Zufälle gibt´s – die Profitrate in Südkorea

⋄ Der Zusammenhang zwischen Profitabilität, Materialeinsatz und Arbeitsansatz wird in der bürgerlichen Ökonomie durch so genannte Produktionsfunktionen ausgedrückt.

⋄ Diese haben den Nachteil, dass sie nur schwer Voraussagen zulassen, da wichtige Parameter erst während der Produktion ermittelt werden können und auf vielen zusätzlichen Annahmen bestehen.

⋄ Deokmin Kim aus Südkorea hat nun versucht, diese durch eine Simulation Marxschem Wertgesetz, Profitkalkül und wahrscheinlichkeitstheoretischer Betrachtung zu ersetzen.

⋄ Die von ihm gefundene Simulation beschreibt die südkoreanische Ökonomie seit 1975 fast exakt.

⋄ Die Simulation prognostiziert, dass Südkorea noch schneller als die USA an einem Arbeitskraftüberschuss im produzierenden Bereich und damit schlechten Bedingungen für das Proletariat leiden wird.
Proteste in Südkorea gegen das undemokratische System am 1. Juni 1987

Glaubt man den Liberalen, müsste jede Gesellschaft ohne die Genialität ihrer Kapitalist*innen augenblicklich zu Grunde gehen. Sie seien es, die visionäre Ziele verfolgten, den Motor des Fortschritts bildeten und ohne die keiner der dummen und faulen Arbeiter*innen morgens vom Sofa runter käme. Es sei daher nur gerecht, dass sie von den erwirtschafteten Reichtümern ihren kleinen Obolus abzwackten und wenn dieser viele Milliarden betrage, dann sei dies noch immer recht bescheiden.

Allerdings gibt es zwei Größen, welche die Realität der kapitalistischen Wirtschaftsweise besser beschreiben als Genialität. Und das sind Profitstreben und Zufall. Mit diesen beiden Zutaten versuchte der südkoreanische Ökonom Deokmin Kim, ein Modell zu entwickeln, welches die Profitraten in der Republik simulieren könne. Und es sollte sich als äußerst leistungsfähig erweisen. Deokmin Kim lehrt an der Gyeongsang National University in Südkorea und verfasste bereits einige Aufsätze zu Problemen der Marxschen Wirtschaftstheorie. Über Zufall und Ausbeutung.

Produktionsfunktionen

Das eigentliche Ziel von Kims Studie war es, eine Simulation zu entwickeln, welche die bürgerlichen Produktionsfunktionen ersetzt. Diese sind definiert als “Zusammenhang zwischen der Menge der in der Produktion eingesetzten Produktionsfaktoren und dem Produktionsertrag”. Kurz gesagt, gibt sie an, wieviele Arbeiter*innen und Technik ich brauche, um am effektivsten eine Menge an Waren zu produzieren. Um in marxistischen Begriffen zu sprechen, gibt die Produktionsfunktion an, wie Mehrwertrate – wieviel Mehrwert schafft ein*e Arbeiter*in im Verhältnis zur Lohnhöhe – und technische Zusammenetzung – wieviele Produktionsmittel pro Arbeiter*in werden benötigt – zusammenhängen.

Als einfachste Form der Produktionsfunktion gilt das landwirtschaftliche Ertragsgesetz. Dieses beschreibt, dass bei einer festgelegten Größte des Bodens und bei konstantem technischen Niveau, zuerst die Produktivität durch mehr Landarbeiter*innen steigt, da zum Beispiel Arbeit aufgeteilt werden kann. Jedoch wird irgendwann eine Grenze erreicht, ab der mehr Arbeiter*innen die Produktivität wieder senken, da einige nichts zu tun haben, sich Arbeitsabläufe stören, etc. Diese Überlegungen wurden in der Zeit der klassischen bürgerlichen Ökonomie immer weiter verfeinert und chronologisch mit Buchstaben durchnummeriert. Die neuesten Modelle versuchen zum Beispiel auch, Kosten zu berücksichtigen, die aus dem Verschleiß der natürlichen Ressourcen oder den Problemen der Reproduktion der Ware Arbeitskraft auf höherem Niveau entstehen.

Alle Produktionsfunktionen teilen zwei Probleme. Auf der einen Seite sind sie empirisch kaum anwendbar, da bestimmte Konstanten und Koeffizienten gebraucht werden, die sich aber erst in der Produktion selbst bestimmen lassen. Und zweitens sind die Grundannahmen jeder Funktion selbst nicht herleitbar, sondern werden nur plausibel gemacht. Die Vielfalt der Funktionen zeigt bereits, dass eine gewisse Willkür diesen Annahmen zu Grunde liegt.

ein stochastisches Modell

Diesem Problem wollte Deokmin Kim nun damit begegnen, dass er zur Bestimmung der Beziehung zwischen Mehrwertrate und technischer Zusammensetzung auf das Marxsche Wertgesetz zurückgriff. Stellt man dieses nach der Profitrate p um, erhält man die Gleichung

e steht hierbei für die Mehrwertrate, z für die technische Zusammensetzung. Kennt man also die Profitrate, so kann man für jede Mehrwertrate eine technische Zusammensetzung bestimmen und umgekehrt. Aber woher nimmt man p?

Dazu führt Kim folgende Überlegung ein. Eine Produktionsmethode wird nur dann verändert, wenn sie eine höhere Profitrate verspricht, als die vorangegangene. Also entnimmt man die Profitrate der vorangegangenen Produktionsperiode und wählt eine höhere für die neue Produktionsperiode. Aber wieviel höher? Hierzu nutzt Kim ein stochastisches Modell, in dem die neuen Profitraten in einem gewissen Erwartungsschlauch über der alten liegen durften.

Der Knackpunkt der Marxschen Profitratentheorie ist natürlich, dass eine neue Produktionsweise, wenn sie sich einmal verallgemeinert hat, die notwendige Arbeitszeit zur Herstellung einer Ware senkt, damit ihren Wert und damit die Profitrate. Eine verstärkte Ausbeutung der Ware Arbeitskraft könne dieser Tendenz nach Marx nur teilweise entgegenwirken.

Zur Modellierung dieser theoretischen Überlegungen verwendete Kim das Programm Vinsem, indem sich graphische Modelle iterativ-numerisch auswerten lassen. Kims Modell sah folgendermaßen aus:

Deokmin Kim (2022): siehe Literaturverzeichnis. S.5.

Die Begrifflichkeiten variieren etwas von den Marxschen, aber wir sehen, dass eine Varianz der Mehrwertrate (labor productivity) und der technischen Zusammensetzung (capital productivity/wage rate) erlaubt ist. Mit jedem neuen Berechnungsschritt ergibt sich eine neue Profitrate und Ziel jeder Veränderung ist es, diese zu übertreffen. Als Startwerte wählte Kim die ökonomischen Daten aus Südkorea, ließ diese weiter simulieren und verglich sie mit den empirisch gemessenenen Werten.

empirische Prüfung in Südkorea

Um das Modell mit der Empirie zu vergleichen, untersuchte Kim nur den produktiven Sektor, da er so weitreichendere Probleme, die sich aus der Grundrententheorie und unproduktiven Arbeit ergeben, vernachlässigen konnte. Seine Rohdaten wurden in Preisen gemessen, was einer monetären Wertbetrachtung entspricht. Dies ist allerdings gemittelt über eine ganze Ökonomie nicht mehr problematisch ist, da sich eventuelle über die Durchschnittsprofitrate vermittelte Preisbewegungen ausgleichen. Da die Lohnanteile ein Produkt von Klassenkämpfen sind und sich nicht allein aus den Kapitalbewegungen herleiten lassen, wurden diese Daten exogen vorgegeben.

Als kleines Beispiel für die Voraussagekraft des Modells seien hier die simulierte und die empirische Profitrate übereinandergelegt.

Deokmin Kim (2022): siehe Literaturverzeichnis. S.11.

Wir sehen nicht nur, dass die Profitrate in Südkorea seit 1975 konstant gefallen ist, sondern auch das Simulation und Empirie sich sehr stark annähern. Der Versuch, Produktionsfunktionen mit willkürlichen Annahmen durch eine auf Marx und Stochastik basierende Theorie zu ersetzen, verzeichnet Erfolge. Die Voraussagen für Arbeits- und Kapitalproduktivität waren sogar noch genauer.

Kim hat sich durch verschiedene statistische Tests das Verhältnis von Profitrate, Mehrwertrate und technischer Zusammensetzung im zeitlichen Verlauf noch genauer angesehen und konnte aufzeigen, dass die Werte drei klar voneinander abgrenzbare Produktionsmodi erkennen ließen. Eine zwischen 1975 und 1997, einen zwischen 1997 und 2002 und einen seit 2002.

Der erste Modus beruhte auf der rücksichtslosen Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Militärdiktatur bzw. autoritären und undemokratischen Regimen. Das Land lockte mit niedrigen Löhnen und Steuern Investoren an, während nur eine zahnlose Einheitsgewerkschaft erlaubt war. Nach dem Sturz der Militärdiktatur mussten Gewerkschaften und Arbeiter*innenbewegung schrittweise wieder aufgebaut werden. Als sich diese jedoch etabliert hatten, verhalfen große Streikwellen Ende der 80er und Anfang 90er Jahre zu einer Erhöhung der Löhne und stellten das alte Produktionsregime in Frage. Das internationale Kapital zog seine Anteile zurück, da die geringen Eigenkapitalanteile bei hoher Verschuldung der verarbeitetenden Industrie Südkoreas und vor dem Hintergrund der Asienkriese 1997/98 als potentielles Risiko angesehen wurden. Die Wirtschaft strukturierte sich neu. Die großen Konzerne verkauften unrentable Sparten und konzentrierten sich auf ihre Kerngeschäfte. In dieser Zeit des Umbruchs war die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Nach der erfolgten Umstrukturierung konnte Südkorea mit der Fokussierung auf High-End-Produktion anstatt billiger Massenfertigung sich so erfolgreich neu aufstellen, dass sie auch die Wirtschaftskrise 2008/09 weitestgehend unbeschadet überstand.

Diese Geschichte des ökonomischen Umbruchs im Süden der koreanischen Halbinsel zeichnete die Simulation nach. Es kann immer als stützend für ein Modell angesehen werden, wenn sich solche deskrptiven Zusammenhänge auch in den Daten widerspiegeln.

Zusammenfassung

Der Forschungszweig der propabilistischen Interpretation der Marxschen ökonomischen Theorie wird größer und größer. Seit Machover und Farjoun ihre Pionierarbeit zur wahrscheinlichkeitstheoretischen Deutung des Wertgesetzes und der Verbindung von Mikro- und Makroökonomie vorlegten (näheres siehe hier & hier), trägt dieser Zweig immer mehr und immer grünere Blätter. Dumenil und Lewy zeigten bereits 1995, dass stochastische Modelle die empirischen Daten der USA gut beschreiben können und Deokmin Kim, dass dies auch für Südkorea möglich ist. Sein Modell benötigt im Gegensatz zu den bürgerlichen Produktionsfunktionen keine zusätzlichen Annahmen, die sich mehr auf gefühlte Plausibilität statt wissenschaftlicher Begründung stützen.

Nun ist es schön und gut, die bisherigen Daten replizieren zu können, aber erlaubt die Simulation auch Voraussagen? Der Anstieg der technischen Zusammensetzung und der Anstieg der Mehrwertrate fanden noch deutlicher als in den Vereinigten Staaten statt. Da gleichzeitig die Profitrate jedoch sank und damit die Motivation zu Investitionen in den produzierenden Sektor, ist der Ausblick für das südkoreanische produktive Proletariat düster. Wenn jede*r Arbeiter*innen immer produktiver arbeitet, aber die Produktion nicht mit Investitionen ausgedehnt wird, werden weniger Arbeitskräfte benötigt. Das schwächt die Position der Arbeiter*innenklasse in den anstehenden Klassenkämpfen. Da durch die Systemkonkurrenz zu Südkorea keine kommunistische Partei in der Lage ist, die Widerprüche zwischen den Fraktionen des Proletariats zu koordinieren und den ökonomischen Kampf in einen politischen zu übersetzen, muss mit Reallohnverlusten und steigener Arbeitslosigkeit gerechnet werden.

Literatur:

Deokmin Kim (2022): The Stochastic Model of Technical Change and Profit Rates: Korean Economy (Manufacturing Sector: 1970–2015). In: Review of Radical Political Economics. Online First. DOI: 10.1177/04866134221118954.



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