Zum Geburtstag Alexander Buzgalins

Zu den Besonderheiten der russischen Gesellschaft gehört es, dass es zwei sehr unterschiedliche Arten von Opposition gibt. Die liberale Opposition, zu deren prägnantesten Figuren wohl Alexander Nawalny zählt, kämpft in erster Linie gegen die autoritäre Bürokratie. Ihre Mitglieder sind in aller Regel jung und kommen meist aus den urbanen Mittelschichten. Nicht selten mit Unterstützung interessierter Oligarchen fordern sie den Rückzug des Staates nicht nur aus dem Leben der Bürger*innen … auch aus der Wirtschaft. Diese Opposition wird im Westen medial ausgiebig begleitet und innerhalb Russlands relativ scharf verfolgt.

Die andere Art Opposition ist die soziale, die sich in erster Linie gegen die Oligarchie richtet. Sie steht häufig an der Seite der Gewerkschaften, wenn es um höhere Löhne und sichere Renten geht und betreibt Kampagnen, wie für eine Progressivsteuer. Anhänger*innen sind häufig älter und kommen aus den werktätigen Klassen. Sie wird vom Westen kaum bis gar nicht wahrgenommen und selbst weiß diese Opposition, dass der Westen es auch nicht unbedingt auf das Wohl der Arbeiter*innen abgesehen hat. Dafür genießt sie verhältnismäßig große Freiheiten. Teilweise arbeitet sie mit der Bürokratie zusammen. Zuweilen darf sie auch im Fernsehen zu Wort kommen.

Einer der bekanntesten Köpfe der zweiten Oppositionsgruppe ist Alexander Buzgalin. Der marxistische Ökonomieprofessor ist ein Brennglas russischer Widersprüche. Er gründete und führt oppositionelle Medien, berät aber gleichzeitig die Staatsduma. Die reaktionären Tendenzen in Russland nimmt er wahr, allerdings mit der Gelassenheit eines Menschen, der Schlimmeres erlebt hat. Er darf im Staatsfernsehen Putin politisch auseinandernehmen, um ihn in westlichen Medien gegen die scheinheiligen Angriffe der dortigen Führung zu verteidigen. Heute wird Alexander Buzgalin 68 Jahre alt. Gelegenheit für eine kurze biographische Einführung:

Aleksandr Vladimirovich Buzgalin

Aleksandr Buzgalin ist ein marxistischer Ökonom aus Russland und politischer Aktivist. Er ist seit 1993 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Lomonosow Universität in Moskau. Er gründete das theoretischen Magazins Alternativy und gibt dieses heraus. Zugleich ist er einer der führenden Köpfe der gleichnamigen sozialen Bewegung. Er leitet weiterhin die Redaktion der Zeitschrift Voprosy politicheskoy ekonomii und gehört zum Organisationskomitee des Russischen Sozialforums.

Buzgalin wurde am 19. Juli 1954 in Moskau geboren. Mit 17 Jahren trat er sein Studium an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Lomonosow Universität an, wo er seinen langjährigen Freund und Mitstreiter Andrej Kolganov kennenlernte. 1979 verteidigte er seine Dissertation mit dem Titel „Widersprüche in der planmäßigen Organisation der sozialistischen Produktion“. Seine Lehre und Forschung beschäftigen sich unter anderem mit sozio-ökonomischer Methodologie und der Wirtschaft Russlands. Verheiratet ist er mit Lyudmila Alekseevna Bulavka-Buzgalina, die ebenfalls auf dem Gebiet der politischen Ökonomie lehrt und forscht.

Seit Mitte der 80er Jahre organisierte Buzgalin mehrere unabhängige marxistische Studien- und Forschungskreise. Zwischen 1990 und 1991 gehörte er sogar dem Zentralkomitee der KPdSU an. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verteidigte er das sozialistische Erbe und beteiligte sich an verschiedensten Projekten zur Förderung marxistischer Theorie und Praxis. Das 1991 von ihm gegründete Journal Alternativy wuchs zu einer gesamtrussischen sozialen Bewegung heran, die zum Beispiel für das Streikrecht der Arbeiter*innen, eine Verstaatlichung der Großindustrie und eine starke Progressivsteuer eintrat. Trotz seines oppositionellen politischen Engagements fungiert er als Berater des Komitees für Bildung der russischen Staatsduma. Auch in Radio- und Fernsehsendungen wird er als Experte häufig eingeladen.

Buzgalin verfasste mehr als 350 Schriften, darunter vier Lehrbücher und 26 Monographien, die er großenteils gemeinsam mit Andrej Kolganov verfasste. Einige Artikel schrieb er in englischsprachigen Journalen wie der International Critical Theory oder der Review of Radical Political Economy. Sein Buch Klassische politische Ökonomie, dass er mit Kolganov und Olga Barashkova verfasste, erhielt 2018 den Publikumspreis „Wirtschaftsbuch des Jahres“. Das mit Kolganov gemeinsam verfasste Buch Twenty-First Century Capital – Critical post-Soviet Marxist reflections erschien 2021 in der Manchester University Press.

Buzgalin gilt vielen anderen russischen Marxist*innen als Trotzkist, zumindest als Neomarxist. Konkrete Bezüge zu Trotzki oder Theorien wie der permanenten Revolution finden sich jedoch kaum in seinen Werken. Die Verbindung resultiert wahrscheinlich aus seiner Verurteilung des „stalinistischen Totalitarismus“, den er außerhalb der Ideale der Oktoberrevolution sieht. Die Sowjetunion interpretiert er als prozessierenden Selbstwiderspruch zwischen fortschrittlichen Produktionsverhältnissen und rückschrittlichen Produktionsmitteln, der sich, ähnlich wie die Renaissance in Italien durch Inquisition und Bürgerkriege – gewaltsam entlud. Die post-sowjetische Gesellschaft habe sich mehr oder weniger in einen semi-peripheren Kapitalismus rücktransformiert. Allein Russland (sowie die Ukraine und Kazakhstan) hätten durch die besondere Zentralisation des ehemaligen Volksvermögens in den Händen der ehemaligen Nomenklatura eine zahlenmäßig kleine aber politisch bedeutsame oligarchische Bourgeoisie hervorgebracht, die das Gesellschaftssystem präge. Als dialektische – mal kooperierende, mal konkurrierende – gesellschaftliche Formation sei die Bürokratie entstanden, die mit Putin an der Spitze als einziges in der Lage wahr, die selbstzerstörerische Konkurrenz der Oligarchen zu befrieden. Die Selbstbezeichnung seiner Strömung als post-sowjetische Schule des kritischen Marxismus unterstreicht die Bedeutung dieser historischen Spezifik im Denken Buzgalins. Seine Sozialismusvorstellung ist eher transformativ. Durch die sukzessive Ablösung von Marktelementen durch bewusste Planung solle eine harmonische Entwicklung von Produktivkräften und Prouktionsverhältnissen gewährleistet werden, um regressive Momente wie in der Sowjetunion zu vermeiden.

Buzgalins ökonomische Arbeiten stehen in der Tradition Nikolai Tsagorovs und Evald Ilyenkovs. Sie gehen von einer dialektischen Entwicklung vom Abstrakten zum Konkreten aus, wobei sich nicht nur die Gegenstände einer Abstraktionsebene widersprechen, sondern auch Widersprüche zwischen den einzelnen Ebenen entstehen können. Auf dieser Basis erklärt Buzgalin dann nicht nur Vorwärtsentwicklungen von Ökonomien, sondern auch reaktionäre Momente (wie in Russland). Die Marxschen Kategorien müssten nach ihm in dreierlei Hinsicht aktualisiert werden: Erstens gäbe es keinen freien Wettbewerb mehr, sondern einen monopolistischen Kapitalismus. Zweitens habe sich der Markt auf alle Lebensbereiche ausgedehnt. Und drittens würden auch solche Güter einen Preis erhalten, in denen klassisch gar keine Arbeit vergegenständlicht sei. Diese Faktoren kulminieren in einer Interpretation, die großen Wert auf die Bedeutung des Finanzsektors legt. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass Buzgalin und Kolganov Krise und Imperialismus nicht auseinander denken. Das eine wie das andere sei eine Reaktion auf die Überakkumulation von Kapital; die Krise werde quasi aus den Zentren in die Peripherien exportiert. Der Globalisierung setzt er eine alternative Globalisierung, nicht Isolationismus entgegen, der auf gleichberechtigter Kooperation beruht.

Literaturhinweise:

Anbei eine kleine Auswahl an frei zugänglichen Aufsätzen von Alexander Buzgalin in deutscher und englischer Sprache:

frei verfügbarer Artikel über Alexander Buzgalin von der chinesischen Autorin Shan Tong (englisch): https://www.scienceopen.com/hosted-document?doi=10.13169/worlrevipoliecon.4.3.0410

Kleinere Monographie zum Marxismus in Russland, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (deutsch): https://www.rosalux.de/publikation/id/1562/postsowjetischer-marxismus-in-russland-antworten-auf-die-herausforderungen-des-xxi-jahrhunderts

100 Jahre nach der Oktoverrevolution zieht Buzgalin Bilanz über Transformationsstrategien der Linken (deutsch): https://www.transform-network.net/de/suchen/overview/article/transform-yearbook-2017/time-of-alternatives-the-left-100-years-after-the-october-revolution/

Aufsatz von Buzgalin für die Friedrich-Ebert-Stiftung über soziale Entwicklung in Russland (deutsch): http://library.fes.de/cgi-bin/populo/digbib.pl?f_SET=russlands%20perspektiven&t_listen=x&sortierung=jab

Videointerview mit Buzgalin wenige Tage vor der russischen Invasion in die Ukraine (englisch): https://theanalysis.news/a-progressive-russian-on-ukraine-aleksandr-buzgalin-pt-1-2/

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