Hippies, Nerds und Kommunisten … und Empanadas

⋄ Nachdem Salvador Allende 1970 zum chilenischen Präsidenten gewählt wurde und Teile der Industrie verstaatlichte, sagte ihm die Reaktion mit Hilfe der USA den Kampf an.

⋄ Um diesen Kampf zu gewinnen, initiierten Allende und Fernando Flores von der staatlichen Entwicklungsagentur das Cybersyn-Projekt, um eine kybernetische Planwirtschaft zu entwickeln.

⋄ Dazu holte man den exzentrischen britischen Wissenschaftler und “Vater der Kybernetik” Stafford Beer nach Chile.

⋄ In seinem neuen Podcast-Projekt The Santiago Boys vermittelt der Technologieforscher Evgeny Morozov die Geschichte des Projekts und seiner Protagonisten.

⋄ Der Podcast ist exzellent produziert, packend erzählt, emotional beeindruckend und eine Standardkerze linker Publizistik im Jahre 2023.

Es ist eine Geschichte wie ein Hollywood-Film, ein Kampf Gut gegen Böse.. Auf der einen Seite stehen die Vertreter des einfachen Volkes, welche die Schätze des Landes den Menschen zukommen lassen wollen, die sie in den Fabriken und Minen erarbeiten oder den Boden bestellen. Auf der anderen Seite stehen riesige Firmen mit brutalen Schlägerbanden, gestützt von einem dunklen Imperium. Entscheiden soll den Kampf ein exzentrischer, eigentümlicher Informatiker, der in einem technisch rückständigen Land das fortschrittlichste Computersystem der Welt aufbauen soll. Das ist die Geschichte von Cybersyn. Das ist die Geschichte von Allende. Und es ist die Geschichte seines Sturzes.

Evgeny Morozov erzählt in seinem neusten Podcast The Santiago Boys die Geschichte eines der ambitioniertesten Projekte der sozialistischen Linken aller Zeiten. Er zeichnet Figuren nach. Er erläutert Hintergründe. Er weckt Emotionen. Und er stellt die Frage nach der Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen politischen Problemen und technologischen Lösungen am historischen Fall der Regierung Allende in Chile ganz konkret.

Das Projekt

Evgeny Morozov ist ein belarussischer Publizist und Wissenschaftler, der sich mit der Geschichte und den sozialen Auswirkungen des Internets beschäftigt. Momentan forscht er hierzu an der Universität von Harvard. Kolumnen schrieb er unter anderem für Foreign Policy, die Franfurter Allgemeine Zeitung, Le Monde und The Guardian. Morozov hält moderne Informationstechnologien nicht für ideologieneutral und bedingungslos demokratisch, sondern unterscheidet zwischen progressiven Auswirkungen, wie der Ermöglichung von Informationszugängen, sozialer Vernetzung, politischer Partizipation im Gegensatz zu sanktionierendem Solutionismus, der durch technokratische Lösungen plurale Diskussion unterdrückt.

Evgeny Morozov

Sein Podcast-Projekt The Santiago Boys ist eine historische Fallstudie zu dieser Kernfrage. Er wurde von Morozovs eigener Medienproduktionsfirma Post-Utopia herausgegeben und ist quasi eine Erweiterung von Morozovs biographischen Forschungen über Stafford Beer. Er führte für den Podcast über 200 Interviews und sparte auch ansonsten nicht an moderner Produktion.

The Santiago Boys kommt nicht als simpler Podcast daher. Angeschlossen ist eine komplette Internetseite mit vertiefenden Informationen zu jeder Episode, Interviews mit verschiedensten Akteur*innen – Gegnern und Beteiligten von Cybersyn, Historiker*innen, Journalist*innen –, einem Glossar und Quellenangaben zu Behauptungen Morozovs. Dazu gibt es Teaser, Trailer und Presseinformationen; alles, was es braucht, um das aufwendige Projekt auch populär zu machen. Die stilistisch schlichte, aber ansprechende Seite ist dabei immer noch im Wachstum begriffen. Es schließt sich also gleich ein kleines Universum an den Podcast an.

Zumindest in den ersten Wochen war Morozov sehr erfolgreich. Zahlreiche große Tageszeitungen haben seinen Podcast besprochen, wozu neben der guten Aufmachung sicher auch seine breite Vernetzung beigetragen haben. El Pais widmete der Besprechung so viel Platz wie Barbie und Oppenheimer zusammen. Und auch Adam Tooze – der sich nach dem breit rezipierten jung&naiv-Interview aktuell steigender Popularität erfreut – zeigte sich begeistert.

Salvador Allende und das Cybersyn-Projekt

Zur Rekapitulation: 1970 gewinnt der linke Sozialdemokrat Salvador Allende an der Spitze des breiten Volksbündnisses Unidad Popular die Präsidentschaftswahlen in Chile. Seine Regierung beginnt unmittelbar mit der Verstaatlichung amerikanischer Großunternehmen und dem Aufbau staatlicher Koordinierungsstrukturen für die Wirtschaft. Die Bourgeoisie wiederum sagt in Zusammenarbeit mit den USA und vereint in in der rechten Organisation Patria y Libertad Allende den Kampf an. Die politische Zerrissenheit lässt die Inflation auf fast 50% anwachsen.

Morozov charakterisiert Allende als eine Person, welche die Einheit der Arbeiter*innen und der lohnabhängigen Mittelschicht in seiner Person – ein Arzt aus einer Ärztefamilie – authentisch verkörpern konnte. Die Unidad Popular konnte ihrem Namen alle Ehre machen. Und ganz der Tradition des rationalistischen Bürgertums verhaftet, wollte Allende für die anstehenden Probleme technokratische Lösungen durchsetzen. Er erkannte, dass die amerikanischen Großkonzerne schlecht für das chilenische Volk waren; also ließ er sie enteignen. Er erkannte, dass es eigener Lösungen zur Koordination der Wirtschaft bedurfte; also setzte er auf die Santiago Boys.

Der “War Room” des Cybersyn-Projekts

Mit Santiago Boys bezeichnet Morozov eine Gruppe junger Wissenschaftler unter der Leitung des britischen Kybernetikers Stafford Beer und des chilenischen Wirtschaftswissenschaftlers Fernando Flores. Letzterer lud den Vater der Kybernetik 1971 zur Corfo, der staatlichen Entwicklungsagentur ein, welche die Verstaatlichungen verwaltete. Beer sollte bei den Koordinationsproblemen helfen und entwickelte rasch viele Ideen. Produktionsdaten und Konsumwünsche sollten in Echtzeit gesammelt, ausgewertet und in einer Planung zusammengefasst werden. Zentraler Ort des Projekts sollte ein so genannter vom Zweiten Weltkrieg inspirierter War Room werden, in dem alle Informationen zusammenliefen. Das war das Cybersyn-Projekt. Viele Menschen empfinden heute den bekannten Cybersyn-Raum als Retro. Die Pointe ist, dass er damals bereits Retro war. Das Rohmaterial musste von der Post zweckentfremdet werden. Das ist grob die Exposition der Geschichte, welche Morozov nun in neun Folgen entspinnt.

Die Santiago Boys – eine Geschichte in Widersprüchen

Das ganze Projekt war eine einzige Ungeheuerlichkeit und Morozov entwickelt die Geschichte des Projekts entlang der sich Bahn brechenden Widersprüchen, die dieses Projekt provozieren musste. Der erste fundamentale Widerspruch des Projekts lag darin, dass eine utopische Planwirtschaft nicht als Pilotprojekt in Kalifornien oder Westeuropa gestartet wurde, sondern aus der Not heraus in Chile; einem Land, in dem noch viel von Hand gearbeitet wurde und in dem Armut kein Fremdwort war. Computer waren kaum bekannt, geschweige denn die Kopplung einer ganzen Industrie durch eine zentrale kybernetische Verarbeitung. Leicht gelang es den Gegnern Allendes, die Angst vor einer technokratischen Herrschaft zu schüren. Sie warnten, dass diese neue Technik das Kleinbürgertum gängeln werde. Und nicht nur die Gegner Allendes waren skeptisch. Auch die Gewerkschafts- und Parteibürokratie, sowie linksradikale Aktivisten hielten das Projekt für eine Entfremdung der Arbeiter*innen von ihren Produktionsmitteln. Zwar war es Beers Ziel, das System so einfach zu gestalten, dass ein*e Arbeiter*in nur eine kurze Einführung bräuchte, um es zu verstehen. Nach seiner Meinung gewinne das Proletariat dadurch sogar Macht, indem es Informationen und Konsumwünsche unmittelbar artikulieren könne. Aber wer sollte das mit dem damals vorauszusetzendem Wissen über Informatik glauben?

Ein zweiter Widerspruch fand auf persönlicher Ebene statt. Stafford Beer war ein exzentrischer Intellektueller der britischen Elite. Er galt als intelligent, aber nicht unumstritten. Er liebte seinen Rolls Royce und reiste nach Chile mit einem Playboy in der Tasche. Dennoch war er ein Alliierter der Arbeiter*innenklasse. In Chile tauschte er die Lektüre des Playboys gegen Maos. Bereits in England übergab er nach seinen ersten kybernetischen Gehversuchen bei United Steel die Rohdaten der Gewerkschaft, damit seine Ergebnisse nicht zur verstärkten Ausbeutung der Arbeiter*innen verwendet würden. Dennoch lebte er weitestgehend in seinem eigenen Kosmos und verstand wenig davon, dass wissenschaftlich plausible Erkenntnisse auch der politischen Durchsetzung bedürfen. Ihm gegenüber standen Menschen aus dem chilenischen Volk. Allendes Revolution war eine Revolution des Rotweins und der Empanadas gewesen. Die Sozialist*innen, die immer wieder den Angriffen der Reaktion ausgesetzt waren, welche die Menschen in den Bergwerken und auf den Feldern für eine neue solidarische Gesellschaft begeistern sollten; in einer bewegten Zeit hatten sie wenig Verständnis für die Ruhe und Zurückgezogenheit, welche Beer für das Cybersyn-Projekt benötigte.

Und nicht zuletzt fuhr Cybersyn im Wellenmeer der internationalen Widersprüche. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren alles andere als begeistert von den Verstaatlichungen Allendes, auf deren Grundlage eine Planwirtschaft erst möglich wurde. Nixon tobte und Morozov scheut sich nicht vor wörtlichen Zitaten, um die Wut aus dem Weißen Haus zu illustrieren. Darüber hinaus war Brasilien als größtes Land Südamerikas eine pro-westliche Militärdiktatur, welche nur zu gern bereit war, im Kampf gegen Allende zu kooperieren. Unter den Verbündeten Allendes befanden sich natürlich die Revolutionäre Kubas, zu denen Allende jedoch nicht zu enge Beziehungen pflegen durfte, um die Opposition nicht unnötig zu reizen. Allein die Sowjetunion zeigte wenig Motivation, dem chilenischen Präsidenten die benötigte Hilfe zu liefern. Bereits die Unterstützung Kubas war recht kostspielig und darüber hinaus war man nicht bestrebt, 10 Jahre nach der Kubakrise den fragilen Frieden zwischen den USA und der UdSSR aufs Spiel zu setzen.

All dies kulminierte im Widerspruch zwischen der langfristigen Auslegung des Cybersyn-Projekts und den kurzfristigen Bedürfnissen der Allende-Regierung. Sollte man dringend benötigte Ressourcen in ein Experiment mit offenem Ausgang, das kaum jemand wirklich verstand, investieren? Immerhin half die Datenverarbeitung, den Lastkraftfahrerstreik von 1972 zu bezwingen. Hier protestierten die unabhängigen Fahrer gegen die Pläne der Regierung, eine staatliche Transportagentur aufzubauen. Während ein großer Teil der Streikenden als selbstständige Kleinbürger eher der Rechten nahe standen, gab es auch einige allendetreue Fahrer. Man konnte berechnen, dass sich die Transporte mit letzteren so organisieren ließen, um das ökonomische Leben eine längere Zeit aufrecht zu erhalten. So mussten die Streikenden unverrichteter Dinge aufgeben. Ein kurzfristiger Sieg des Allende-Lagers und ein kleiner Lichtschein auf die Möglichkeiten des Projekts. Mitbegründer Fernando Flores wurde in der Folge sogar zum Wirtschaftsminister ernannt.

Der Putsch und das Ende von Cybersyn

Dem Cybersyn-Projekt mangelte es an vielem. Technik musste improvisiert werden. Ausgebildetes Personal gab es wenig. Der Unterstützung durch die Bürokratie konnte man sich nicht sicher sein. Aber in erster Linie mangelte es an einem: an Zeit. Als Salvador Allende chilenischer Präsident wurde, wusste er, dass ihm nur wenige Jahre zur Verfügung stehen würden. Seine einheimischen und internationalen Gegner würden nichts unversucht lassen, um ihn zu Fall zu bringen. Und an diesem ikonischen 11. September im Jahre 1973 schlugen sie zu. Allendes Legacy verblieb als die einer Niederlage des Versuchs, den Sozialismus demokratisch erreichen zu wollen und an der Waffengewalt des Imperialismus zu scheitern.

Morozov räumt mehr oder weniger mit der Vorstellung auf, Allende wäre hinsichtlich der Gefahr eines Putsches naiv gewesen. Vielmehr interpretiert er die recht zeitige Abwicklung des Cybersyn-Projekts als Versuch, dem Feind im Falle eines Umsturzes kein so bedeutendes Machtmittel in die Hände fallen zu lassen. Auch wurden militärische Vorkehrungen getroffen, aber der Versuch einer Bewaffnung der Linken aus den Mitteln des Militärs oder mit Unterstützung Kubas hätte die Situation sofort eskalieren lassen. Die vorhandenen Waffen waren Jagdgewehre; nicht geeignet, um gegen die Luftwaffe zu kämpfen, welche den Präsidentenpalast La Moneda bombadierte. Trotz des Bewusstseins über die Gefahr, stand die politische Führung dem mustergültig durchgeführten Staatsstreich paralysiert und hilflos gegenüber. Ein Bild der Gesamtsituation hatte kein Regierungsmitglied. Nur in Stafford Beers War Room flossen die Informationen über die vielen gezielten Schläge des Militärs zusammen. Aber hätte es etwas geändert?

Für die Mitarbeiter des Cybersyn-Projektes standen während des Putsches zwei Dinge im Vordergrund: die Rettung des eigenen Lebens und die Rettung der Pläne und Daten des Cybersyn-Projektes. Die ausländischen Mitarbeiter genossen den Schutz ihrer Regierungen, von denen sich Pinochet langfristig Anerkennung erhoffte. Manche Chilenen tauchten unter, andere flohen in lateinamerikanische Nachbarländer und versuchten z.B. in Peru ähnliche Projekte aufzubauen. Und manche landeten in Foltergefängnissen der Faschisten.

Die letzten beiden Folgen der Santiago Boys bilden dann auch den Epilog. Stafford Beer verarbeitet das Trauma seines ersten gescheiterten Projekts irgendwie zwischen revolutionärem Voluntarismus, spiritueller Erneuerung in Indien und persönlichem Eskapismus. Fernando Flores zieht nach Silicon Valley und macht einen Haufen Geld. Chile wird erneut zum Experimentierfeld; diesmal für einen diktatorisch durchgesetzten Neoliberalismus, der unter anderem bei Margaret Thatcher großen Anklang findet. Das Cybersynprojekt wird scharf als protofaschististsche Computerdiktatur attackiert und ebenso heißblütig verteidigt. Morozov verbindet zuletzt die Geschichte mit seinem Kernanliegen, dass Technik nur ein Mittel der Organisation, nicht der Automatisierung des sozialen Lebens sein dürfe.

Zusammenfassung

The Santiago Boys ist bisher das linke Medienereignis des Jahres. Der Podcast ist exzellent produziert. Die Geschichte stimmig und herausragend erzählt. Evgeny Morozov liebt die Details und weiß, sie zu arrangieren. Der Podcast nimmt die Hörer*in dabei emotional mit und hinterlässt sie irgendwo zwischen Melancholie und Wut, dass nicht nicht wurde, was nicht sein durfte. Wer also noch nicht anti-amerikanisch ist, aber es schon immer werden wollte, der sollte Episode 1, 2 und 7 hören. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung verglich nicht zu Unrecht The Santiago Boys mit einer Netflix-Serie. Auf der anderen Seite erdet Morozov allzu technikzentrierte Planwirtschaftsfreunde. Lineare Optimierung, Input-Output-Rechnung, moderne Statistik; all dies kann zwar ein Hilfsmittel des sozialistischen Aufbaus sein, aber der Kampf um die Köpfe und Herzen wird damit nicht gewonnen.

Literatur:

Der Podcast ist auf allen gängigen Plattformen verfügbar. Empfohlen wird die Internetseite des Podcasts, auf der neben allen Episoden auch zahlreiches Zusatzmaterial verfügbar ist:

https://the-santiago-boys.com/

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