Frankreichs gefährliche Klassen

⋄ In Frankreich geht momentan die Bevölkerung auf die Straße, um gegen Macrons Rentenreform zu demonstrieren.

⋄ In einem aktuellen Aufsatz in der
Space and Culture setzen sich Jérôme Beauchez and Djemila Zeneidi mit den Zoniers in Paris auseinander.

⋄ Die Zoniers waren die armen Teile der Pariser Stadbevölkerung, welche in provisorischen Unterkünften vor der Pariser Stadtbefestigung hauste.

⋄ Es ist anzunehmen, dass Karl Marx bei seinen Vorstellungen zum Lumpenproletariat im
Achtzehnten Brumaire die Zoniers vor Augen hatte.

⋄ Die Zoniers bildeten kulturell, soziologisch und geographisch eine Klasse außerhalb der französischen Gesellschaft, die von einigen Autor*innen dämonisiert und anderen romantisiert wurde.

In Frankreich geht gerade ein ganzes Volk gegen die Rentenreformpläne von Präsident Macron auf die Straße. Militanz wird bis in die breiten Schichten akzeptiert. Hunderte Demonstrant*innen wurden bereits verhaftet. Den Menschen in Frankreich sei alle Solidarität ausgesprochen und daher soll der heutige Beitrag eine Studie zu einem französischen Thema beleuchten.

Die momentane Situation in Frankreich ist deshalb so besonders, da insbesondere der gewaltsame Protest ansonsten Ausdrucksform der marginalisierten Gruppen ist. People of Color aus den Banlieues, subkulturelle Jugendliche oder Illegalisierte in kriminellen Parallelwelten. Viele postmoderne Linke sehen längst in einer Klasse, die Marx einst als das Lumpenproletariat bezeichnete, das eigentliche revolutionäre Subjekt. Und sie kritisieren Marx für seine vermeintliche Verachtung gegenüber diesen Subalternen. Jérôme Beauchez und Djemila Zeneidi haben in der aktuellen Space and Culture eine Gruppe vorgestellt, die Marx vermutlich Pate bei seiner Charakterisierung des Lumpenproletariats im Achtzehnten Brumaire gestanden hatte: die Zoniers.

Die Pariser Zone

Anfang der 1840er Jahre wurden die Festungsanlagen von Paris errichtet. Sie umfassten eine Gesamtlänge von 34 km und ragten meist etwa zehn Meter in die Höhe. Um freies Schussfeld und Platz für militärische Maneuver zu haben, war es nicht erlaubt, Gebäude im Umfeld von 250 Metern um die Festungsanlagen zu errichten. Dieser Streifen wurde die zone non aedificandi genannt. Bereits nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass die Festungskonstruktion strategisch ineffizient war und bereits im ersten modernen Krieg 1870/71 absolut veraltet.

Daher interessierte sich die Stadtverwaltung recht wenig für den freien Flurstreifen, sodass dieser rasch mit Leben gefüllt wurde. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdoppelte sich die Anzahl der Einwohner*innen von Paris von einer halben auf über eine Million Menschen und nicht jeder fand in der Hauptstadt ein Refugium. In Karawanenwagen, kleinen Schuppen, provisorischen Hütten und anderen selbst gezimmerten Behausungen besiedelten nach wenigen Jahren die Ärmsten der Armen von Paris den Streifen. Sie sollten die Zoniers genannt werden. Spätestens seit 1890 wurde dieser Bezirk in der kulturellen Überlieferung nur noch die Zone genannt.

Mit den Armen siedelte sich auch zunehmend die schmutzige und gesundheitsschädliche Industrie – etwa Schwermetall und Chemie – in den Außenbezirken an. Da die Armen unter diesen Umständen zunehmend auch aufständisch wurden, nannte man die Zone auch den Roten Gürtel um Paris. Die genaue Zahl seiner Bewohner*innen kann nur schwer abgeschätzt werden. Für 1929, also bereits zehn Jahre nach Beginn der Räumungen wurde ihre Anzahl noch mit etwa 42.300 angegeben.

Zur Geographie und Soziologie der Zone

Die Geographie der Zone um Paris sprach für sich selbst. Innerhalb der zehn Meter hohen Mauern befand sich die eigentliche Stadt. In dieser lebte die Bourgeoisie, das damals noch zahlreiche Kleinbürgertum aus Handwerkern und Händlern aller Art, sowie ein größerer Teil des Proletariats. Napoleon III. organisierte ab 1953 über seinen Präfekten Georges-Eugène Baron Haussmann die Hauptstadt radikal neu, in dem diese zum einen den Erfordernissen einer modernen Industriestadt samt räumlicher Trennung von herrschenden und beherrschten Klassen gerecht wurde und zum anderen weite Sichtachsen und breite Straßen Barrikadenkämpfe erschweren und dem Militär mehr Raum geben sollte. Bis zur Pariser Commune ging diese Strategie der Befriedung der Innenstadt auf. Vor den Festungsmauern erstreckte sich hingegen ein ganz eigener Kosmos. In einem Belagerungsring um die Stadt gab es keine Straßen, deren Pflaster man hätte ausheben können und keine Ziegeldächer, von denen man hätte schießen können. Es gab keine Polizei deren Stationen man hätte erobern und keine Fabriken, die man hätte bestreiken können. In der Architektur war nicht die Herrschaft einer Klasse, sondern die Herrschaft der Not in die schlammigen Wege und dünnen Holzbarackenwände geschrieben.

Für die genauere Soziologie der Zoniers stellt sich ein Problem. In der Regel haben Intellektuelle, Journalisten oder Liedermacher über die Zoniers geschrieben. Selbstzeugnisse sind rar gesät und je nach politischer Coleur der Berichtenden unterschieden sich die Charakterisierungen. Für die Bourgeoisie war die Zone ein Ort, den es zu meiden galt und ihre Apologeten rückten die Verbrechen und Gewalt in den Vordergrund. Von bürgerlichen Hygienikern wurde die Zone als Gesundheitsrisiko dargestellt. Rassist*innen betrachteten die Degeneration der französischen Rasse in der Zone, die sich nicht an die Regeln der bürgerlichen Trennung der Ethnien hielt, voller Furcht. Walter Benjamin beschrieb sie als die wahren Nomaden der französischen Hauptstadt, die tagsüber als Hilfsarbeiter*innen in die Fabriken oder in die wohltätigen Einrichtungen strömten, um nachts nur selten ein festes Quartier zu haben. Dieses Image wurde teilweise von den Zoniers selbst übernommen, indem sie die Gesetzlosigkeit als Freiheit und wahre Republik umdeuteten. Den Vorwurf, ein Hort der Flöhe und Ratten zu sein, enttarnte man, indem man sich selbst als diese Tiere bezeichnete und somit den impliziten Angriff auf die Menschen an sich thematisierte.

Beauchez und Zeneidi beschreiben die Zoniers als eine verlassene Klasse; eine Klasse, der ein Nicht-Raum in der Stadt zugeteilt worden war. Innerhalb der Zone hat sich jedoch ein kleine eigene Sozialstruktur herausgebildet. Es gab Händler und Kleinunternehmer, welche die Versorgung mit Erlaubnis der Polizei aufrecht erhielten. Es gab lokale politische Führer*innen, genauso wie eine Unterklasse in der Nichtklasse.

Von den Zoniers zu den Zonards

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden zunächst die Festungsmauern abgetragen. Damit begann auch die Räumung und Zerstörung der Dörfer der Zoniers. Allerdings sollte dieser Prozess mitunter über 30 Jahre lang dauern, wobei man sehr gründlich vorging. Henry Lefebvre, bemerkte, dass Ende der 60er Jahre nicht einmal mehr eine Spur der einstigen Besiedelung übrig geblieben sei. Insbesondere die Vichy-Regierung war ein rücksichtsloser der vermeintliche Unterwelt in der Zone.

Doch auch wenn der sichtbare Abdruck der Zone verschwunden ist, lebt die Struktur, in der die marginalisierten Gruppen an die Ränder der Städte gedrängt werden fort. Die Autor*innen gebrauchen hierfür den Begriff der Zonards. Dieser Begriff soll zum einen darauf hinweisen, dass sich die geographische und soziologische Struktur natürlich in hundert Jahren geändert hat, zum anderen soll durch die Referenz auf die Kommunarden verdeutlicht werden, dass das Aufstandspotential in den Banlieues immer noch am höchsten ist. Dabei soll die neue Zone kein geographischer Ort mehr sein, sondern eine Identität, die alle Subkulturen – Rocker, Punks, Skins, Hippies, aller, die außerhalb regulärer Lohnarbeitsverhältnisse ihr Glück suchen – verbindet. Die Autor*innen vergleichen die Zonards mit den Bewohner*innen der Wagenburgen in Berlin, die hinter britischen Backpackern die zweithäufigste ausländische Gruppe in den Wagenburgen darstellte.

Die “gefährlichen Klassen” bei Marx

Ob Marx im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte explizit die Zoniers vor Augen hatte, als er vom Lumpenproletariat schrieb, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Seine Beschreibung dieser Pariser Gruppe, auf dessen Schultern Napoleon III. den Staatsstreich gegen die Zweite Republik vorbereitete, lässt es jedoch vermuten:

„Neben zerrütteten Roues mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten,
entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la boheme nennen.“

MEW 8, S.160f.

Insbesondere in der jüngeren von Subalternitätsdiskursen geprägten Interpretation des Marxschen Werks hat der Begriff des Lumpenproletariats eine erneute Problematisierung erfahren. Angesichts der Depolitisierung und Befriedung der sozial abgesicherten Schichten des Proletariats erschien vielen Marxist*innen der Gedanke attraktiv, die marginalisierten Gruppen als neues revolutionäres Subjekt auf die Tagesordnung zu setzen. Sie unterstellten Marx einen Elitarismus, dem sie eine plurale und deklassierte Multitude entgegensetzten. Marx wurde dafür kritisiert, dass Lumpenproletariat als reaktionär und organisationsunfähig dargestellt zu haben. Auch Beauchez und Zeneidi warfen Marx in einem früheren Artikel vor, die Charakterisierung der Zoniers durch den Konterrevolutionär Haussmann unkritisch übernommen zu haben.

Nicht zuletzt wurde die Debatte dadurch befeuert, dass Marx das Lumpenproletariat meist in seinen polemischen politischen und analytischen Schriften thematisiert, aber nicht in seinen wissenschaftlich-analytischen und der Begriff innerhalb seiner Schaffenszeit einen Bedeutungswandel erfahren zu haben scheint. Dennoch lassen sich einige allgemeine Charakteristika dieser Klasse zusammenfassen. So kann man zuerst feststellen, dass Marx als Lumpenproletariat nicht einfach nur die Paupers oder die industrielle Reservearmee bezeichnet, also die verarmten Schichten des Proletariats, die man heute als das Prekariat fassen würde, sondern einen ganz besonderen Modus der neuen proletarischen Massen. Vielmehr ist das Lumpenproletariat eine Klasse, die weder formell noch real unter das Kapital subsummiert ist. Es lebt von Dienstleistungen und Warentausch untereinander und bildet daher eine Parallelgesellschaft zur kapitalistischen. Clyde Barrow benennt das Problem recht gut, dass der Begriff Lumpenproletariat verwirrend ist, da diese Klasse gar nicht das für das Proletariat charakteristische Verhältnis zur Bourgeoisie eingeht. Der Begriff dient bei Marx daher nicht dazu, unerwünschte Subjekte abzuwerten oder gescheiterte Revolution mit dem fehlenden Klassenbewusstsein bestimmter Gruppen zu erklären. Die moralisierende Kritik sticht schon deshalb nicht, da Marx beispielsweise in den Grundrissen den Papst als „Gesindel“ neben ehrliches und arbeitendes Lumpenproletariat stellt.

Vielmehr geht es Marx um eine Abgrenzung von anarchistischen Positionen, die im Lumpenproletariat als „gefährliche Klasse“ das revolutionäre Subjekt erblickten. Während beispielsweise Max Stirner argumentierte, dass die Lumpen als abgehängte und ausgegrenzte Schicht am meisten Interesse an einer Revolution hätten, argumentierte Marx, dass diese Klasse zu weit außerhalb der Gesellschaft stünde, um diese selbst umzukrempeln. Zumeist waren diese noch auf den Dörfern aufgewachsen, mussten diese dann aber im Rahmen der Prozesse der ursprünglichen Akkumulation verlassen. Diese Menschen hatten noch keine Fabrikdisziplin gelernt, sondern ihre Arbeit wurde von der Natur, nicht einem Vorsteher bestimmt. Disziplin, ob Fabrik- oder Parteidisziplin, sind nach Marx keine natürlichen Eigenschaften der Arbeiter*innenklasse, sondern werden durch die kapitalistischen Institutionen, wie Schule, Polizei, etc. erst geschaffen. Sie ist aber notwendig, um ein kollektives Klassenbewusstsein auszubilden. Denn die kapitalistische Atomisierung führte bereits im 19. Jahrhundert dazu, dass Klasseninteressen häufig im direkten Widerspruch zum individuellen Interesse eine*r einzelnen Arbeiter*in stand.

Jetzt kann man lange darüber debattieren, ob Anarchist*innen oder Kommunist*innen die Sache besser getroffen haben. Zumeist unterschieden sich die Positionen nach der sozialen Basis ihrer Anhängerschaft. Und hier kommt die Studie ins Spiel. Denn die beiden Autor*innen zeichnen ein Bild, dass Marxens Polemik zumindest teilweise Recht gibt. Die Zoniers lebten soziologisch und geographisch in einer Parallelwelt. Sie standen außerhalb des Gesetzes, ob dies nun als Hort des Verbrechens dämonisiert oder als Ort der Freiheit romantisiert wird. Gesetzlosigkeit bedeutete dabei keinesfalls Regellosigkeit, aber die Zoniers blieben immer außerhalb der Gesellschaft. Sie hatten weder Bezug zum Land noch zur Stadt und wie könnte diese Bezugslosigkeit besser symbolisch-räumlich dargestellt werden, als im Schatten der zehn Meter hohen Festungsmauern von Paris. Darin bestand Marxens materialistische Kritik. In einer Gesellschaft, in der soziale Beziehungen primär im Kapitalverhältnis vergegenständlicht erscheinen, sind Menschen außerhalb dieses Verhältnisses auch kein Teil der Gesellschaft mehr. Der Protest der Lumpen eignete sich vielleicht als Bürgerschreck, aber ihm fehlte das strategische Potential. Wenn das Proletariat streikt, dann verliert der Bourgeois auch ihren Profit, das Kapital verliert den Tritt in seinem Prozess und seine Macht schwindet. Wenn das Lumpenproletariat streikt, beschneidet es nur die eigenen Ressourcen. Ihr Protest entfacht sich deshalb so leicht, weil er wenig Widerstand erfährt. In Paris waren es letztendlich nicht Zoniers, sondern die abstiegsbedrohten Handwerker, welche die Pariser Commune ausriefen. Und auch heute scheitern populare Bewegungen der Marginalisierten immer wieder an den inneren Widersprüchen (Näheres hier). Dass der Widerstand der subalternen Multitude in den letzten Jahrzehnten über symbolische Proteste nicht hinausgekommen ist, muss auch heute ernsthaft problematisiert werden.

Zusammenfassung

Natürlich ist die Diskussion um das Lumpenproletariat keine rein historische Diskussion. Aber Jérôme Beauchez’ und Djemila Zeneidis Beitrag zeigt auf, welche konkrete gesellschaftliche Formation Marx vor Augen gehabt haben muss, als er vom Lumpenproletariat schrieb. Sie zeigen auch, dass wir über die Menschen der Zone nicht viel wissen. Die Zoniers waren für die einen Fluchtpunkt und für die anderen Warnung. Doch Selbst- und Fremdzeugnisse sind sich darin einig, dass sie eine eigene Gesellschaft an sich und für sich waren. Mit eigenen Strukturen, aber kaum Bezug in die Stadt oder auf das Land. Sie waren die Anderen, deren Verschwinden wenigen aufiel und heute nicht einmal mehr archäologische Spuren hinterlassen hat. Sie waren stets eine Drohung, aber auch nicht mehr. Und wie im 19. Jahrhundert muss die Linke heute Partei ergreifen: Für den Ausstieg aus der Gesellschaft, subkulturelle Identitäten und spontanen Aufstand oder für eine Veränderung innerhalb der Gesellschaft in all ihrer Langwierigkeit und Langweiligkeit.

Literatur:

Beauchez, J. & Zeneidi, D. (2023): Inside the Paris Zone: Entering the French Leftspace. In: Space and Culture. Online First. DOI: 10.1177/12063312231155353.

Barrow, C. (2020): The Dangerous Class. The Concept of the Lumpenproletariat. Ann Arbor: University of Michigan Press.

Alle Abbildungen mit Titel und Autor*in von: https://journals.openedition.org/terrain/17600. Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0.

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