Marxismus und Antisemitismus

⋄ Insbesondere in der wissenschaftlichen marxistischen Literatur wird der Vorwurf des Antisemitismus gegenüber Marx oder Marxist*innen schnell abgetan.

⋄ Die letzte Doppelausgabe der
Historical Materialism versammelte Aufsätze von Autor*innen, welche die Problemlage als ernst erachten und entsprechend problematisieren.

⋄ Zentral ist dabei Marxens Frühwerk
Zur Judenfrage, dass sowohl Ausgangspunkt für eine materialistische Antisemitismus-Kritik als selbst Ziel von Antisemitismus-Vorwürfen ist.

⋄ Auch Moishe Postones
Nationalsozialismus und Antisemitismus übte großen Einfluss auf die materialistische Interpretation der Shoah aus und wurde in der Ausgabe mehrfach aufgegriffen.

⋄ Zuletzt wurde das endemisch deutsche Phänomen der Antideutschen historisch in die Geschichte der radikalen Linken eingeordnet.
Jüdischer Bolschewismus oder Antisemitischer Marxismus?

In der kommunistischen und wissenschaftlich-marxistischen Literatur wird der Vorwurf des Antisemitismus, der gegenüber linken Gegner*innen des Zionismus geäußert wird, meist als selbstverständlich zurückgewiesen. Wahlweise interpretiert man diesen Vorwurf als bewusste Verleumdungsstrategie gegenüber jeglicher Kritik am israelischen Siedlerkolonialismus oder als Unkenntnis des eigentlichen Anliegens der Linken. Dass mit dem Kampf gegen den Zionismus keine Feindschaft gegenüber Jüd*innen im Allgemeinen verbunden ist, wird trotz Differenzen in der Bewertung konkreter Konflikte, vorausgesetzt. Dabei ist Antisemitismus nichts, dass man unbedingt auf den ersten Blick sehen könnte und eine Zurückweisung des Vorwurfs wäre daher voraussetzungsvoll.

Die Historical Materialism versammelte in einer Doppelausgabe verschiedene Aufsätze, welche die Ferne von Marxismus und Antisemitismus nicht als gegeben betrachten. Das bedeutet nicht, dass die Autor*innen Marxist*innen per se unterstellen, antisemitisch zu sein. Aber sie erkennen in der großen Mehrheit doch eine Problemlage an. Sind solche Ansätze auch fruchtbar? An dieser Stelle sollen einige der Aufsätze vorgestellt werden.

Die jüdische Frage und Palästina-Solidarität

Eine zentrale Frage der Aufsätze ist, in welchem Verhältnis die jüdische Frage mit der anti-imperialistischen Palästina-Solidarität steht. Ausgangspunkt dieser Bestimmung ist der berühmte Aufsatz von Marx Zur Judenfrage, indem Marx die Doppelgestalt des bürgerlichen Individuums entlang der Frage nach der Emanzipation der Juden diskutiert. Laut Marx zerfalle das bürgerliche Subjekt in den egoistischen Eigentümer – entweder der Produktionsmittel oder der eigenen Arbeitskraft – der auf Kosten der anderen versuche, den größtmöglichen eigenen Vorteil zu erlagen. Marx nennt ihn den bourgeois. Und es gibt den Bürger, der am Erhalt der Gesamtreproduktionsbedingungen – Staat, Recht, Moral, Anerkennung des anderen Eigentums – interessiert ist und demgemäß aus der Position der über ihn stehenden Gesellschaft denkt, den citoyen. Da beide Gestalten entgegengesetzte Interessen vertreten, zerfällt auch das bürgerliche Subjekt in eine Doppelgestalt aus individuellem, egoistischen und kollektivem, sozialem Wesen. Beide stehen gegeneinander im realen Widerspruch, der erst durch die allgemeine Emanzipation der menschlichen Gesellschaft und die Überwindung dieser Doppelgestalt aufgehoben werde. Damit argumentierte Marx, warum Jüd*innen nicht aufhörten, jüdisch zu sein, wenn sie sich rechtlich und kulturell in die deutsche Gesellschaft assimilierten, da die Religion einfach von einer Eigenschaft des citoyens zu einer des bourgeois wechsle; quasi zur Privatangelegenheit wäre. Dieser Wechsel, so Marx, habe in den USA bereits umfassend stattgefunden und das Christentum sei dadurch nicht geschwächt, sondern sogar gestärkt worden.

Sune Haugbølle übersetzte diese Argumentation nun in die Debatte um Israel und Palästina. Auch hier träten der individuell und der allgemeine Charakter des bürgerlichen Moralverständnisses aufeinander. Dem jüdischen Volk sei während der Shoah ein so massives Verbrechen angetan worden, dass daraus die Parole, dass Auschwitz nie wieder sei, erwachsen musste. Die Größe des Verbrechens der Shoah war jedoch so groß, dass diese Forderung als allgemeine zu verstehen sei. Der Schutz vor Genoziden konnte nicht mehr nur als Schutz der Jüd*innen als individuellem Volk verstanden werden, sondern als Schutz aller Völker und Individuen. Damit konnte sich aber das jüdische Volk nicht mehr alleinig auf diesen Schutz berufen, der unter anderem nach eigenem Mythos in der Staatsgründung Israels materialisiert wurde. Die Dialektik entspann sich aus dem Widerspruch zwischen dem aus der Shoah erwachsenen individuellen jüdischen Recht auf Schutz und dem ebenfalls aus der Shoah erwachsenen allgemeinen Recht auf Schutz aller Völker. Wer in der Palästina-Frage hier Position beziehen wollte, musste zwangsläufig eine Seite des dialektischen Widerspruchs ausklammern. Haugbølle wirft daher der palästina-solidarischen Linken keinen Antisemitismus vor, sondern den Wunsch, die individuelle jüdische Frage ausklammern zu können, obwohl sie notwendiger dialektischer Bestandteil des Problems ist. Solche Wünsche hätten sich in Parolen, wie „Das unterdrückte Volk hat immer Recht.“ artikuliert. Im Licht der Erkenntnis der notwendigen Selbstwidersprüchlichkeit hält Haugbølle einen unvermittelten Anti-Zionismus wie in den 70ern heute für nicht mehr tragbar.

Jean-Pierre Couture fasste die zeitgenössische Kritik an Marxens Zur Judenfrage in Frankreich zusammen. Diese aus dem rechten und links-liberalen Lager stammende Kritik bezieht sich im Wesentlichen auf zwei Hauptstränge. Erstens habe Marx das Judentum in ressentimentbehafteter Weise mit kapitalistischer Geldwirtschaft und bürgerlichem Egoismus gleichgesetzt. Er habe die Heterogenität des jüdischen Lebens in Deutschland nicht beachtet und stattdessen den Vorurteilen nur eine profane Form gegeben. Dies habe er aus den Schriften von Moses Hess übernommen, der den Finanzhandel auf Blut und Bibeltexte zurückführe. Couture entgegnet hier, dass Marx Hess gerade für diese Stellen ausdrücklich kritisiert habe, was von den Marx-Kritikern wohlweislich übergangen worden sei. Leider geht er nicht darauf ein, dass Marx in der kapitalistischen Moderne ja kein Verbrechen gegen die alte Ordnung sah, dem mit moralischer Kritik zu begegnen sei, sondern wenn Marx Judentum und Moderne gleichsetzt, dies einen zwiespältig anerkennenden Charakter besitzt. Darüber hinaus ging es Marx bei seiner Kritik an Bruno Bauer, der die Juden für nicht assimilierbar hielt, auch nicht um die historisch konkrete jüdische Bevölkerung, die Marx durch seine Herkunft gut kannte, sondern gerade um das Bild des Judentums in der deutschen Gesellschaft, an dem sich die „Judenfrage“ der damaligen Zeit entspann.

Eine zweite Angriffsrichtung auf Marx entspann sich aus der Schlussfolgerung von Marx, dass die wahre Emanzipation des jüdischen Menschen auch die Emanzipation vom Judentum sei. Aus der allgemeinen Religionskritik von Marx wird der Teilaspekt der Kritik am Judentum losgelöst und in Anbetracht der gegenüber dem Judentum verächtlichen Äußerungen in den Briefwechseln Marxens als antisemitisch ausgelegt. Couture kontextualisiert hier berechtigterweise, dass Marx die Emanzipation der Juden – also die rechtliche Gleichstellung der Juden – innerhalb der in der bürgerlichen Gesellschaft möglichen Grenzen politisch und theoretisch befürwortete. Allerdings strebte Marx gleichzeitig nach der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft, deren Zumutungen und Widersprüche er in die Religion ausgelagert sah. Dieser Kritikpunkt an Marx hält daher nur von dem Standpunkt, dass die bürgerliche Gesellschaft und Religion erhaltenswerte Institutionen seien. Damit wäre aber der Antisemitismus überhaupt keine besondere ideologische Form mehr.. Zusammenfassend warnt Couture vor einer anachronistischen Zuschreibung von Antisemitismus gegenüber Marx, die den zeitlichen und theoretischen Kontext des Marxschen Frühwerks nicht berücksichtigt.

Kritik an Postone’s Antisemitismus und Nationalsozialismus

Moishe Postone prägte mit seiner theoriegeschichtlichen Herleitung des Antisemitismus und seiner Herstellung einer Verbindung zu einem verkürzten Antikapitalismus mit einem nur wenige Seiten umfassenden Text Nationalsozialismus und Antisemitismus eine ganze Generation der Neuen Linken des Westens. Neil Levi hält in seinem Aufsatz Postone jedoch eine begriffliche Unschärfe vor, die eine fruchtbarere Auseinandersetzung mit dem modernen Antisemitismus verhindert hätte.

Postone unterschied in seiner Schrift den Antisemitismus qualitativ vom Rassismus, dass die Jüd*innen gerade nicht als rückständig angesehen würden, sondern als Ausdruck eines abstrakten Universalismus, welcher die notwendige Partikularität eines Volkes untergraben würde. Mit den Attributen der Mobilität und des Egoismus verkörperten sie die negativen Seiten des modernen Kapitalismus, weshalb verkürzte Kapitalismus-Kritik in die Gestalt des Juden ausgelagert werden könne und der schaffenden, konkreten Seite des Kapitals gegenübergestellt werden könne. Daraus resultiere ein Fetischismus, der die Macht des Kapitals in die vermeintliche Macht der Jüd*innen hineinprojiziere. Da Antisemitismus sich damit wesenhaft vom Rassismus unterscheide, könnte erstens erklärt werden, warum der Genozid an den Jüd*innen als industrielle Vernichtung singulär gewesen sei und warum die Linke anfälliger für eine antisemitische Israelkritik sei als beispielsweise die bürgerliche Mitte.

Levi glaubt nun, dass Postone die historische Kontinuität des Antisemitismus unterschätzen würde. Während Postone sich auf einen dezidiert modernen Antisemitismus berufe, sei schon im christlichen Antijudaismus den Jüd*innen die Macht zugeschrieben wurden, den Gottessohn getötet zu haben. Das habe zur Folge, dass Postone den dialektischen Zusammenhang zwischen Rassismus und Antisemitismus unterschätze. Schließlich hätten die Nazis nicht weniger versucht, Jüd*innen nach phänotypischen Kriterien zu unterscheiden, wie andere „volkszersetzende“ Elemente. Weiterhin seien rassistische Fantasien teilweise nicht weniger von Abstraktion und Übermachtsahtasien geprägt, man denke nur an die Furcht vor der „gelben Gefahr“ aus Asien.

Die substanziellste Kritik übt Levi jedoch an Postones Fetischismus-Konzept. Bei Postone werde der Begriff als eine Art falscher Vorstellung von der Welt verwendet, die rein gedanklich die abstrakte Seite des Kapitals von der konkreten trenne. Bei Marx hingegen werde der Begriff in einer dialektischen Art und Weise benutzt. Dass die sozialen Beziehungen über Waren und damit Objekte ausgedrückt werden, ist bei Marx nicht nur ein falscher Gedanke, sondern gerade der „reale Schein“, hinter dem sich die Klassenherrschaft artikuliert. Marx kritisiert die Vorstellung, dass eine Herrschaft objektiv notwendig sei, nur weil sie über Objekte vermittelt werde und nicht mehr durch rein subjekte Beziehungen, also gerade die Loslösung von der Erscheinung und ihrer materiellen sozialen Basis. Postone hingegen kann der materiellen Basis kein Analogon beifügen. Postone trennt Wesen und Erscheinung komplett, womit aber auch die strukturelle Erklärungsmacht des Fetischbegriffs bei Marx verloren geht.

Einen dritten Einwand erhebt Levi beim Analogieschluss zwischen Nationalsozialismus und Neo-Anti-Imperialismus, der verkürzte Kapitalismus-Kritik mit Antisemitismus kurzschließt. Nach Postone wäre die Identifikation der negativen Seiten des Kapitalismus mit dem Handeln der USA, westlich-imperialistischer Mächte und Israels gleich zu werten wie die Auslagerung der abstrakten Wertkritik an die Jüd*innen. Levi erkennt jedoch einen erheblichen Unterschied. Während die Antisemiten den Jüd*innen eine unsichtbare, versteckte und verschworene Macht zuschreiben, die sich empirisch nie belegen lässt, üben die imperialistischen Staaten Gewalt ganz offen aus. Würde man Postone konsequent weiterdenken, würde sich jede Kritik der Macht, die nicht auf die vollständige Totalität zielt, in der der Beherrschte nicht weniger das Problem ist als der Herrscher, des Antisemitismus verdächtig machen; und zwar unabhängig von den wissenschaftlich feststellbaren Fakten. Aber auch umgekehrt wäre dies der Fall. Es wäre konsequenterweise nicht redlich, den militanten Widerstand gegen den Imperialismus außerhalb des Gesamtzusammenhangs zu verurteilen, egal welche konkrete Form er annimmt. Doch genau diese Konsequenz zieht Postone nicht. Damit entsteht eine Asymmetrie, die zwar Kritik an den USA oder Israel unter beständigen potentiellen Antisemitismus-Verdacht stellt, beim Gegner jedoch nicht die gleichen Maßstäbe anlegt. Von hier ist es dann nicht mehr weit zur einer reinen Affirmationsideologie bestehender Herrschaft, die menschliche Emanzipation klinisch und abstrakt denkt, aber praktisch verunmöglicht. Dass Postone selbst diese Konsequenzen nie gezogen hat, belegt Levi auch an neueren Texten Postones, in denen er berechtigte Forderungen der Palästinenser*innen anerkennt, die Bush-Regierung als imperialistisch qualifiziert und durchaus nach ganz konkreter Heerrschaft schaut. Jedoch haben viele seiner Leser*innen nicht mehr entsprechende Differenzierungen vorgenommen.

Zum Abschluss, so Levi, sei der Punkt Postones gewesen, zu erklären, wie der Antisemitismus gleichzeitig antikapitalistisch und antikommunistisch habe gewendet werden können, indem er die gemeinsame Schnittstelle – die Moderne – problematisierte. Levi wendet nun ein, dass im modernen israelbezogenen Antisemitismus jede antikommunistischen Komponente fehle. Fast gegenteilig werden Kommunist*innen ja gerade zum Adressaten des Antisemitismus-Vorwurfs. Und schon historisch wäre Postones Argumentation nicht stimmig. Denn der sowjetische Bolschewismus wurde in der NS-Propaganda gerade mit minderwertigem Asiatentum in Verbindung gebracht. Im Gegenzug sei die Agitation gegen das Kapital und die Finanzeliten empirisch weniger zentral in der NSDAP-Programmatik gewesen, als es die Erinnerungskultur vermuten lassen würde. Ausgerechnet die „antikapitalistischen“ Nationalsozialisten seien gerade nicht die exterminatorischen Antisemiten gewesen. Die Hitlerfaschisten hätten in der Rückschau weniger den abstrakten Tauschwert mit dem Judentum assoziiert, sondern mehr das aus dem Klassenkampf resultierende Chaos als Gefahr der politischen Integrität des Staates betrachtet. Der Klassenkampf ist jedoch wiederum Einheit der Tausch- und Gebrauchswertseite sowohl materieller Waren als auch der Ware Arbeitskraft. Daher meint Levi, dass es plausibler sei, die aus dem Antijudaismus stammende Verbindung von Judentum und Unruhestiftung – die alleine deshalb aberwitzig ist, weil Jüd*innen zumeist Opfer der Unruhen wurden und nicht die Anstifter waren – als Ursache der Identifikation von Kommunismus und Judentum zu betrachten.

Sinn und Unsinn der Antideutschen

Der Anti-Semitismus-Vorwurf gegenüber der Linken geht ist in Deutschland eng mit der Herausbildung der antideutschen Bewegung verknüpft. Bei dieser Gruppierung handelt es sich um ein endemisch deutsches Phänomen, um das die hiesige Debatte bereits so verhärtet scheint, dass aus kaum noch sinnvolle Erkenntnisse zu erwarten sind. Leandros Fisher stellte dieses Phänomen nun einem internationalen Publikum vor, wodurch der Blickpunkt auf den innerlinken deutschen Konflikt nochmal neu justiert wird. Sein Zugang ist dabei in erster Linie ein historischer.

Die Geschichte beginnt bei der Ausgangslage, dass die Weimarer Arbeiter*innenparteien SPD, KPD, KPO oder SAP allesamt die Bedeutung des eliminatorischen Antisemitismus für den Nationalsozialismus unterschätzten. Das Trauma der verpassten Arbeitereinheitsfront gegen den Faschismus konnte nach 1945 aber nicht adäquat aufgearbeitet werden, da die Zerschlagung der Arbeiter*innenbewegung durch den Hitlerfaschismus und der Kalte Krieg dies nicht zuließ. Insbesondere die KPD als Zentrum der radikalen und marxistischen Linken verschwand in beiden Teilen Deutschlands, einmal durch Aufgehen in der SED, einmal durch Verbot. Die Neue Linke nach 1968 konnte dieses Trauma nach den politischen Brüchen wesentlich distanzierter betrachten, ohne Verantwortung für die Geschichte übernehmen zu müssen, anders als dies in den kommunistischen Parteien fast aller anderen Länder der Fall war. Bis zur Wiedervereinigung unterschied sich die Haltung der politischen Linken gegenüber Israel jedoch nicht wesentlich von denen anderer europäischer Länder. Bis zum Sechs-Tage-Krieg genoss Israel viel Sympathie für den auf einen vermeintlich auf Kibbuzim-Bewegung fußenden Arbeiter*innen-Zionismus. Danach wurde in Folge der völkerrechtswidrigen Besatzungen dem siedlerkolonialistischen Aspekt der Staatsgründung mehr Beachtung geschenkt und die Palästina-Solidarität flammte auf. Erst in den 80er Jahren reihten sich die Ereignisse aneinander, die später die Antideutschen formten: die Holocaust-Serie im deutschen Fernsehen, die Verdrängung marxistisch-leninistischer Gruppen in Palästina durch religiöse im Zuge des abnehmenden Einflusses der Sowjetunion und Chinas und die Angst vor einer Refaschisierung Deutschlands im Zuge der Wiedervereinigung. Texte der Frankfurter Schule oder der bereits besprochene Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ von Moishe Postone gewannen an Einfluss. Israel wurde zunehmend mit einem zivilisatorischen Fortschrittsgedanken verbunden, den man gegen reaktionäre religiöse und politische Bestrebungen verteidigen müsse. Die USA als imperialistische Hauptmacht wurde moralisch restituiert, insbesondere weil die Intervention im ersten Irakkrieg als vollkommen gerechtfertigt erschien. Antikolonialen und antiimperialistischen Gruppen wurde zunehmend eine personifizierende und verkürzende Kapitalismuskritik vorgeworfen, da sie sich stets auf einzelne Akteure bezog nicht und nicht die gesellschaftliche Totalität.

Dennoch begann die antideutsche Bewegung mit einer Niederlage. Nicht nur konnte die deutsche Vereinigung nicht verhindert werden. Der vorhergesagte Faschismus blieb aus. Einer rot-grünen Regierung sollte die Ehre zuteil werden, den ersten deutschen Angriffskrieg nach 1945 zu führen. Die Pogrome von Rostock und Hoyerswerda konnten auf den unterdrückten Rassismus in der DDR geschoben werden. Das war alles nicht so ganz vorhergesehen. Ebenfalls eine Niederlage, wenn auch eine eher praktischer Natur, erlitt im gleichen Zeitraum die autonome Szene. Der unangefochtene Neoliberalismus dachte nicht mehr daran, besetzte Häuser zu tolerieren und fast flächendeckend wurden die Besetzer*innen brutal geräumt. Als Ersatzräume wurden staatlich subventionierte Jugendzentren eingerichtet, die jedoch nach und nach auch das Bekenntnis zum deutschen Staatsprogramm abverlangten. Die antideutsche Bewegung konnte hier das theoretische Fundament dafür bereitstellen, die Niederlage der Autonomen ideologisch sinnstiftend einzuordnen, indem die bundesdeutsche Zivilisation der muslimischen und antiimperialistischen – meist autoritär bezeichnet – Unkultur gegenüber gestellt wurde. Ein Beleg für die Plausibilität dieser These ist, dass die weiterhin besetzten Projekte noch sehr lange an der Palästinasolidarität festhielten.

Die Verbindung von Autonomen und Antideutschen feierten im neuen Jahrtausend dann auch nach und nach Erfolge. 9/11 oder die religiös motivierte zweite Intifada legten den Schluss nahe, dass im Kampf gegen den Westen nichts Emanzipatorisches mehr enthalten sei. Der Antifaschismus wurde zunehmend mit durch staatsnahe NGOs getragen und mit der Linkspartei wurde eine Institution geschaffen, in der die Antideutschen zwar nicht Federführung übernehmen, aber immer ihr ceterum censeo einlegen konnten. Die Linkspartei konnte in der Folge keinen eigenständigen Antiimperialismus aufbauen, da sie nach der Kompromisslosung agierte: Wenn es keinen Imperialismus mehr gibt, sind alle Nationalismen gleich schlecht, der israelische wie der palästinensische. Den deutschen Sonderweg begründet Fisher zusammenfassend damit, dass durch die hitlerfaschistische Verwüstung und den Kalten Krieg die radikale Linke so stark von der Arbeiter*innenbewegung getrennt gewesen sei, dass diese vorrangig durch idealistische Einflüsse auf kleinbürgerliche Bildungseliten geprägt worden sei. Dies erkläre, warum viele Antideutsche der ersten Stunde als Maoist*innen begonnen hätten. Mittlerweile seien die Antideutschen so weit im Mainstream angekommen, dass eine derart sektiererische Selbstbezeichnung nicht mehr benötigt werde. Der Schaden, den die Bewegung allerdings an einer Linken im Zeitalter der Migrationsgesellschaft angerichtet habe, bleibe bestehen.

Zusammenfassung

Die Arbeitsthese, dass sich Antisemitismus auch bei Marx oder im Marxismus finden lasse, muss sicherlich beständig überprüft werden. Die in der Historical Materialism versammelten Aufsätze zeigen jedoch, dass diese These eher schlecht als recht hält. Man müsste den Antisemitismus-Begriff schon sehr weit ausdehnen, um damit eine Theorie subsummieren zu können, die es in erster Linie auf Klassenantagonismen abgesehen hat. Wenn Antisemitismus bereits dann zu finden sei, wenn der Wahrheitsanspruch der jüdischen Religion im Sinne einer laizistisch-materialistischen Weltauffassung geleugnet oder Kritik am israelischen Siederkolonialismus und herrschaftsverschleiernden Ideologemen geäußert würde, dann könnte man vielleicht einen Punkt machen. Anderweitig hingegen hat die kommunistische Bewegung in Deutschland vielleicht historisch die Gefahren des Antisemitismus unterschätzt. Darüber hinaus war sie aber eine der kontinuierlichsten Verbündeten jüdischer Arbeiter*innen beim Schutz vor nationalistischen Anfeindungen.

Literatur:

alle Aufsätze entstammen der:

Historical Materialism (2023). Sonderausgabe 32. Ausgabe 1 & 2. [online] https://www.historicalmaterialism.org/special-issue/issue-32-12-marxism-and-critique-antisemitism [25.01.2024].

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