⋄ Dipesh Chakrabarty hielt das Kapital auf dem indischen Subkontinent für nicht übersetzbar, da die Begriffe nicht die dortige Realität widerspiegelten. ⋄ Die Übersetzungsgeschichte der drei Bände des Marxschen Hauptwerkes ist in der Tat sehr spannend. Alessandro Stanziani zeichnete die Übersetzung des Wert-Begriffs ins Russische und in die indischen Sprachen nach. ⋄ Er ging dabei insbesondere auf die den unterschiedlichen Übersetzungen zugrunde liegenden politischen Konflikte ein. ⋄ Wurde der Wert eher mit Preis übersetzt, dann wurde das Kapital als Beschreibung eines historisch spezifischen Weges Europas interpretiert; wurde ein grundsätzlicherer Wert-Begriff gewählt, dann wurde die Kritik der politischen Ökonomie als allgemeingültiger angesehen. ⋄ In Russland etwa neigten die Revisionisten zum Wort Tsennost, während die Leninisten eher Stoimost wählten. Ein Zweiteiler. |

Als Dipesh Chakrabarty in Provincialisng Europe die Übertragbarkeit europäischer politischer Konzepte auf die indische Gesellschaft in Frage stellte, nutzte er auch Marx als Beispiel. Die Begriffe Wert, Arbeit und Kapital seien nicht nur nicht mit der indischen Realität und ihren verschiedenen Formen an Eigentum, kulturellen Überlappungen und kollektiven Produktionsmethoden vereinbar, die Begriffe ließen sich nicht einmal sinnvoll übersetzen. Mehr oder weniger könne kein Inder Marx lesen, ohne sich einer kolonialen Begriffswelt zu ergeben, die es ja eigentlich zu überwinden gelte. Das Argument hat in einer historisch-materialistischen Interpretation der Erkenntnistheorie natürlich Gewicht. Begriffe erhalten ihre Bedeutung ja durch gesellschaftliche Praxis und wenn diese nicht vorliegt, bleibt auch ein Begriff bedeutungslos. Es gibt allerdings auch eine wesentliche Verkürzung bei Chakrabarty. Denn die indischen Kommunist*innen benutzten in ihren jeweiligen Sprachen abseits des Englischen gar nicht nur ein Wort für Wert. Es gab mehrere Übersetzungen, je nach politischer Ausrichtung und gesellschaftlicher Situation. Wenn der Begriff des Wortes Wert der indischen Gesellschaft also so fremd sei, wie lässt sich dann die unterschiedliche Einbettung erklären? Alessandro Stanziani von der Pariser CNRS hat die höchst spannende Übersetzungsgeschichte des Wert-Begriffs in Russland und Indien nachgezeichnet.
Die berühmte französische Übersetzung
Marx beschäftigte sich in zwei Etappen seiner politischen und wissenschaftlichen Biographie mit Russland und Indien. Die erste war während seiner journalistischen Tätigkeit in den 50er und 60er Jahren. Hier lassen sich viele Zungenschläge herauslesen, wo Marx die Länder jeweils als rückständig am Maßstab einer europäischen prototypischen Entwicklung sieht. Die zweite Phase ist die in der Folgezeit der Veröffentlichung und der ersten Übersetzungen des Kapitals. Marx stand im regen Austausch nicht nur mit einem deutschen, sondern einem internationalen Publikum. Die tiefergehende Analyse der politischen Ökonomie scheint hier ein Umdenken hinsichtlich der Wirkungsweise historischer Gesetze bewirkt zu haben. Anstatt einen großen überhistorischen Entwurf anzufertigen, geht es mehr um die Wirkung der konkreten Klassenzusammensetzungen auf Ökonomie und Bewusstsein. Marx lässt sogar fallen, dass die russische Dorfkommune vielleicht ohne kapitalistischen Zwischenschritt zum Sozialismus übergehen könne.
Bereits im Jahr der Herausgabe des ersten Kapital-Bandes 1867 nahm Marx Kontakte hinsichtlich einer Übersetzung ins Französische auf. Erste Auszüge wurden 1872 veröffentlicht und 1975 folgte der komplette erste Band. Sein Verleger Lachatre zeigte sich jedoch unzufrieden. Er lese das Buch zwar mit Interesse, aber er verstehe es nicht. Er nahm an, auch anderen französischen Lesern würde es so gehen und schlug eine gewöhnlichere Sprache vor. Marx überarbeitete seine Übersetzung diesen Wünschen gemäß komplett und die französische, überarbeitete, Version wurde ein recht großer Erfolg. Die zugängliche Sprache führte dazu, dass die Übersetzungen ins Italienische, Spanische und Portugiesische, sowie ein Jahrhundert später ins Arabische und Vietnamesische auf der französischen Ausgabe beruhten und nicht auf der deutschen. Auch für die russische Übersetzung schlug Marx die französische Ausgabe als Grundlage vor und selbst diese führte noch zur bekannten Anekdote, dass das Kapital der Zarenzensur entging, weil es für zu kompliziert gehalten wurde. Die 3000 Kopien verkauften sich aber innerhalb weniger Jahre und prägten die russische Sozialdemokratie erheblich. Über den russischen Marxisten Maksim Kovalevskii kam Marx selbst auch nochmal zu einem differenzierteren Bild Indiens. Seine Interpretation, dass gerade auf Grund des Fehlens von Privateigentum das indische Kastensystem einen so strengen politischen Überbau hatte, überzeugte Marx. Damit eröffnete Marx auch Spekulationen über alternative Wege zum Kapitalismus oder Sozialismus.
Engels reclaiming Das Kapital
Nach Indien selbst kam das Kapital natürlich über die englische Übersetzung. Die erste beruhte auf der dritten deutschen Ausgabe und wurde nach dem Tode Marxens von Samuel Moore und Edward Aveling übersetzt. Wie Marx überwachte Engels die Übersetzungen strengstens, denn das einheitliche Verständnis der wissenschaftlichen Theorie innerhalb einer internationalen Bewegung sahen beide als maßgeblich an. Engels stand jedoch vor einem ganz besonderen Problem. Marx hatte zu Lebzeiten nicht den zweiten und dritten Band des Kapitals veröffentlichen können, sondern nur verschiedene Manuskripte hinterlassen, mit deren Edition er seinen langjährigen Weggefährten beauftragte. Da der erste Band nur die Produktionssphäre umfasste, konnte sich dieses Buch auf Grund der geringeren Komplexität noch begriffliche Ungenauigkeit erlauben. Engels musste allerdings die Theorien über die Produktion mit denen der Zirkulation und der gesamtkapitalistischen Reproduktion zusammenführen, wo verschiedene Abstraktionsebenen und Realprozesse scharf auseinandergehalten werden mussten, um ihren Fetisch zu enthüllen. Die französische Ausgabe eignete sich als Grundlage dazu überhaupt nicht, sodass Engels neue Übersetzungen nur noch auf Grundlage der deutschen Werke autorisierte.
Die heute auch im Deutschen als Standardausgabe benutzte vierte Auflage des ersten Kapitalbandes wurde nach der Herausgabe der anderen beiden Bände von Engels nochmal erheblich umgearbeitet, weil dieser eine Kohärenz schaffen musste, die nicht mehr ein Problem von Marx war. Diese galt auch später in der Sowjetunion als die maßgebliche. Wir haben damit zwei Übersetzungstraditionen des Kapitals. Einmal die Übersetzungen des ersten Bandes, die auf der französischen von Marx selbst angefertigten Übersetzung beruhen und einmal die durch Engels autorisierten Übersetzungen ins Englische, die über den Umweg der USA, wo in den 1920ern auch die anderen Bände ins Englische übertragen wurden, für die westliche Wissenschaftsgeschichte relevanten.
Sag mir, welche Übersetzung du benutzt und ich sag dir, ob du Revisionist bist
Eine wesentliche Frage der Übersetzung war die des Werts. Dass der Wert durch abstrakte Arbeit oder gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit geschaffen wird, ist natürlich unstrittig. Aber insbesondere der Aspekt der Gesellschaftlichkeit der Arbeit hat zu Debatten geführt, ob unterschiedliche Vergesellschaftungsformen sich noch mit dem gleichen Wertbegriff fassen lassen. In den Übersetzungen wurde diese Debatte darüber ausgefochten, indem unterschiedliche Wörter zu Übersetzung benutzt wurden. Denn die Marxsche Theorie war weitestgehend originär, sodass ein hundertprozentig passender Begriff natürlich in keiner Sprache bereits zur Verfügung stand. Und die Wahl des Lehnworts beeinflusste, wie das Buch interpretiert werden konnte und musste.
Die wesentliche Spaltung in der Arbeiterbewegung nach dem Tode Engels kann hierbei als eine zwischen Revisionisten und Anti-Revisionisten beschrieben werden. Die Revisionisten, wie Bernstein in Deutschland oder Struve in Russland, argumentierten mit Blick auf die französische Ausgabe, dass es verschiedene historische Wege zum Sozialismus gebe und damit zum Beispiel auch die Wege über die demokratische Beteiligung des Proletariats oder bäuerliche Dorfkommunen zumindest in der Theorie möglich seien. Die Anti-Revionisten entgegneten, dass der Kapitalismus sich so grundlegend aus der Warenform ableiten ließe, dass jede Keimform des Kapitalismus sich auch entfalten werde und nur revoutionär überwunden werden könne. In der Übersetzung nahm die Wahl der Übersetzung des Wertes folgende Gestalt an: Je mehr der übersetzte Begriff an der Oberfläche der politischen Realität angesiedelt war, desto mehr traf die Kritik des Kapitals nur vollendete kapitalistische Gesellschaften und noch nicht Gesellschaften mit kapitalistischen Keimformen.
Tsennost oder Stoimost? Das ist hier die Frage
Im Russischen ist hier die Unterscheidung zwischen Tsennost und Stoimost der Zankapfel. Beide Worte könnten mit Wert übersetzt werden. Tsennost steht aber etymologisch dem Preis näher, während Stoimost mehr an Kosten angelehnt ist. Bei der Bewertung kommt eine Erschwernis hinzu. Da sich die sowjetische offizielle Marx-Rezeption sich auf Stoimost festgelegt hat, wurde dieses Wort auch im Nachhinein mit Bedeutung gefüllt, die es vorher nicht hatte. Lenin jedenfalls nutzte in seiner 1898 erschienenen Dokumentation Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland Stoimost, also in einer Schrift, die zu belegen versuchte, dass kapitalistische Strukturen längst die Dorfgemeinschaften eingesickert waren und zu analogen Klassenspaltungen geführt hätten, wie in westlichen Industrienationen. Auf der anderen Seite kritisierte Struve in einer Neuübersetzung der drei Kapitalbände die durchgängige Verwendung von Stoimost. Der Begriff Wert habe je nach Abstraktionsebene unterschiedliche Bedeutungen und das Primat solle auf dem dritten Band liegen, da dieser am nahesten an den politökonomischen Erscheinungsformen liege. Struve selbst war Neokantianer, der dem Einfluss des freien menschlichen Willens auf die Geschichte als essentiell betrachtete. Durch die etymologische Nähe zum Begriff des Preises schloss Struve, dass damit die Produktionskosten gemeint sein müssten und bereits von Beginn an die Boden und Kapital als Bestandteile des Werts betrachtet werden müssten. Und wenn dies stimme, dann sei auch der Bauernschaft eine eigenständige politische Rolle neben der Arbeiterschaft einzuräumen. Daraus wiederum wurde der Schluss gezogen, dass unter den Werktätigen selbst ein fairer Preis ausgehandelt werden müsse, dessen politischer Überbau am besten in einer parlamentarischen Versammlung reflektiert würde.
1905/06 zerschlugen sich jedoch die bürgerliche Träume vom liberalen Parlamentarismus an der Unnachgiebigkeit des Zaren und dem Scheitern der Revolution. Zahlreiche Intellektuelle, die ähnliche revisionistische oder volkstümlerische Ansichten teilten, z.B. Anatoli Lanacharski oder Aleksandr Bogdanov, kehrten sich von dieser Sichtweise ab. In der nächsten Neuübersetzung 1909 wurde wieder systematisch auf Stoimost zurückgegriffen, um den grundsätzlich wissenschaftlichen Charakter der Marxschen Lehre zu unterstreichen. Kritik an dieser Neuauflage kam aus dem ricardianischen Lager, dessen prominenteste Stimme Tugan-Baranovski war. Er wollte dem Wert keinen eigenständigen Wesensgehalt neben dem Preis zugestehen und legte die Grundlagen für die Kritik von Ladislaus von Bortkiewicz, die das bis heute heiß diskutierte Transformationsproblem aufwarfen.
Vereinheitlichung in der Sowjetunion
Die nächste bedeutende Zäsur war offensichtlich die Oktoberrevolution. Das 1919 eröffnete Marx-Engels-Institut sammelte bis 1930 400.000 Bücher und 22.000 Briefe von bzw. über Marx und Engels. Ausgestattet mit dieser materiellen Autorität gab es eine Gesamtausgabe des Marx-Engelsschen Werks heraus und verstetigte die Benutzung des Wortes Stoimost. Neben vielen guten Gründen für die Benutzung muss kritisch angemerkt werden, dass widersprechende Texte wie die Grundrisse zunächst zurückgehalten wurden. Auf eine Kritik Tugan-Baranovskis reagierte Lenin höchstpersönlich. Denn der Konflikt zwischen Proletariat und Bauern war durch die Oktoberrevolution und die Landreform nicht bewältigt worden; im Gegenteil, er brach gerade erst aus. Insbesondere den Bauern nahestehende Bolschewiki wie Bukharin argumentierten nach dem Tsennost-Prinzip, dass der Boden als eigener Wertbestandteil anzusehen sei und daher die Interessen einer eigenständigen Bauernschaft auch im Sozialismus beachtet werden müssten. Die Mehrheit der nach wenigen Jahren der NÖP überdrüssig gewordenen Kommunisten sahen jedoch jedes Erzeugnis als Produkt von Arbeit an, die nach einem kollektiven Plan organisiert werden müsste, was sich im Stoimost-Begriff besser darstellen ließ. Problematisch war aber, dass sich eine angemessene Mathematik und politische Kohärenz für eine Ökonomie der Arbeitszeit als noch nicht lösbare Aufgabe zeigte. Pläne wurden insbesondere im kleineren Gewerbe noch in Preisen ausgedrückt und das nicht nur wegen der Notwendigkeit eines Außenhandels.
Die darüber ausbrechenden Diskussionen wurden bis Ende der 20er Jahre auch geführt; Rjasanov und Rosdolsky sind hier bis heute populäre Namen für kontroverse Diskussionen. Mit der Festigung des Stalin-geführten Politbüros sollte jedoch auch die Theorie vereinheitlicht werden. Das Marx-Engels-Institut wurde 1931 mit dem 1923 gegründeten Lenin-Institut zusammengeführt und die Herausgabe der 28-bändigen russischsprachigen Marx-Engels-Werke abgeschlossen. Zur Grundlage der Kapitalübersetzung wurde die vierte, von Engels nochmal revidierte, Auflage genommen. Und dabei blieb es dann auch bis zum Fall der Sowjetunion. Erst 2015 sollte erneut eine Übersetzung erscheinen, die Wert mit Tsennost übersetzte. In der Vereinheitlichung kann man neben dem Abbruch der Diskussion auch positive Seiten erkennen. Durch die Standardisierung wurde der inhaltliche und internationale Dialog erleichtert und die Begriffsverwirrungen zwischen den englischen und russischen Werken sind geringer als sie sonst wären. Dennoch ebbte die Diskussion nicht ab, sondern wurde international weitergeführt. Etwa in Indien, wie der morgige Teil aufzeigt.
Literatur:
Stanziani, A. (2025): How to Translate Value in Marx’s Capital? Political Economy in Global Perspective. In: Global Intellectual History. Online First. DOI: 10.1080/23801883.2025.2456699.