100 Jahre Proletariat in China – eine Jubiläumsschrift

2021 feiert die Kommunistische Partei Chinas ihren 100. Geburtstag.

Ivan Franceschini und Christian Sorace haben einen Sammelband Proletarian China – A Century of Chinese Labour herausgebracht, der die zahlreichen Schriften zu diesem Jubiläum ergänzt.

⋄ Ca. 70 Artikel werfen auf 800 Seiten in diesem Buch einen Blick auf das chinesische Proletariat und seine Dialektik mit Partei und Sozialismus.

Die Herausgeber möchten dabei nicht die „’offizielle Stimme’ der Kommunistischen Partei durch ‘authentische’ Stimmen von den Graswurzeln zu ersetzen, [sondern] verschiedene Perspektiven über die Rolle des chinesischen Proletariats in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander ins Gespräch zu bringen.“

⋄ Der Sammelband ist eine hervorragende Dokumentation, welche die Geschichten der Arbeiter*innen mit der Geschichte des Landes und der Welt zusammen erzählt.

Chiang Kai-Shek nannte ihn „den größten Fehler, den er gegenüber den Kommunisten gemacht habe“. Die Rede ist von der Zulassung der Zeitung New China Daily im nationalistisch kontrollierten China als Zugeständnis an das anti-japanische Bündnis mit den Roten während des Zweiten Weltkriegs. Was machte die Zeitung so besonders? Sie enthielt eine Rubrik mit dem Namen „Unser Briefkasten“. Darin wurden Briefe von Arbeiter*innen abgedruckt, welche die Bedingungen in den Fabriken, Probleme bei der Versorgung der Familie oder politische Ansichten thematisierten. Frauen beklagten ungleiche Bezahlung oder den Zwang, mit Regelschmerzen zur Arbeit gezwungen zu werden. Tausende und hunderttausende Arbeiter*innen entdeckten mit Hilfe der Zeitung die Gemeinsamkeit ihrer Probleme. „New China Daily steht für die Arbeiter und spricht für uns“ hieß es. Eine Zeitung der Kommunistischen Partei, die anderweitig öffentlich kaum auftreten durfte, schweißte das Proletariat zu einer Klasse zusammen, auf deren Schultern die Partei schlussendlich den Bürgerkrieg gewinnen sollte.

Doch nicht immer ist das Verhältnis von KP und Proletariat so harmonisch. Partei ist nicht gleich Klasse, sie ist die Vorhut und eine Vorhut kann von der Nachhut auch mal im Stich gelassen werden oder die Nachhut fälschlicherweise in einen aussichtslosen Kampf locken. Anlässlich des 100. Geburtstages der Kommunistischen Partei Chinas haben Ivan Franceschini und Christian Sorace einen Sammelband Proletarian China – A Century of Chinese Labour im Verso-Verlag herausgebracht. In diesem beleuchten etwa 70 Artikel die Geschichte des chinesischen Proletariats als Klasse. Das Buch verbindet dabei die große Geschichte Chinas mit den kleinen Geschichten der Arbeiter*innen. Eine Rezension.

Anliegen und Struktur des Buches

Proletarian China hat einen sehr merkwürdigen und provokanten Untertitel: „Ein Jahrhundert chinesische Arbeit“. Wie kommen die Herausgeber auf ein Jahrhundert? Haben nicht schon im 19. Jahrhundert Chines*innen in den Kolonien geschuftet und arme Teufel für einen mageren Lohn die Schiffe den Yangtze hinaufgeschleppt? Ist die Arbeitsteilung und das Manufakturwesen in China nicht sogar bedeutend älter als in Europa?

Die Herausgeber nehmen den Begriff „das Proletariat“ als politisches Subjekt ernst. Arbeiter*innen gab es in China schon lange. Das Proletariat ist aber mehr als die Summe aller Arbeiter*innen, es ist der organisierte Zusammenschluss dieser zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele gegen andere Klassen. Dafür bedarf es einer Geburtshelferin. Und diese ist die Kommunistische Partei. Daher datieren die HerausgeberInnen den Beginn des chinesischen Proletariats auf den Gründungstag der Kommunistischen Partei. Das Buch ist damit ein Ergänzungsband zu den vielen Schriften anlässlich des hundertsten Parteigeburtstages der CCP, der daran erinnert, dass die Klasse nie vollständig in der Partei aufgegangen ist, die zu repräsentieren die CCP einst angetreten ist.

Die Herangehensweise der Herausgeber lässt sich durch folgendes Zitat hervorragend zusammenfassen:

Wie versuchen nicht, die „offizielle Stimme“ der Kommunistischen Partei durch „authentische“ Stimmen von den Graswurzeln zu ersetzen, die uns mit einem Voiceover aus dem Off alleine lässt. Vielmehr hoffen wir, mit diesem Band verschiedene Perspektiven über die Rolle des chinesischen Proletariats in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander ins Gespräch zu bringen.“

S. 16f.

Proletarian China ist sehr klar strukturiert. Vor jedem Aufsatz wird auf einer knappen Seite die historische Szenerie beschrieben. Die Aufsätze selbst beginnen zumeist mit einer anekdotischen Geschichte, beschreiben nochmals den breiteren Rahmen und beschäftigen sich dann detailliert mit einem Thema. Der Aufbau macht das Buch trotz seiner fast 900 Seiten sehr kurzweilig und lesbar.

Die historische Entwicklung der Beziehung zwischen Proletariat und Partei

Die Geschichte der Beziehungen zwischen proletarischer Partei und Proletariat lässt sich dem Buch folgend in vier Phasen unterteilen. Das Buch beginnt mit der Beschreibung des Protoproletariats (bis 1921). Arbeiter*innen waren zunächst eine zahlenmäßig sehr kleine Klasse, kaum alphabetisiert, meist Geflohene, Vertriebene und aus dem traditionellen Familienleben Entrissene vom Lande. Sie waren schlecht organisiert. Gewerkschaften befanden sich in der Hand von Gangs und Geheimgesellschaften, die den Arbeitern erkämpfte Lohnerhöhungen mit Bordellen, Glücksspiel und Opium gleich wieder abnahmen.

Dann (1921-1949) gründete sich die Kommunistischen Partei durch zumeist junge Studenten und Intellektuelle, teils Leninisten, teils Anarchisten. Sofort begannen sie mit der Basisarbeit, stärkten rote Gewerkschaften gegen die Vorherrschaft der Gangs, gründeten tausende Arbeiter*innenschulen und schlossen einen Pakt mit den Guomindang zur Vernichtung der Warlords. In dieser Phase – unterbrochen durch den Rückzug aufs Land nach dem Massaker von Shanghai 1927 – war die CCP die Vertreterin proletarischer Interessen. Sie genoss hohes ansehen, selbst da, wo sie verboten wurde. Der kommunistische Gedanke war nirgends mit Vertreibung der CCP ausgestorben und so war das Proletariat ein mächtiger Tragpfeiler zum Sieg im Bürgerkrieg.

In einer dritten Phase (1949-1979) monopolisierte die Kommunistische Partei die gesamte Staatsmacht. Als Staatspartei musste sie jedoch auch den Interessen der anderen Klassen – Kleinbürger, Bauern und teilweise der Bourgeoisie – Rechnung tragen, bis der Sozialismus auf einer entwickelteren Stufe stand. Dies führte zu teilweise heftigen Spannungen, die jedoch als eher technokratisch bewältigbare verstanden wurden. Das Proletariat hatte immernoch großes Vertrauen in die Partei und erblickte in Konflikten eher Widersprüche zwischen einzelnen Parteiebenen. Die CCP versuchte hingegen phasenweise, das Proletariat in die politischen Prozesse einzubinden, während das Proletariat selbst eher Repräsentation suchte. So wurde den Arbeiter*innenuniversitäten 1975 von der CCP die Aufgabe zugetragen, im Vergleich mit dem Arbeitsalltag in der konkreten Fabrik, politökonomische Vektoren zu finden, die entweder das Wiederaufleben des Kapitalismus oder die Beschleunigung der sozialistischen Entwicklung fördern würden.

Mit der Öffnungsphase (seit 1979) traten die Klassenwidersprüche wieder offener zu Tage. Streiks wurden vermehrt ökonomisch gegen die Kapitalisten geführt. Die CCP wurde in ihrer Rolle als Staatsmacht angegriffen; die unter Parteikontrolle stehende Polizei und das Militär scharf kritisiert. Aus Arbeiter*innebewegungen wurden eher Demokratiebewegungen, obgleich Liberalisierungen häufig negative Folgen für die Arbeiter*innen hatten. Die Rolle des Internets und unabhängiger Blogger, NGOs und ökonomischer Streiks ist gewachsen. Gender-, LGTQ-, Migrations-, und Rassismusthemen werden dominant gegenüber denen einer kollektiven Arbeiter*innenklasse.

Zur Dialektik von Proletariat und Partei

In jeder Phase seit 1949 gestaltete sich die Dialektik zwischen Partei und Klasse in Form eines wiederkehrenden Schemas. Um die Lage der Arbeiter*innen und Bäuer*innen zu verbessern, beschloss die CCP Wirtschaftspläne. Zur Planerfüllung wurde in vielen Phasen von der chinesischen Regierung auf privates Kapital zurückgegriffen. Die Planerfüllung, das größte Ziel der CCP hing damit auch von der Kapitalakkumulation der Bourgeoisie ab, sprich vermehrter Ausbeutung der Arbeiter*innen. Die resultierenden Streiks und Proteste der Arbeiter*innen gefährdeten die Kapitalakkumulation und damit auch das Planziel. Die CCP konnte somit kein Interesse an der Selbstorganisation der Arbeiter*innen haben und trat in Widerspruch zu den Arbeiter*innen.

Dennoch kann daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass die die CCP arbeiter*innenfeindlich war, da die Pläne tatsächlich auf eine langfristige Verbesserung der Lage des Proletariats abzielten und wahrscheinlich effektiver waren als Streiks und spontane Aktionen. Die chinesische Politik war bestimmt durch einen dreifachen Widerspruch: Kapital und Arbeiter*innen, CCP und Kapital, CCP und Arbeiter*innen. Der Partei war diese Widerspruchs-Triade bewusst und sie versuchte zu vermitteln, dass sie den Standpunkt des Allgemeinen vertrete, der zwischen Arbeiter*innen und Kapital vermittle.

Besonders frappierend waren diese Widersprüche in den Anfangsjahren der Volksrepublik. Mit Verschwinden der nationalistischen Regierung, sowie ihres Staats- und Polizeiapparats, trat der Klassenkampf ganz offen zu Tage. Es wurde klar, welch bedeutende Rolle das GMD-Regime bei der Unterdrückung der Arbeiter*innen gespielt hatte. Kapitalisten trauten sich nicht mehr, ihre Fabriken zu öffnen, die Produktion kam teils vollständig zum Erliegen und Arbeiter*innen verloren massenhaft ihre Anstellung. Das Proletariat war aber noch nicht in der Lage, die Produktion selbst zu organisieren. Die CCP sah sich daher genötigt, die Ordnung auch gegen die unmittelbaren Interessen der Areiter*innen wiederherzustellen.

Streiks und die Partei

Mit Streiks wurde in der Volksrepublik sehr unterschiedlich umgegangen. Mao betonte ausdrücklich das Recht zu streiken, zeitweilig besaß es sogar Verfassungsrang. Allerdings wurde der Streik nicht mehr als Konflikt zwischen Klassen, sondern als Konflikt innerhalb des Volkes interpretiert, wodurch das Schlichtungsverfahren nach dem Schema „Einheit – Selbstkritik – Einheit“ organisiert wurde. Als Arbeitsminister Li Lisan gegenüber der Öffentlichkeit und Mao erklärte, dass im Sozialismus noch individuelle und allgemeine Interessen im Widerspruch stehen könnten und es daher Gewerkschaften genauso wie der Partei zur Vermittlung bedarf, wurde er abgekanzelt, da führende Kader nur der Partei alleine die Rolle zugestanden. Die übertrug dann den Fabrikleitern ohne Rechenschaftspflicht gegenüber den Gewerkschaften die Kontrolle. Die Unterordnung der Einheitsgewerkschaft ACTFU unter die Partei wurde schnell von den Arbeiter*innen erkannt, die sich entweder autonom organisierten oder inaktiv wurden. In beiden Fällen sank der Einfluss der Partei. Man entfremdete sich vom Proletariat. Die ACTFU wurde dann in der Kulturrevolution aufgelöst.

Tatsächlich blieb die Partei häufig erster Ansprechpartner der Arbeiter*innen. Als 1953 die Normen, nicht aber die Löhne, erhöht wurden, umringten unzufriedene Arbeiter*innen des Stahlwerks 2 in Shanghai den Werksleiter: Als sich dieser verteidigte, dass dies auf Anweisung der Regierung passiert sei und entsprechende Dokumente vorzeigte, glaubten ihm die Arbeiter*innen nicht. Sie drohten damit, eine Adresse an den Vorsitzenden Mao zu verfassen, welche die Misswirtschaft des Leiters aufdeckte. Erst später mussten sie enttäuscht feststellen, dass der Werksleiter nicht gelogen hatte. Auch sonst waren häufiger Büros der CCP und Sekretäre Ziel der Proteste als zum Beispiel die unmittelbaren Werksleiter. Das Image, dass die CCP die Interessen der Arbeiter*innen verteidigte, ließ sich nur schwer erschüttern. Sie bließ der Adressat der Appelle.

Manchmal waren es die Arbeiter*innen selbst, die von repressiven Politikelementen der CCP profitierten. So regulierte das Hukou-System seit den 50er Jahren streng den Wohnsitz und verhinderte so eine Landflucht in die Städte und damit ein Überangebot an billiger Arbeitskraft.

Nach Eintritt in die WTO musste China seinen Lebensmittelmarkt jedoch für billige Importprodukte öffnen. Dies traf zuerst die Bauern, die entweder nicht konkurrieren konnten oder in der Konkurrenz verarmten. Danach traf es die Arbeiter*innen, da die arbeitslos gewordenen Landarbeiter*innen in Massen in die Städte strömten und dort ein Überangebot an Arbeitskraft hervorriefen. Diese verschärfte Situation führte dann zu einer neuen Streikwelle. Heutzutage wird durch die Polizei jedoch zumeist härter vorgegangen als vor der Öffnung.

Klassenkampf im Dunkeln

Das Buch macht immer wieder das Spannungsfeld zwischen dem eher westlich und industriell-kapitalistisch geprägtem Marxismus und den konkreten Traditionen und Kampfbedingungen in China deutlich. Einige Geschichten verdeutlichen, unter welchen Bedingungen die KP kämpfte:

  • Der erste große Industriearbeiterstreik, der durch Kommunist*innen angeführt wurde, war der Anyuan-Streik von 1922. Einer der beiden entsandten Parteifunktionäre, Li Lisan, musste jedoch erst Mitglied der Geheimgesellschaft Red Gang werden, da diese für die Dauer des Streiks Opiumhandel und Glücksspiel einstellen sollten, um die Kampfkraft nicht zu schwächen. Der Anführer namens Drachenkopf ließ sich auf den Deal ein, den er durch Klopfen auf die Brust bestätigte. Der Streik war erfolgreich.
  • Kommunistinnen knüpften an die feudalen Traditionen der Schwesternschaften an, indem sie „proletarische Schwesternschaften“ in buddhistischen Tempeln durch Verbrennung sakraler Gegenstände schlossen. Diese wurden dann zentrale Kristallisationskerne des Streiks der Baumwollspinnerinnen in Shanghai 1948. Aktivist*innen verkauften sich, mehr oder weniger gegen ihren Willen, als Götter und Halbgötter, um Autorität zur Führung von Aufständen zu gewinnen.
  • Am 7. Februar 1960 erließ die CCP ein Verbot der Hausspinnerei und -weberei. Dies sollte in erster Linie Frauen entlasten, die neben der regulären landwirtschaftlichen Produktion noch die andere Hälfte des Tages mit dieser subsidiären oder niedrigstbezahlten Arbeit verbrachten. Zudem sollte es die patriarchalen autarken Haushalte zu Gunsten eines gleichberechtigteren sozialen Austauschs stärken, ähnlich der öffentlichen Kindererziehung. Die Frauen auf dem Lande entzogen sich massenhaft diesem Verbot. Sie wollten lieber die patriarchale Arbeitsteilung fortführen und sahen die Spinnerei nicht als abstrakte Arbeit an, sondern eher als Hausarbeit, die ihnen der der Staat nicht vorschreiben könne und solle. Für manche war es auch notwendiges Zubrot zur schlechten Versorgung auf dem Land. Erst nach zwanzig Jahren zeigte das Gesetz überhaupt Wirkung.
  • In den 60ern führte die KP eine Kampagne gegen den dörflichen Aberglauben. Grund war eine Reihe von Ereignissen in der durch die Hungersnot traumatisierten Bevölkerung. So trauten sich einige Arbeiter*innen abends nicht aus den Fabriken, da sie kinnlose Geister, eine Art Zombies, fürchteten. Diese seien die Seelen nicht dem Ritus entsprechend bestatteter Toter, die nun rastlos umher trieben. Auf einer Bildungsveranstaltung zur Behebung des Aberglaubens meinte ein Arbeiter, dass er zwar nicht an die buddhistischen Götter glaube, dass man sie aber nicht komplett abstreiten könne, da sonst Blitz und Donner nicht erklärt werden könnten. Die Partei erteilte den Arbeitern sofort einige Stunden Physik. Dabei war der Aberglaube nicht nur schädlich für die Partei. Viele Chines*innen schrieben die Hungersnot bösen Geistern zu (anstatt Mao) und das noch im Aufbau befindliche Gesundheitssystem wurde durch Kräuterfrauen und Wunderheiler entlastet.

Geschichten des Arbeiter*innenwiderstandes

Es werden auch viele Geschichten von verschiedenen Formen des Arbeiter*innenwiderstandes erzählt:

  • Arbeiter*innen spielten eine maßgebliche Rolle in heute eher studentisch tradierten Ereignissen, wie der Kulturrevolution oder den Protesten an Tiananmen-Platz. Mit der Bildung der Roten Garden 1966 zu Beginn der Kulturrevolution bildeten die Arbeiter*innen Shanghais ein Hauptkomitee der Revolutionären Arbeiter. Dieses setzte die Stadtregierung in Januarsturm 1967 ab und übernahm diese zunächst selbst. Das Komitee konnte jedoch kein weiteres revolutionäres Moment erzeugen. Als Repräsentanten der neuen Regierung wurden weitestgehend bekannte Parteikader gewählt. Die Kommune endete mit einer Dreifachlegislative aus Partei-, Staats- und Arbeiterorganen, was jedoch kaum zu einer neuen Praxis führte,
  • 1989 unterstützten die Arbeiter*innen die Studentenproteste, eher aus Soliarität, weniger auf Grund eines eigenen Programms. Dafür kämpften sie umso energischer. Sie hielten eine Demonstrationen und Kundgebungen ab und blockierten nach Ausrufung des Kriegsrechts Militärfahrzeuge. Räte und Milizen schossen wie Pilze aus dem Boden und nach einigen Zeitzeugenberichten sei Beijing fast vollständig von diesen kontrolliert worden. Allerdings wurde das Bündnis von Seite der Student*innen ausgeschlagen, die teilweise herablassend auf die bäuerliche Herkunft der Arbeiter*innen herabblickte.
  • Am 22. Juni 2009 unterzog sich der Arbeiter Zhang Haichao einer ganz besonderen Operation. Seine Lunge wurde bei geöffneter Brust autopsiert. Medizinisch war die Operation nicht notwendig, da Zhangs Pneumokoniose im Regelfall mit Röntgenstrahlung behandelt wird. Er wollte aber ein Zeichen setzen und der gesamten Gesellschaft zeigen, wie schwarz seine Lunge war. Nach sechs Stunden Narkose weckte ihn die Ärztin mit den Worten: „Herzlichen Glückwunsch! Sie haben eine schwarze Lunge!“. Zhang selbst blickt eher resigniert auf die Operation zurück. Er selbst erhielt eine äußerst stattliche Entschädigung, an der allgemeinen Entschädigungspraxis habe sich jedoch so gut wie nichts geändert.
  • Und selbst Gedichte können ein Akt des Widerstandes sein. So entwickelten Wanderarbeiter*innen die Kultur der Dagong-Gedichte, was frei übersetzt „Arbeiten-für-den-Boss“-Gedichte heißt. Wie breit diese Gedichte jedoch in der Arbeiter*innenschaft verbreitet waren oder ob sie am Ende als Kommunikationsform von Mittelschichten und ausländischen Beobachtern über das Proletariat missbraucht wurde, ist noch unklar.

Zusammenfassung

Die Geschichte des chinesischen Proletariats ist eine Geschichte, die gleichermaßen von einem riesigen spontanen Klassenbewusstsein erzählt, aber auch von der langfristigen Unfähigkeit, dieses in eine Diktatur des Proletariats zu überführen. Immer wieder wurde die Macht zurück in die Hände der CCP gegeben, selten auf Grund von Repression, sondern meist aus Alternativlosigkeit. Dabei ist das Bemühen der Kommunistischen Partei, die Arbeiter*innen zunehmend in die Lage zu versetzen, China als große Kommune zu übernehmen, bis Ende der 70er Jahre tief ausgeprägt. Eine Erzählung, die meint, die CCP hätte eine brave, dumme Manövriermasse gewollt, geht fehl. Es waren letztendlich materialistische Faktoren – geringe Produktivkraft, geringer Organisationsgrad, Unwissenheit, Festhalten an überkommenen Traditionen, eine Spur individueller Egoismus – welche die CCP immer wieder in die führende Position spülten. Die Arbeiter*innen wollten repräsentiert werden, die CCP wollte sie repräsentieren, sie konnte aber nicht nur das Proletariat repräsentieren. Noch bis heute ist in den Streiks des chinesischen Rustbelts die Klage nach dem zu frühen Tode Maos zu vernehmen oder ist sein Konterfei auf Bildern zu sehen.

Das Buch trägt die klassischen Nachteil eines Sammelbandes. Die narrative Struktur ist gebrochen. Argumentationen sind auf zehn bis 20 Seiten begrenzt. Es gibt neben zahlreichen gut durchdachten, auch einige eher flache Beiträge. Manche Beiträge haben ihren Weg ins Buch gefunden, weil sie einfach zur Verfügung standen und nicht weil sie das Gesamtbild bereichert haben. Damit muss man bei einem Sammelband leben. Allerdings gibt es einen Vorteil. Wenn sich dann doch ein übergreifendes Narrativ, eine umfassendere kausale historische Struktur aus den Einzelbeiträgen herausschält, ist die Gefahr geringer, dass sie künstlich durch nur eine*n Autor*in hergestellt wurde.

Schlussendlich erzählt er die Geschichte eines Proletariats, dass sich nachts aus Angst vor kinnlosen Geistern nicht aus den Fabriken traut, in Millionenarmeen Heuschrecken auf den Feldern bekämpft, als Helden in der Propaganda verehrt wird, in Fabrikuniversitäten Marx, Lenin, Physik und Maschinenbau studiert, sich in Hoffnung auf das schnelle Geld illegal nach Shenzen schmuggelt, nackt Schiffe wilde Flüsse hinaufzieht, Gedichte schreibt und Bilder malt, aus der Dorfarmut in die Städte migrierte, nur um die nächste Migrationsgeneration zu verachten. Eine Klasse, die bis ins Mark durchsetzt ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft und zugleich mit der neuen Gesellschaft schwanger geht.

Literatur:

Franceschini, I. & Sorace, C. (2022): Proletarian China. A Century of Chinese Labour. New York: Verso.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert