Mit der empirischen Erforschung des tendenziellen Falls der Profitrate ist seit 30 Jahren der Name Anwar Shaikh untrennbar verbunden. Shaikh, der die klassische, keynesianische und marxistische Theorie erforschte und analytisch nutzte, prägt bis heute die Auseinandersetzungen um Input-Output-Analysen, das Transformationsproblem und makroökonomische Modellierungen. Eine Vorstellung von Person und Werk.
Biographie und Politisierung
Anwar Shaikh wurde am 22. Oktober 1945 in Karatchi (heutiges Pakistan) als Sohn einer christlichen Mutter und eines muslimischen Vaters geboren. In jungen Jahren reiste er viel und lebte unter anderem in Ankara, Kuwait und New York, wo er 1961 seinen High-School-Abschluss machte. Er studierte an den Eliten-Universitäten von Princeton und Columbia. 1972 trat er dem Forschungszentrum New School of Social Research bei und machte 1973 seinen Doktor in Wirtschaftswissenschaften. In der Folge unterrichtete er Mathematik, Physik und Sozialwissenschaften in Kuwait, nachdem seine dortigen Versuche als Ingenieur an chronischer Wüstenblindheit scheiterten. Die Sozialwissenschaften musste er sich dabei autodidaktisch aneignen und teilweise gemeinsam mit seinen Schülern. Als Hilfestellung suchte er nach Mustern in sozialen Verhältnissen, die sich Analog zu den Naturwissenschaften verhielten; ein Thema, das seine spätere Arbeit stark prägen sollte. Darauf folgend erhielt er einen Lehrauftrag an der Universität von Columbia. In New York pendelte er zwischen diesem nicht finanziell absichernden Engagement und einem Lehrerjob in den Ghettos von Harlem, wodurch er viele Facetten der amerikanischen und insbesondere der migrantisierten Bevölkerung kennenlernte. Zwischen Mitte der 70er bis in die 80er Jahre widmete er sich der Erforschung und Kritik der Produktionsfunktionen (Näheres hier). Sein initiales Werk Laws of Production and Laws of Algebra: The Humbug Production Function’ von 1974 diente dabei als Diskussionsauftakt, wobei er Kritik in Formen von nachträglichen Aufsätzen produktiv aufnahm. Später gab er das Cambridge Journal of Economics mit heraus und nahm an mehreren Projekten zur Modellierung von Volkswirtschaften teil. 2014 erhielt er den internationalen NordSud-Preis für Literatur und Wissenschaften von der Fondazione Pescarabruzzo. Seine drei Hauptwerke sind Capitalism: Competition, Conflict, Crises, Globalization and the Myths of Free Trade und Measuring the Wealth of Nations: The Political Economy of National Accounts.
Nach eigenen Angaben wurde Shaikhs Jugend durch Multikulturalismus geprägt. Seine Mutter war eine begnadete Fremdsprachenlehrerin und schickte ihn bereits mit sechs Jahren auf die Französische Schule in Ankara, ohne dass Shaikh französisch oder türkisch sprach. Auf diese Prägung fiel seine Rezeption der Reden Martin Luther Kings und Malcolm X’, denen er jeweils persönlich beiwohnen konnte. Als migrantisierter Student bewegte er sich im Umfeld der Black Panther und nahm 1968 an der Besetzung der Columbia-Universität teil. Er solidarisierte sich mit einem Streik gegen eine neue Universitätsturnhalle auf dem Gelände eines vorrangig durch die schwarze Community genutzten Parks. Shaikh lud gegen starke Widerstände der Universitätsleitung die heterodoxe Ökonomin Joan Robinson an seine Fakultät ein, die in einer von Mao geschenkten Jacke Anekdoten über Fidel Castro erzählte. Wegen seiner Begeisterung für Robinson wurde er jedoch auch aus der Union Radikaler Politischer Ökonomen geworfen, die Robinson bürgerliche Abweichungen vom Marxismus vorwarfen.
Marx lernte Shaikh über den linksintellektuellen Columbia-Professor Robert Heilbroner kennen, der für seine vergleichende Geschichtserzählung des ökonomischen Denkens bekannt wurde. Als er sich nach dem Studium der Produktionsfunktionen immer mehr prinzipiellen makroökonomischen Fragen zuwandte, suchte er jedoch eher einen Fixpunkt bei Keynes als bei Marx. Im Gegensatz zu einer Vielzahl Werke marxistischer Ökonomen hat Shaikh Marx selbst dabei wenig gelesen. Darüber hinaus versuchte er auch die Theorie der Reflexivität des von Verschwörungsmythen umgeisterten ungarisch-amerikanischen Investors George Soros in ein allgemeineres ökonomisches Konzept einzuarbeiten, aus dem zum Beispiel auch die Angleichung der Porfitraten erklärt werden könnten.
Shaikh ist heute nicht nur als heterodoxer Ökonom vom Mainstream im Wesentlichen anerkannt. Seine empirischen Untersuchungen und damit auch die zugrunde liegenden theoretischen Modelle hielten als lange Zeit eine der wenigen Quellen für Daten zu Profitraten Einzug in die marxistischen Debatten.
Empirie der Profitraten
Widmen wir uns jetzt seinen drei wichtigsten Werken und beginnen im Jahr 1994. Die Neuordnung der Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war mehr oder weniger zugunsten einer unipolaren Dominanz der USA und damit des neoliberalen kapitalistischen Systems abgeschlossen. Niemand interessierte sich mehr für Karl Marx und an den Universitäten ließen sich mit marxistischer Theorie weder Karrieren aufbauen und Fördermittel stiften. Und genau in diese Zeit trat Anwar Shaikh mit einem Buch an die Öffentlichkeit, dass den nationalen Reichtum anders als die neoklassische Ökonomie messen wollte und zwar mit marxistischen Kategorien:
Measuring the Wealth of Nations: The Political Economy of National Accounts. Shaikh zeigte empirisch, dass die Profitrate sehr stabil seit dem Zweiten Weltkrieg gefallen war, mit einer historischen Sondersituation des Anstiegs in den 80er Jahren. Daneben zeigten die Daten auch, dass die organische Zusammensetzung kontinuierlich stieg; da Hauptargument von Marx für den tendenziellen Fall der Profitrate.
Das hauptsächliche Problem, dem sich Shaikh stellen musste, war die Umrechnung der aggregierten Input-Output-Daten der NIPA (National Income and Product Account) in die auf der Marxschen Werttheorie beruhenden Kapitalbestandteile. Shaikh löste das Problem mit einem für die Input-Output-Analyse gebräuchlichen doppelten Wertsystem (Näheres hier), wobei Mehrwert, konstantes und variables Kapital in einem System der Arbeitswerte existierten, während Löhne, Produktionskosten und Profite der klassischen Sphäre angehörten (vgl. Shaikh 1996, S.38). Allerdings war dies für Shaikh nur ein Problem der Notation. Er führte keine Verfahren zur Berechnung der abstrakten Arbeit ein, sondern setzte etwa Löhne und variables Kapital einfach mit einem Geldbetrag gleich. Er begründet dies mit den praktischen Argumenten, dass eine systematische Unter- oder Überschätzung des Geldwerts negative Auswirkungen auf aus den Daten folgenden politischen Interventionen im internationalen Handel hätten und bereits bürgerliche Ökonomen und Kapitalisten an „richtigen“ Schätzungen interessiert seien. Fehlerschläuche entnimmt er den Werken anderer Marxisten wie Richard Wolff. Demnach glich auch der von einer Gesellschaft geschaffene Gesamtwert dem Gross Output, der sich den offiziellen Daten entnehmen ließ. Was den eigentlich Unterschied zu einer bürgerlichen Berechnung darstellte, war die Zuordnung der einzelnen Sektoren zu produktiven und nicht-produktiven Sektoren. Anstatt, wie etwa beim Bruttoinlandsprodukt sämtliche wirtschaftliche Tätigkeit in das Produkt einzubeziehen, betrachtete Shaikh nur die produktiven Sektoren als wertbildend und die anderen als Vehikel der Distribution. Shaikh sah seine empirische Zusammenstellung dabei als Baustelle an, die zum einen zwar Mängel in den Ansätzen von Okishio, Wolff oder Khanjian behob, aber dennoch so holzschnittartig war, dass zahlreiche Klarstellungen, Differenzierungen und Verbesserungen in der Zukunft noch erfolgen müssten. Vielen dieser Fragen widmete sich Shaikh in der Folge in Aufsatzform.
Das Opus Magnum
Sein wissenschaftliches Erbe hinterließ Shaikh mit dem 2016 erschienen Capitalism: Competition, Conflict, Crises. Ziel Shaiks war es hier, Studierenden und der interessierten Öffentlichkeit die Probleme der liberalen Theorie perfekter Märkte vor Augen zu führen und den Aufbau von Theorien auf der Grundlage der klassischen Tradition von Ricardo, Smith, Keynes und Marx anzustreben. Den perfekten Märkten setzt er reale Märkte entgegen, die zwar auch auf der Rationalität der Akteure beruhen, deren Rationalität aber durch Klasseninteressen geprägt und damit widersprüchlich ist, was zu unvollkommener Konkurrenz, strukturellen Ungleichheiten und ständiger Unsicherheit führt. Shaikh fokussiert sich dabei auf die resultierenden Probleme, die theoretischen Lösungsversuche und Wege der empirische Ansätze zur Erfassung der Ökonomie. Er endet bei Piketty als zeitgenössischem Chronisten der Ungleichheit des globalisierten Kapitalismus. Wie ein roter Faden zieht sich durch, dass konkrete Probleme konkrete Lösungsstrategien verlangen und nicht der große Wurf erwartet werden könne. Die Handschrift seines langjährigen Mentoren Heilbroner, insbesondere die historisch-philohpische und ernste Einordnung verschiedener Theoretiker*innen, macht sich dabei sehr stark bemerkbar.
Zusammenfassung
Wer sich mit der Empirie marxistischer Theorien, insbesondere der Erfassung der Profitrate, auseinandersetzt, wird an der ein oder anderen Stelle nicht an Shaikh vorbeikommen. Man kann sich darüber streiten, ob man Shaikh als Marxisten bezeichnen kann, aber er hat ein fundiertes marxistisch inspiriertes Werk vorgelegt, als selbst überzeugte Sozialisten an den Lehrstühlen keine heißen Eisen anfassen wollten. Der Charakter seines Werks, die bestehenden Methoden zu verbessern, ohne den Anspruch zu erheben, nicht selbst verbessert zu werden, prägte den diskursiven Umgang mit diesem. In dutzenden kürzeren Studien tat er dies auch selbst. Und so gehört er zweifellos wenigstens zu den prägendsten Gestalten der zeitgenössischen marxistischen Debatte.
Literatur:
Shaikh, A. & Tonak, E. (1996): Measuring the Wealth of Nations. The Political Economy of National Accounts. Camridge: Cambridge University Press.
Schaikh, A. (2016): Capitalism. Competition, conflict, crises. New York: Oxford University Press.