⋄ Vor 65 Jahren schlug die DDR-Kunst den Bitterfelder Weg ein, der Arbeiter*innen eine aktivere Teilnahme am Kunstgeschehen ermöglichen sollte. ⋄ Ein aktuelles Projekt aus Kanada motiviert in ähnlicher Art und Weise Amazon-Arbeiter*innen zur Verfassung spekulativer Literatur. ⋄ Als Produkt erschien nun der Sammelband The World after Amazon mit neun SF-Geschichten. ⋄ Die Projektleiter erhoffen sich durch diese Geschichten eine ganzheitliche Förderung der Fähigkeiten von Arbeiter*innen, sowie eine authentische Kritik der von Amazon geschaffenen neuen Arbeitswelt. ⋄ Diese Hoffnung lösen die Geschichten nur teilweise ein. |
„Greif zur Feder, Kumpel!“ lautete die Parole des Bitterfelder Weges. 1959 trafen sich in der DDR 300 Schriftsteller*innen im Elektrochemischen Kombinat der anhaltinischen Stadt Bitterfeld, um Arbeitern einen aktiveren Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen. Überall im Land wurden Zirkel schreibender Arbeiter gegründet, aus denen auch einige bekannte Autoren hervorgingen. Nach wenigen Jahren starb das Projekt jedoch nach und nach ab. Die Aufhebung der Grenze zwischen professioneller und Laienkunst wurde durch die Intellektuellen der DDR nicht nur positiv aufgenommen, nur wenige begeisterten sich für einen dauerhaften engagierten Beitrag. Auch der SED fehlte der lange Atem, kommentierte doch Kulturfunktionär Hans Bentzien sarkastisch: „Das wird ein bitterer Feldweg werden.“ Fanden in der Folge einige interessierte Arbeiter*innen die Wege in die Kulturinstitutionen, lebten einige Zirkel sogar bis über die Wendezeit hinweg unter anderem Namen weiter.
„Greif zur Webcam und Tastatur, Lagerarbeiter*in!“ könnte die analoge Losung des kanadischen Projekts Worker as Futurist heißen. Hier entwickeln eine Handvoll Künstler*innen und Wissenschaftler*innen die literarischen Fähigkeiten von Arbeiter*innen des Amazon-Konzerns im Genre der spekulativen Literatur weiter. Herausgegeben wurde nun der Sammelband „The World after Amazon“ mit neun Kurzgeschichten und einer theoretischen Einrahmung. Das Buch gibt es als Download oder Hörbuch gratis hier. Die Kerngedanken seien im Folgenden zusammengefasst.
Das Projekt
Die Kurzgeschichten sind das Ergebnis eines fast einjährigen Literatur-Workshops, welcher vom Worker as Futurist-Projekt initiiert wurde, das Amazon-Arbeiter*innen beim Schreiben spekulativer Literatur unterstützen will. Das Projekt betreibt unter anderem auch den Worker’s Speculative Society Podcast (Link hier), in welchem Intellektuelle die Wechselwirkung zwischen Amazon und der Kultur- wie Arbeitswelt diskutieren. Gegründet wurde das Projekt vom kanadischen Künstler Max Haiven. Haiven ist Inhaber eines Forschungslehrstuhls für Kultur, Medien und soziale Gerechtigkeit (Canada Research Chair in the Radical Imagination) und leitet das an der Lakehead University angesiedelte ReImagining Value Action Lab, welches Kunst und Aktivismus zusammenbringen will. Haiven begann 2019 ein Pilotprojekt mit den so genannten „Geisterarbeiter*innen“ der Amazon-Plattform Mturk. Über dieses knüpfte er Kontakte zur Stammbelegschaft, aus der er einige Partizipient*innen für gemeinsame Diskussionen über SF-Filme, -Serien und Videospiele gewann. Mit etwa 25 Interessierten gründeten sie eine Art Online-Filmclub, indem sie unter anderem Squid Game, Black Mirror, aber auch Klassiker wie Alien schauten und besprachen. Den Projektleiter*innen fiel auf, dass die Arbeiter*innen Amazon eher mit dystopischen Erzählungen in Verbindung brachten. Nur wenige konnten mit den düsteren Stoffen nichts anfangen, während eher die utopischen Facetten der Science Fiction anachronistisch wirkten.
2023 konnten wiederum 13 Arbeiter*innen aus der Stammbelegschaft für eine anschließende achtmonatige Schreibwerkstatt gewonnen werden, von denen neun Geschichten für den vorliegenden Band ausgewählt wurden. Inhaltliche Klammer war das Thema: „Die Welt nach Amazon“. Die Berufsgruppen reichten von Lagerarbeitern über Lieferfahrer bis hin zu Datenanalysten und Content Creatorn. Die Teilnehmer*innen erhielten dabei nicht nur individuelle Hilfe von ausgebildeten Autor*innen und Wissenschaftler*innen, sondern reflektierten auch gemeinsam – meist online, hin und wieder auch in Präsenz – ihre Ergebnisse. Dabei ging es nicht nur um die unmittelbaren Texte, sondern auch die sozialen und ethnischen Hintergründe der Beteiligten, so wie ihren Vorerfahrungen mit dem Genre oder Schreiben im Allgemeinen.
Die Workshops sehen sich dabei in der Tradition, bekannter SF-Autorinnen wie Ursula K. Le Guin und Octavia Butler, die sich um die Motivation junger schwarz oder weiblich gelesener Schriftsteller*innen bemühten, aber auch zeitgenössischer aktivistischer Literaten wie Walidah Imarisha oder Lola Olufemi. Die Geschichten wurden in drei Überarbeitungen angefertigt: zuerst sollte die Idee entwickelt werden, dann die Stimme des Textes klar herausgebildet und zum Schluss das Storytelling optimiert werden. Ein professioneller Lektor bereitete die Texte zum Schluss für die Veröffentlichung auf.
Der Ansatz
Von den Projektleitern wird Amazon als ein prägendes Unternehmen der Moderne verstanden, das weniger von der Ausbeutung der Arbeitskraft lebt, als viel mehr von der Erfindung immer neuer Strategien, um einen wachsenden Teil der kulturellen Infrastruktur zu monopolisieren und daraus Rentengewinne zu erzielen. Von Unternehmensgründer Jeff Bezos wird Amazon selbst als futuristisch und empowernd für die Kreativität der Inidividuen dargestellt; eine Vorstellung, die im krassen Widerspruch zu den Profiterwartungen des Konzerns steht. Interessant ist dabei, dass Amazon sich nicht selbst als Treiber neuer Formen der Selbstausbeutung sieht, sondern nur als Vermittler der Ansprüche, welche eine subjektlose Zukunft an die Arbeitskraft stelle. Das versetzt die Arbeiter*innen bei Amazon in die Lage, sozusagen an ihrem eigenen Grab schaufeln zu dürfen.
Da Bezos der Ansicht ist, Zukunft, und nicht Geschichte, zu schreiben, trägt es kaum Wunder, dass er sich als Fan von Science-Fiction-Serien wie Star Trek gibt. In einer Klassengesellschaft lässt sich jedoch einer SF-Erzählung vom Standpunkt des Kapitals auch vom Standpunkt des Proletariats entgegensetzen. Wenn dem Profit des Kapitals immer die Ausbeutung der Arbeiter*innen vorausgesetzt ist, dann sollte auch der Utopie des Kapitals eine Dystopie des Proletariats vorausgehen. Unterschiedliche Projektionen der Zukunft sind dabei keinesfalls Wetten, was denn eher zutreffen werde, sondern Ausdruck entgegengesetzter Beziehungen zum gleichen sozialen Phänomen.
Die Kernfrage des Projekts war, was Arbeiter*innen auf Grund ihrer Stellung wissen, wovon sie ohne die Möglichkeit des fiktionalen Schreibens nicht wussten, dass sie es wissen. Der Ansatz geht davon aus, dass Arbeiter*innen ihre gesellschaftliche Lage reflektieren und theoretisieren, die Ideen der herrschenden Klasse ihnen jedoch die analytischen Werkzeuge verwehren, ihre Lage adäquat ausdrücken zu können. Durch das Moment der Spekulation könnten diese Arbeiter*innen jenseits der zu engen Kategorien zur Beschreibung des Seienden artikulieren, was sein könnte, um über die Differenzerfahrung Einsichten über Zwänge und die Möglichkeiten ihrer Beseitigung zu erlangen. Desweiteren würden sie durch die Überwindung der Schranken der entfremdenden Spezialisierung ihr zusätzliches Potential erkennen können und damit ihr Klassenbewusstsein stärken.
Die Geschichten
Wer sich jedoch von den Geschichten wesentlich neue Einsichten in die konkrete Arbeitswirklichkeit oder Ansätze für eine revolutionäre Politik erhofft, wird sich wohl schnell enttäuscht zeigen. Eine besondere Form der Authentizität wird nicht eingelöst. Da die Workshops mit der Analyse von Science-Fiction-Filmen begannen, zeigen die geschichten in der Regel sehr episodische Erzählstile und cineastische Topoi auf. Es ist viel Matrix, viel 1984, viel Tribute von Panem dabei, aber wenig von den großen Erzählern oder Gedankenexperimentatoren der SF. Die Autor*innen werden dabei immer sehr explizit und formulieren ihre Gedanken aus. Die übermächtige, menschenfressende Maschine artikuliert sich nicht allein über ihre Taten und innere Struktur, es muss auch immer genau so gesagt werden. Dabei würde zum Beispiel die Geschichte eines ugandastämmigen Jungen, der von seinem Vater durch einen ausgefallen Angeltrip enttäuscht werden muss, weil dieser flexibel noch die neuesten Ideen der Chefetage in Programmiercode gießen muss, allein genug über flexible Arbeitswelten erzählen, ohne dass der Leser nochmal mit der Nase in die Pointe gestoßen werden müsste. Die Autor*innen überlassen leider wenig Gedankenarbeit dem Leser und wollen alles selbst auflösen. Dafür kann man viel Verständnis haben. Für viele Schreibende ist dieses Buch der One Shot, um ihre Gedanken auf breiter Bühne zu äußern. Einem Verfasser von hundert Kurzgeschichten wird der Mut zur Lücke einfacher fallen, als dem, der in einer Geschichte alles sagen muss, was er sagen will.
Es gibt mitunter auch sehr spannende Ideen. Die Geschichte eines Amazon-Mitarbeiters, der einfach mal morgens liegen bleibt, dafür aber nicht nur einer innerhalb einer Stunde gekündigt wird, sondern auch gleich ins Gefängnis wandert, wo er für … Trommelwurbel … Amazon Zwangsarbeit leisten muss, ist zwar erzählerisch etwas aufgesetzt, aber eine klasse Metapher für die Wahl zwischen Lohnarbeit und Knast, wo man auch Lohnarbeit verrichten muss (Näheres hier).
„The insistent blare of my alarm mocked my brief, thwarted attempt to steal one moment of relief from this slavery of a life. But in that moment, I somehow made peace with a choice. For the first time in what felt like a century of misery I would refuse to conform to the expectations of my rote and predictable schedule. For the first time, I got the courage to finally press that stop button. Today, I will get enough sleep. That word – enough – already made me a dissident, and it would cost me – my empty stomach was already roaring at me. Realistically, I would only get more hungry, cold, and desperate. But I rolled over anyway, pressing do not disturb on my phone and accepting the dare to live a more comfortable life, if only for a morning.“
S.130f.
Oder die Leitungskraft auf mittlerer Ebene, die so eingespannt in ihrem Apparat schuftet, dass sie die menschehitsausrottende Krise gar nicht als körperliche Gefahr, sondern nur weiteren zusätzlichen Faktor ihrer Arbeit erkennt, gibt eine der eher spannenden Einsichten in die Psyche während der Corona-Krise. Es gibt aber auch die sehr langweiligen „Guerilla-Kampfgruppe führt Krieg gegen die Roboterarmee der Amazon-Weltregierung“-Sachen, wo sich die trotzkistische Aktivistin, welche die Geschichte verfasst hat, nicht einmal zu blöd war, ihren Haupthelden Leo zu nennen. Häufig wird auch zu stark auf das eigene Image Amazons referiert, als auf das, was der Konzern wirklich ist. In einer Geschichte gibt es etwa ein alternatives Museum, was Amazon hätte sein können, wenn es nicht profitgetrieben agieren würde. Mit viel Fantasie lässt sich da noch eine Dialektik von Gebrauchs- und Tauschwert hineinlesen, leider mit viel zu viel moralisierender Emphase.
Reflektionen
Der dritte Teil des Buches besteht aus Reflexionen der Workshop-Leiter. Allerdings scheinen diese relativ wenig aus dem Projekt mitgenommen zu haben. Es dreht sich eigentlich in der Regel nur um die persönlichen Ansichten zu Nihilismus im Kapitalismus, der Macht von Tech-Giganten wie Bezos & co. oder die Möglichkeiten der Science Fiction als Kunstform. Am ehrlichsten ist da noch die Erkenntnis, dass man in den Online-Workshops sehr weit Weg von den teilnehmenden Arbeiter*innen war und dass der persönliche Kontakt – insbesondere das laute Vorlesen in der Gruppe und die Darstellung der Ideen hinter den Geschichten – irreduzibel wichtig waren.
„The SF stories written by our participants are not silver bullets that can magically solve issues of inequity and environmental degradation. But the significance of dignity in the fight for workers’ rights should not be underestimated.“
S.216
Teilweise ist die Trennung, welche die akademischen Künstler*innen zu den teilnehmenden Arbeiter*innen aufbauen, kontrafaktisch zur eigentlichen Intention. Etwa wenn Initiator Max Haiven das Projekt als intervenierende Kunst beschreibt, was den Klassenkampf als Mittel der Kunst auftreten lässt, statt die Kunst in den Dienst des Klassenkampfes zu stellen. Der schon bei Peter Hacks unangenehme Standesdünkel hat da seinen Weg an die kanadische Uni gefunden.
Zusammenfassung
Die zentrale Lehre, die man vielleicht aus dem Worker as Futurist-Projekt ziehen könnte, ist, dass etwas wie eine authentische Arbeiter*innensicht überhaupt gar nicht mehr vorhanden ist, wenn es sie jemals gab. Es scheint eher so zu sein, dass es recht allgemeingültige kulturelle Topoi gibt, die gesellschaftlich umkämpft sind. Auf das Mockingbird-Thema kann sich genauso gut die Amazon-Lieferantin in Kanada beziehen, wie der Kapitalist in Hong Kong. Eine Überwachungsutopie ala 1984 lässt sich auf einen Social-Media-Anbieter genauso gut schneidern, wie es die Kleinbürger gerne auf den Staat anwenden. Der Modus der Wahrnehmung von Ungerechtigkeit oder Ausbeutung scheint bereits vor der Artikulation kulturell vermittelt. Die Auswahl der Stoffe, an Hand derer vermittelt wird, wird somit zentral, da sie jeweils ganz intrinsische Möglichkeiten und Grenzen bieten. Und hier hängt ein langer Rattenschwanz begonnen mit den Finanzierungsmöglichkeiten bis hin zur Frage, welche Bücher und Filme etwa durch Werbung, Übersetzungen und Verbreitung leicht zugänglich sind, dran, der über die einfache Big-Brother-Metaphorik hinausgeht. Man könnte sogar sagen, dass 1984 deshalb auch bei der liberalen Bourgeoisie so beliebt ist, weil es gerade blind für die wirklichen Kontrollmechanismen bürgerlicher Herrschaft blind ist.
Genau deshalb ist Kunst auch kein Ersatz für Analyse. Die Grundthese des Luxemburgischen Spontaneismus, dass Arbeiter*innen qua Betroffenheit tiefere Einsichten in die kapitalistische Ausbeutung hätten, kann das Projekt zumindest nicht bestätigen. Die Geschichten der Arbeiter*innen werden durch die Kommentare der Akademiker eingerahmt, die jedoch durch den Prozess nicht an Gehalt gewinnen. Obwohl die Arbeiter*innen sehr viel vom Gig-Charakter ihrer Arbeit erzählen, legen die Projektleiter einen enormen Wert auf Distinktion, als ob nicht das genau das vereinende mit dem typischen Fachidioten an der Fakultät wäre. Mehr als Arbeiterrechte sind wichtig und große Unternehmen haben viel Macht, was blöd ist, kommt in der Analyse bei den Projektleitern nicht heraus und zufälligerweise, war das genau, was diese auch schon vorher sagten. Dazu ist das ganze von einem Messianismus getragen, der nur für andere Rechte erkämpfen will und die eigene Rolle in der Kapitalverwertung völlig ausblendet. Oder im Hinblick auf die eigenen Grundannahmen des Projekts: Wenn Amazon keine Gewinne durch Ausbeutung, sondern Renten erzielt, dann sind die Arbeiter*innen bei Amazon auch nicht Arbeiter*innen qua Ausbeutung oder Überausbeutung, sondern durch die gemeinsame Stellung zum Gesamtkapital wie der Gesamtarbeiter. Dafür fehlt in den Begleittexten jedoch jede gemeinsame Referenz zu den produktiven und reproduktiven Sektoren.
Das mag nach viel Gemecker für einen lobenswerten Ansatz klingen, aber man muss das Projekt ja am eigenen Anspruch messen: neue Einsichten durch die Authentizität spekulativer Fiktion von Arbeiter*innen als Experiment. Und hier scheint die Experimentieranordnung noch nicht zu stimmen … weniger bei den Arbeitern, als eher bei der Projektleitung. Hier teilt man sich eine kleine Wegstrecke mit dem Bitterfelder Weg.
Literatur:
Autorenkollektiv (2024): The World after Amazon. Speculative Stories from Amazon Workers. Lakehead: RiVAL: The ReImagining Value Action. Das Buch und das Hörbuch gibt es zum kostenlosen Download unter https://afteramazon.world