentristisch interpretierbare Version des Kapitals.

Zusammenfassung

Die Übersetzungsdebatten um Stoimost und Tsennost wurden schon häufiger diskutiert, zum Beispiel in den Marx-Engels-Jahrbüchern oder in den Publikationen rund um die MEGA². Stanziani gelingt jedoch eine wunderbare Verknüpfung mit der politischen und historischen Ideengeschichte, welche einen roten Faden von der Marxschen französischen Übersetzung bis zur sino-sowjetischen Spaltung in Indien und zur postkolonialen Theorie spinnt.

Aber natürlich eben auch diese Konflikte mit der Zeit ab. Erstens wird Englisch von immer mehr Menschen gesprochen, sodass der value als eine dem Deutschen sehr adäquate Übersetzung ohnehin in der wissenschaftlichen Debatte dominiert. Zweitens gleichen sich die kapitalistischen Strukturen immer weiter an. Unterschiedliche Lebensrealitäten ergeben sich mehr aus den unterschiedlichen Klassenstellungen innerhalb einer Gesellschaft oder den unterschiedlichen Stellungen der Gesellschaften zum Weltmarkt, aber kaum durch prinzipiell nicht warenförmige Vergesellschaftungsformen. Damit werden die Marxschen Begriffe mit individuellen Erfahrungen gefüllt, um abhängig von der wortwörtlichen Übersetzung. Ähnlich erging es dem Stoimost-Begriff in Russland. Der Blick in die Vergangenheit war spannend. Der Blick in die Zukunft wird noch spannender. Und nichts ist unpolitisch, nicht einmal das richtige Wort für Wert.

Literatur:

Stanziani, A. (2025): How to Translate Value in Marx’s Capital? Political Economy in Global Perspective. In: Global Intellectual History. Online First. DOI: 10.1080/23801883.2025.2456699.

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