Globales Wertgesetz 2.0

⋄ Das Gesetz, dass aller Wert von der Arbeit her rühre, scheint in einer globalen Ökonomie, in der die arbeitsintensivsten Industrien in die ärmsten Länder ausgelagert sind, ad absurdum geführt.

⋄ Daher wurde durch die Theorie des ungleichen Tausches oder die Einführung eines globalen Wertgesetzes versucht, internationale Abhängigkeiten zu erklären.

⋄ Klemen Knez hält die bisherigen Ansätze allerdings für unzureichend, wie er in der
Review of Radical Political Economics darstellt.

⋄ Sein verallgemeinertes Wertgesetz berücksichtigt nicht nur die Produktivitätsunterschiede zwischen den einzelnen Ländern, sondern auch den Spezialisierungsgrad.

⋄ Für sein Konzept führt er zwei gesellschaftliche Durchschnittsarbeiten ein: eine nationale und eine globale.

Das Marxsche Wertgesetz, nachdem unabhängig vom staatlichen Handeln Preise und Werte von der Zeit der abstrakten Arbeit abhängen, ist nicht nur von bürgerlichen Ökonom*innen, sondern auch von marxistischen Autor*innen vielerorts kritisiert worden. Insbesondere auf globaler Ebene erscheint es kontraintuitiv. Wird nicht in der kapitalistischen Peripherie weit länger und intensiver gearbeitet, als in den imperialistischen Zentren? Fällt nicht zugleich ausgerechnet dort nur ein Bruchteil des Werts ab? Wie passt das zusammen? Und wenn Wert, wie Marx sagt, eine soziale Kategorie ist, muss sich dann die Abhängigkeit des globalen Südens nicht auch in einem der Realität angemessenen veränderten Wertgesetz widerspiegeln?

Klemen Knez vom Zentrum für Internationale Beziehungen an der Universität von Ljubljana hat sich diesen Fragen gestellt. Er schlägt ein generalisiertes Wertgesetz vor, dass nicht nur die Produktivität in den einzelnen Ländern mit einbezieht, sondern auch ihre Spezialisierung auf Monopolwaren.

Was bisher geschah …

Die Idee, die strukturelle Ungleichheit in der Welt mit den allgemeingültigen Gesetzen des Kapitalismus zu erklären, reicht bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück. Während Luxemburg und Lenin im Wesentlichen noch deskriptiv blieben, forderte Isaak Dashkovskij 1926 als erster eine grundlegende Modifizierung des Wertgesetz bei seiner Anwendung auf den internationalen Markt. Da die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit wertbildend sei, könne von den Produktivitätsunterschieden in den einzelnen Ländern nicht einfach abstrahiert werden. Für ihn war die Wiege der globalen Ungleichheit damit in der Produktionssphäre und in der Unterschiedlichkeit der individuellen konkreten und der sozialen Arbeit angesiedelt. Insbesondere trotzkistische Theoretiker*innen wie Ernest Mandel haben diesen Ansatz später weiter verfolgt. Eher in der Zirkulationssphäre angesiedelt betrachtete hingegen die Theorie des ungleichen Tauschs die ökonomische Wirkungsweise des Imperialismus. Arghiri Emmanuel bildete hierzu eine Analogie zwischen internationalem Handel und dem Marxschen Preisbildungsmechanismus aus dem Dritten Band des Kapitals (Näheres hier). Wichtigste Voraussetzung seiner Theorie war, dass das Kapital mobil sei und sich damit eine globale Durchschnittsprofitrate einstelle, während die Arbeitskraft hingegen national beschränkt bleibe, damit Mehrwertraten differieren können. Emmanuels Theorie wurde im akademischen Marxismus, sowie im linken Thirdworldismus breit aufgenommen, während die kommunistische Bewegung die Theorie immer wieder verdächtigte, ein Ausbeutungsverhältnis zwischen den Arbeiter*innenklassen der Peripherie und der kapitalistischen Zentren zu behaupten.

Klemen Knez lehnt die Theorie des ungleichen Tausches ab. Nach ihm gehe Emmanuel davon aus, dass die Arbeit in allen Teilen der Welt gleich wertbildend sei, unabhängig von ihrer Produktivität Diese Behauptung stimmt so nicht, da in den entsprechenden Gleichungen die Zahl der Arbeiter*innen bzw. die konkrete Arbeitszeit keine Rolle spielt. Knez’ Behauptung, diese Theorie zeige nur den Transfer konkreter Arbeit auf, aber nicht des abstrakten Werts, vermischt zudem verschiedene Abstraktionsebenen. Aber aus der falschen Kritik an einer Theorie, folgt nicht automatisch, dass die von Knez vorgestellte Alternative nicht Probleme angeht, welche die Theorie des ungleichen Tausches durchaus hat. Denn der von Emmanuel vorgestellte Verwertungsprozess ist tatsächlich phänomenologisch schwer zu untersuchen. Allerdings kritisiert Knez auch den Ansatz Dashkovskijs, da dieser zu Widersprüchen gegenüber der empirischen Beobachtung führe. Der Ansatz setze nämlich die globale Vergleichbarkeit der abstrakten Arbeit voraus, die aber nur eingeschränkt gültig sei.

Das Konzept eines globalen Wertgesetzes

Knez’ Konzeption beruht nun auf zwei Pfeilern. Erstens auf den Unterschieden in der Produktivität. Unter Produktivität versteht Knez die Produktion von Wert pro Einheit von Arbeit. In dieser Abstraktheit ist die Definition natürlich problematisch, da der Wert durch seinen sozialen Charakter auch erst die Arbeit in ein soziales Verhältnis setzt und somit die Fehlvorstellung nahe gelegt wird, eines von beiden, abstrakte Arbeit oder Wert, seien etwas natürlich messbares. Gemeint ist damit, dass man sich eine Einheitsware vorstellen kann und wenn in der selben Zeit doppelt soviel Ware hergestellt werden kann, die Produktivität doppelt so hoch ist, was praktisch nachvollziehbar ist.

Der zweite Pfeiler ist der Grad an Spezialisierung. Der Grundgedanke ist folgender. Produktivität kann nur dann verglichen werden, wenn die Waren annähernd gleich sind. Wenn ein Land nur Bananen herstellt und das andere nur Gummihühnchen, ergibt sich zwar ein Austauschverhältnis von Gummihühnchen und Bananen über die jeweiligen konkreten Arbeitszeiten, aber über die Produktivität der Produktion der einzelnen Waren selbst ist keine Auskunft zu erhalten. Wenn allerdings beide Länder sowohl Gummihühnchen als auch Bananen herstellt, kann die benötigte Arbeitsmenge pro Wareneinheit verglichen werden. Für ein Land mit generell niedriger Produktivität kann daher die Produktionsnische eine Möglichkeit sein, nicht von der niedrigeren Produktivität benachteiligt zu werden.

Denkt man dies zu Ende, müsste eine Stunde Arbeitszeit in einem wenig entwickelten Land bei vollständiger Spezialisierung der Produktion genauso viel Wert produzieren, wie eine Stunde globaler abstrakter Arbeitszeit. Stellt ein wenig entwickeltes Land hingegen eine der Konkurrenz unterliegende Ware her, müsste der Wert pro Stunde bei geringerer Produktivität auch entsprechend geringer ausfallen. Das Problem ist nur: empirisch verhält es sich nicht so. Tatsächlich unterscheiden sich die Ausbeutungsraten in weniger entwickelten Ländern so gut wie gar nicht und damit auch nicht abhängig vom Spezialisierungsgrad oder von der Produktivität. Und gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern, deren hohe Produktivität auch eine hohe organische Zusammensetzung verlangt, müsste der einfache Mechanismus der Spezialisierung einen absoluten Wettbewerbsvorteil darstellen, der entweder zum raschen Aufstieg der Nationen oder zu Kapitalströmen in diese Länder führen müsste. Dem entgegen beobachten wir aber eine relative Stabilität der globalen Produktionshierarchien, wobei sich die Ausnahme China gerade nicht durch Spezialisierung entwickelt hat. Und auch die Kapitalströme aus den imperialistischen Zentren sind im Wesentlichen von den Akkumulationszyklen in den Zentren bestimmt und nicht von den Entwicklungen in den abhängigen Ländern.

Nationale abstrakte Arbeit als Zwischenschritt

Um dieses Problem zu bewältigen, definierte Knez, dass bei der Betrachtung der ökonomischen Beziehungen zweier Länder nicht die durchschnittlichen Produktivitäten entscheidend seien, sondern die Summen aller Produktivitäten, wodurch der nationale Wettbewerb berücksichtigt wird. Dadurch entstehen zwei gesellschaftlich notwendige Arbeitszeiten: einmal die durchschnittliche nationale gesellschaftliche notwendige Arbeitszeit und einmal die globale. Der Prozess der Transformation konkreter in abstrakte Arbeit würde dann nach Knez folgendermaßen aussehen: Erst wird die konkrete Arbeitszeit auf dem nationalen Markt verglichen, um die national notwendige Arbeitszeit und damit den Wert der Ware zur ermitteln. Ist die Gesamtproduktivität eines Landes gering, dann kann selbst eine stark spezialisierte Industrie nur auf nationaler Ebene die verausgabte Arbeitszeit unabhängig von der Produktivität verrechnen, allerdings noch nicht auf dem Weltmarkt.

Dieser Wert ist es dann, der sich dann erst in zweiter Instanz auf dem Weltmarkt vergleicht und auch einer vollständig spezialisierten Industrie nur entsprechend der eigenen national durchschnittlichen Produktivität ihren Wert zukommen lässt, wodurch sich die Abhängigkeitsmuster verfestigen.

Zur Illustration nehmen wir zwei Länder A und B an, von denen beide Reis herstellen, das einzige Lebensmittel, dass die Arbeiter*innen brauchen. Land B stellt den Reis mit der doppelten Produktivität her. Als zweite Industrie stellt Land A Schuhe und Land B Computer her, wobei die Produktivitäten auf Grund der unterschiedlichen Qualität der Ware nicht verglichen werden können. Reis hingegen ist die Standardware und kann frei getauscht werden. Es passiert nun eben nicht, dass sich die Arbeitszeit für die Schuhe auf Grund des Monopolcharakters 1:1 mit der Arbeitszeit der Computer tauscht. Da der Reis frei getauscht werden kann und die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit durch die hohe Produktivität des Landes B gesenkt wurde, entsprechen die Schuhe auf der nationalen Ebene des Landes A nur der Hälfte der Arbeitszeit für den Reisanbau im eigenen Land. Man kann sich auf der Ebene der Reproduktionskosten auch vorstellen, dass die Senkung des Werts der Lebensmittel auch den Wert der Ware Arbeitskraft verringert. Für spezialisierte Industrien gilt daher nicht der unmittelbare Vergleich auf dem Weltmarkt, was dazu führt, dass spezialisierte Produktion in Ländern mit hoher Gesamtproduktivität auch mehr abstrakte Arbeitszeit geltend machen kann, als spezialisierte Produktion in abhängigen Ländern.

Folgerungen

Mit der eigentlich recht simplen Argumentation eröffnet Knez eine neue Betrachtungsweise von Wirkungsketten. Es wirft zunächst einen neuen Blick auf die Rolle des Staates als ideeller Gesamtkapitalist. Ein Exportunternehmen ist auf dem Weltmarkt nicht nur von der eigenen Produktivität abhängig, sondern kann um so höhere Preise erzielen, desto produktiver auch die nationale Konkurrenz ist. Das führt zu spannenden Dynamiken und kann beispielsweise erklären, warum beispielsweise ein Industrieunternehmen wie Bosch ein Interesse an der Förderung hochproduktiver Schweinemastanlagen haben kann. Für jedes Unternehmen gibt es in einem solchen Verwertungsprozess eine Art Paretooptimum, durch welches die Förderung der nationalen Konkurrenz – die natürlich nicht so stark gefördert werden darf, dass sie sämtliches Kapital aufsaugt oder die eigenen Märkte ruiniert – die internationale Konkurrenzfähigkeit erhöht. Die Kapitalisten als Klasse hätten ein gemeinsames Klasseninteresse an einer hohen nationalen Produktivität und somit wären auch die Solidaritätsmechanismen innerhalb der Bourgeoisie zu erklären, die unter dem Konstrukt des reinen Konkurrenzkapitalismus nicht schlüssig zu beschreiben wären. Ein solcher Mechanismus wäre daher auch ein interessanter Punkt in der Staatsableitungsdebatte.

Weiterhin würden die vergangenen Prozesse der Globalisierung gut darstellbar. Ein Unternehmen, dass in einer ansonsten komplett national integrierten Ökonomie, als erster in ein weniger entwickeltes Land exportiert und aus diesem importiert, erhält durch die nationalen Produktivitätsunterschiede einen Extraprofit. Anders als andere Abhängigkeitstheorien verschwinden diese Extraprofite allerdings wieder, wenn eine Ökonomie total global integriert ist. Das würde auch bedeuten, dass die Desintegrationsprozesse der Arbeiter*innenklasse nur temporärer Natur wären, während die integrativen Prozesse der Bourgeoisie auch nur von begrenzter Dauer wären.

Allerdings ist das natürlich ein hochtheoretischer Fall. Vielmehr zeigt Knez’ Konzeption auch, dass sich die globale Ungleichheit durchaus konservieren lässt, wenn die richtige Proportion von Produktivitätsunterschieden und Spezialisierung gefunden wird. Wenn unproduktive Produktion monopolisiert wird, während die produktive Industrie verallgemeinert wird, lassen sich dauerhafte Vorteile für die kapitalistischen Zentren erzielen. Damit ließe sich erklären, warum einige Glieder der Wertschöpfungsketten in den imperialistischen Zentren bleiben – und warum es ausgerechnet die materiell unproduktiven sind -, während die hochproduktive Massenfertigung ausgelagert wird. Genau im Gegenteil ist es auch hochprofitabel für das imperialistische Kapital, arbeitsintensive, aber wenig produktive Arbeit im globalen Süden verrichten zu lassen. Das sind zumindest alles Prozesse, die wir auch objektiv beobachten können und für die Knez hier einen interessanten Analyserahmen bereit stellt.

Was Knez aber allerdings nicht nachgewiesen hat, ist, dass die dargestellten Prozesse nicht mit der Transformation von Werten und Preisen korrespondiert. Folgt man der Marxschen Voraussetzung, dass die organische Zusammensetzung gemeinsam mit der technischen steigt und sinkt (andernfalls würde schlicht ein höherer bezahlter Preis für Produktionsmittel zu Extraprofiten führen), dann gibt es eine direkte Abhängigkeit zwischen Produktivität und organischer Zusammensetzung. Nimmt man weiterhin ernst, dass der Wert zwar in der Produktion entsteht, aber nur durch die Einheit von Produktion und Zirkulation realisiert wird, kann der Marxsche Preisbildungsmechanismus ohnehin nicht einfach nur der Zirkulation zugerechnet werden. Es besteht die Möglichkeit, dass hier auf der Ebene der Produktion der gleich reale Verwertungsprozess dargestellt wird, wie es die Theorie des ungleichen Tauschs für die Zirkulationssphäre tut. Knez räumt mit seiner Theorie damit die Unstimmigkeiten von Dashkovskij, Mandel oder Amin vorläufig aus, macht aber keinen strengen Widerspruch zur Theorie des ungleichen Tauschs auf.

Zusammenfassung

Klemen Knez hat einen sehr interessanten Ansatz zur Modifizierung und Generalisierung des Wertgesetzes vorgelegt, dass großes Potential birgt, die komplexen Prozesse der international integrierten Produktion, die sich nicht mehr so leicht nur mit den drei Kapital-Bänden abdecken lässt, zu erklären. Das Konzept besticht durch seinen klaren und recht einfachen Ansatz, aber die Mächtigkeit seiner Folgen. Ob es allerdings ein Alternativkonzept zur Theorie des ungleichen Tausches ist oder die zugrunde liegenden Realprozesse nur auf einer anderen Ebene der gesellschaftlichen Totalität ist, ist nicht nachgewiesen. Es dürfte aber in jedem Fall spannend sein, das Konzept des generalisierten Wertgesetzes noch weiter theoretisch zu unterfüttern – etwa durch die Berücksichtigung des Charakters der Konsumtions- und Produktionsmittelindustrien – und die aktuellen Prozesse der Marktöffnungen, Wirtschaftskriege und technologischen Entwicklungen unter diesem Konzept zu analysieren.

Literatur:

Knez, K. (2024): Uneven Development, Choice of Technique, and Generalized Worldwide Law of Value. In: Review of Radical Political Economics. Online First. DOI: 10.1177/04866134241234362.




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