Die Schule des dialektischen Materialismus

⋄ Lehrpläne sind in ihrer Allgemeingültigkeit, Dauerhaftigkeit und Äußerlichkeit zu den Lernenden erklärungsbedürftig.

⋄ João M. Paraskeva und Dwayne Huebner haben im aktuellen Journal of Curriculum Studies ihre Erfahrungen aus vielen Jahrzehnten Lehrer*innenausbildung in den USA dargestellt.

⋄ Sie kritisieren, dass ein Lehrplan in seiner Faktizität nicht der Zeitlichkeit der realen Gesellschaft entspricht.

⋄ Zudem entfremde die Trennung von Lehrplanmacher*innen, Lehrenden und Lernenden alle Beteiligten.

⋄ Sie schlagen einen dialektischen Materialismus in der Bildung vor, der das Prinzip der Einheit von Lernenden und Lerngegenstand, der Zeitlichkeit und der Widersprüche umsetzt.

„Mittlerweile ist es eher zum Problem geworden, zu erklären, warum sich die Dinge nicht ändern sollten, statt warum sie sich ändern.“ Diesen Satz formulierte Dwayne Huebner bereits vor 55 Jahren mit Blick auf amerikanische Lehrpläne. Zusammen mit João M. Paraskeva kritisiert er seit vielen Jahren das Bildungssystem der Vereinigten Staaten. Dabei geht es den beiden nicht nur um materielle Ausstattung, soziale Segregation, Ungleichheit, bestimmte neokolonialistische Inhalte oder die mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte. Sie gehen tiefer und stellen die Frage nach der philosophischen Grundlage verbindlicher Lehrpläne überhaupt. Welchen Sinn ergibt es, in einer Klassengesellschaft, in der ein weißer Farmersohn aus dem mittleren Westen vor ganz anderen Problemen steht als die schwarze Schülerin aus der Chicagoer South Side, das gleiche zu lernen? Was verraten Lehrpläne über eine Gesellschaft, wenn sie seit 80 Jahren kaum verändert wurden, obwohl die Gesellschaft einen grundlegenden Wandel durchlaufen hat? Die Autoren werben für eine Verankerung des dialektischen Materialismus im Bildungssystem. Sie kritisieren Bildung als Derivat einer einmal errichteten Klassenherrschaft und fordern ein System, welches die permanente Veränderung der Lerngegenstände durch die Lernenden erlaubt.

Kritik des Curriculums

Ihre Ausführungen beginnen Paraskeva und Huebner mit einer fundamentalen Kritik des Curriculums, also der Gesamtheit aller für ein Kind im Laufe seiner Ausbildung angedachten Lehrpläne. Ihr erstes Argument richtet sich gegen den notwendigen Positivismus, der einem Curriculum zu Grunde liegen muss. Positivismus bedeutet hier, dass ein Curriculum alleine deshalb zu begrüßen sei, weil es da ist und man nur daher über die Inhalte streiten müsse. Die Autoren wenden mit der Frankfurter Schule ein, dass mit der Zustimmung zu einer Form bereits die Affirmation eines Inhaltes ein Stück weit eingekauft werde. Man akzeptiere, dass es legitim sei, gegen den Willen des Lernenden einen äußeren Lerngegenstand zu setzen. Man müsse ebenso akzeptieren, dass sich dieser Lerngegenstand als Gesetztes ein Gegenstand außerhalb der Zeitlichkeit ist und damit der zeitlichen Natur der Realität widerspricht. Und man akzeptiert letztlich, dass das Curriculum als Ausdruck einer Gesellschaft, die zutiefst von Klassengegensätzen, sowie sexueller und rassistischer Diskriminierung geprägt ist, diese Grundlagen zwangsläufig reproduziert. Würde ein Curriculum entgegengesetzt diese Grundlagen selbst kritisieren, müsste es sich selbst abschaffen und überwinden.

Der zweite große Kritikpunkt ist die Arbeitsteiligkeit der Curricula. Expert*innen bestimmen, was relevant und nützlich für die Schüler*innen ist. Durch die Trennung des Lehrplans von der einzelnen Lehrer*in wird die Gleichgültigkeit de*r Lehrer*in zum Inhalt der Bildung hergestellt. Sie werden zu Funktionär*innen degradiert und damit nicht mehr unmittelbarer Adressat für Kritik durch die Lernenden, da der Inhalt des Lehrplans ihnen selbst fremd gegenübertritt. Lehrer*innen würden zu Experten für Methodik, aber nicht für den Inhalt. Dies spiegelt wider, dass Lehrer*innen eher pädagogische Arbeiter*innen sind, die durch ihre Arbeit Agent*innen sozialer Disziplinierung und Entfremdung sind, aber dieser auch unterliegen.

Dialektischer Unterricht

Dagegen setzen die Autoren den dialektischen Materialismus. Die Grundlage ist zunächst, dass eine humanistische nicht-entfremdete Bildung Abbild der realen Welt sein müsse. Wenn die reale Welt der permanenten dialektisch-materialistischen Veränderung unterliege, dann müsse sich dies in der Bildung auch widerspiegeln. Es könne nun aber nicht Aufgabe einer dialektischen Pädagogik sein, einfach nur eine neue Methode im kritisierten Katalog der Entfremdung hinzuzufügen. Dialektik problematisiert vielmehr die Trennung von Schüler*in, Lehrer*in und Inhalt, die im gern bemühten didaktischen Dreieck aufgemacht wird, als Ganzes. Es geht auch nicht um simplifizierende Triaden aus Position – Negation – Synthese, die ohne konkreten Inhalt bedeutungslos bleibt. Es geht vielmehr um Grundprinzipien, die dem authentischen Lernprozess wieder mehr Raum einräumen. Das erste Prinzip wäre die Möglichkeit der Veränderung des Lernobjekts durch das Lernsubjekt. Außerhalb der Schule lernen die Menschen dann Neues, wenn sie ein Problem haben, einen ungenügenden Zustand, den sie verändern möchten. „Menschliche Wesen reagieren auf ihre Realität mit Nehmen und Geben, Widerstand oder Nachgeben, mit Kritisieren und Bestrafen oder mit Unterstützen und Verhandeln.“ (S.8, eigene Übersetzung) In der Schule hingegen bleibt der Lerngegenstand nach dem Lernprozess der gleiche wie zuvor, denn das bürgerliche Denken ist statisch und möchte die Verhältnisse konservieren. Daher muss ein Lernprozess am Ende eine ganz praktische Veränderung am Lerngegenstand bewirken, ob im Mikrokosmos einer Lerngruppe oder in der Gesellschaft.

Das zweite Grundprinzip ist das der Zeitlichkeit, welches eine notwendige Folgerung aus dem ersten Grundprinzip ist. Wenn der Lerngegenstand während des Lernprozesses einer Veränderung unterliegen soll, kann er zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr der selbe sein, ohne die Entwicklung wieder zurückzunehmen. Wenn Lernende einmal ein Problem des gesamten Lernprozesses gelöst haben, können nachfolgende Generation auf dieser Lösung aufbauen und von dort aus neue Problemstellungen entwickeln. Der Punkt ist, Lerngegenstände als in der Zeit eingebettet wahrzunehmen, als in der Geschichte Gewordenes und die Zukunft Veränderndes.

Als drittes Grundprinzip müssen Widersprüche als Triebkraft der Bewegung und damit der zeitlichen Dimension expliziert werden, wobei auf die Unterscheidung zwischen einfachen logischen Widersprüchen und realen, materiellen Widersprüchen geachtet werden muss. Das kann ein Widerspruch zwischen der Wirkung des gleichen Textes in unterschiedlichen Sprachen sein (man denke hier an die Sprachgebundenheit von religiösen Schriften, wie dem Koran oder der Thora). Das kann auch der Gegensatz von eurozentristischer gegen die kolonisierte Erfahrungswelt sein.

Paraskevna und Huebner erläutern diese Grundprinzipien an einem konkreten Beispiel. In den USA haben afroamerikanische Schüler*innen ein dreimal höheres Risiko, ins Gefängnis zu wandern als weiße Schüler*innen. Eine dialektische Bildung würde mit den Schüler*innen zunächst die Widersprüche zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Schranken, deren Übertretung einen Gesetzesbruch darstellt, analysieren. Weiterhin würden sie das Recht nicht positivistisch als ewig gültige Norm setzen und mit einer Null-Toleranz-Politik nur Strafe androhen, sondern sie würden das Gesetz in ihrem historischen Verlauf und als gestaltbares Phänomen kennenlernen, dass zur Gleichstellung marginalisierter Gruppen verändert werden kann. Eine solche Gesellschaftsveränderung würde von den potentiell Betroffenen selbst auf Grundlage einer wissenschaftlichen Erörterung der Widersprüche und Ursachen konzipiert und in praktische Realität umgewandelt werden. Sollte sich diese neue Realität als eine Bewältigung des alten Problems erweisen, gäbe es keine Notwendigkeit für nachkommende Generation dieses Thema erneut zu bearbeiten, sondern sie könnten sich neuen Problemen auf höherer Stufenleiter der Zivilisation annehmen.

Idealismus oder Realismus?

So sehr die Autoren eine schlüssige Argumentation für einen dialektischen Materialismus in der Bildung aufzeigen, so sehr fragt man sich, in welchem Kontext diese Argumentation steht. Entweder hält sie das Ideal einer sinnstiftenden, aufklärenden, multiperspektivischen und gattungsgemäßen Bildung als im Kapitalismus unerreichbares Ziel den Leser*innen vor, um diese durch die Realität zu enttäuschen. Forschung und Philosophie quasi als Tribüne des Klassenkampfes zu nutzen, müsste sich immerhin keinen Utopismus-Vorwurf gefallen lassen. Es bliebe jedoch die Frage, inwiefern man jetzt schon den Entwicklungen einer sozialistischen Gesellschaft vorgreifen sollte, die sich ohnehin auf der Basis der später vorgefundenen materiellen Verhältnisse realisiert.

Oder die Autoren sind der Meinung, dass die skizzierte Konzeption bereits in einer kapitalistischen Gesellschaft implementierbar sei. Hier müssten die Autoren natürlich erklären, warum der Staat als geronnene Klassenherrschaft und Stifter der Schule ausgerechnet an einer Aufhebungsbewegung Interesse haben sollte. Die Schule ist ja deshalb so eingerichtet, wie sie es ist, weil das Kapital am Ende an neu proletarisierten Menschen interessiert ist. Dass die Schule heute schüler*innen- und projetorientierter ist als zu Zeiten klassischen Frontalunterrichts liegt nicht an der Umsetzung irgendeines Bildungsideals, sondern daran, dass Proletarier*innen auf dem aktuellen Stand der Produktivkräfte dazu befähigt sein müssen, eigenverantwortlich im Sinne des Profits zu handeln. Und angenommen, die Schule richte sich gegen diesen Zweck. Glücklich werden die jungen Absolvent*innen dadurch nicht, denn ein nettes Bonmot sagt aus, dass nur eines schlimmer ist als ausgebeutet zu werden: nicht ausgebeutet werden zu können.

Paraskeva und Huebner verorten sich irgendwie in der Mitte. Während sie sich den Zwängen des Schulsystems durchaus bewusst sind, sehen sie ihren Entwurf als etwas an, dass Forschende, Planende und Ausführende im Hinterkopf behalten sollten. Sie möchten, dass Lehrer*innen um den alternativen dialektisch-materialistischen Ansatz zumindest wissen und ihre Arbeitsrealität an diesem Gegenkonzept messen können. Sie sollten befähigt sein, vor dem Hintergrund dieser Theorie Schüler*innen in ihren Entfremdungs- und Diskriminierungserfahrungen zu erkennen und dieses Verständnis in das soziale Verhältnis einfließen zu lassen. Und letztendlich ziehen Paraskeva und Huebner gerade aus der Tatsache, dass Schule und Curriculum kein neutraler Ort sind, den Schluss, dass Lehrer*innen, die es ernst mit einer gerechteren Gesellschaft meinen, im dialektischen Materialismus ein Mittel haben, revolutionären Klassenkampf in wenigstens embryonaler Form in die Klassenzimmer zu tragen. Und zwar ohne, Schüler*innen schlichtweg zu indoktrinieren.

Dass solche Konzepte auf in der bürgerlichen Gesellschaft keine völligen Hirngespinste bleiben müssen, zeigen übrigens zahlreiche Projekte zur Elitenförderung. Bei Jugend forscht in Deutschland wird zum Beispiel der Ansatz, dass Jugendliche sich aus eigenem Erkenntnisinteresse forschend und frei mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und Ergebnisse finden, welche diese verändern, gefördert. Allerdings gesponsort von privaten Unternehmen mit dem Ziel, kreative Köpfe frühzeitig mit Firmen in Kontakt zu bringen. Und natürlich begrenzt auf die verwertbaren Gebiete der Wissenschaften: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften. Das dialektisch-materialistische Konzept sieht eine ähnliche Förderung unabhängig von der Exzellenz der Lernenden und Forschenden voraus. Es sollen eben nicht nur die durch Wettbewerb ermittelten besten Schüler*innen sein, welche ihre Umwelt prägen, sondern alle, in ihren Stärken und Schwächen, mit ihren konkreten Problemen und ihren individuellen Potentialen.

Zusammenfassung

João Paraskeva und Dwayne Huebner haben im Journal of Curriculum Studies ein Kondensat von 50 Jahren Forschung und Praxis zu Curricula und Lehrer*innenausbildung vorgelegt. Ihre Idee, Bildung als einen permanenten Prozess in der Zeit zu sehen, bei dem jede Generation ihre eigenen Probleme bearbeitet, mit diesen lernt und wächst, Lösungen findet und auf diesen Probleme auf erweiterter Stufenleiter entwickelt, welche die nächste Generation in Angriff nimmt, wirkt auf den ersten Blick unverdächtig humanistisch. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass genau eine solche Bildung eine Gesellschaft sprengen muss, die auf der verfestigten Ideologie einer herrschenden Klasse aufgebaut ist. Sie entzieht sich der Vereinheitlichung und damit der Vergleichung menschlicher Arbeit in der Warenform. Sie zielt auf die Emanzipation des Menschen als Gattungswesen und nicht als bürgerliches politisches Subjekt. Dass die Autoren kein schlüsselfertiges Konzept eines revolutionären Weges der Implementierung des dialektischen Materialismus in der konkreten Praxis vorlegen können, kann ihnen kaum negativ angerechnet werden. Erstens sträubt sich der Gegenstand selbst gegen solche Versuche. Und zweitens müsste den Autoren etwas gelingen, woran die kommunistische Bewegung in Westeuropa und den USA seit ihrer Gründung verzweifelt. So verbleibt letztendlich wenigstens das Wissen darum, dass es auch in den USA in der praktischen Ausbildung Lehrende gibt, welche noch ein tiefgreifendes Konzept gesellschaftlicher Veränderung denken können.

Literatur:

Paraskeva, J. & Huebner, D. (2023): Dialectical materialism: an alternative way of thinking and doing education alternatively. In: Journal of Curriculum Studies. [Online First] DOI: 10.1080/00220272.2023.2207627.

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