Wie der Westen dem globalen Süden jedes Jahr 11 Billionen Dollar raubt

⋄ Imperialismus geht weder in postkolonialen politischen Symboliken noch in militärischer Dominanz auf, sondern ist dem Wesen nach ökonomisch bestimmt.

⋄ Omar Osman untersuchte in der Frühlingsausgabe der
World Review of Political Economy, welchen Beitrag die Verfügungsmacht über eine Weltwährung liefert.

⋄ Der Besitz einer Weltwährung erlaubt es, die Geldmenge auszuweiten ohne, dass die Inflation in gleichem Maße das Preisniveau hebt.

⋄ Dadurch erhält das imperialistische Land gratis neues Geld, welches jedoch nicht aus dem Nichts entsteht, sondern von den Ländern bezahlt wird, welche die Weltwährung als Devisenreserve besitzen.

⋄ Insgesamt rauben die imperialistischen Länder dem globalen Süden auf diese Weise 11 Billionen Dollar jährlich, die USA alleine fast acht Billionen davon.

Im März 2023 vereinbarten Brasilien und China, ihren Außenhandel zukünftig nicht mehr in Dollar abzuwickeln, sondern in Renminbi Yuan und Real. Auch im Russland-Handel erkennt China den Rubel als Handelswährung an. Gerüchten zufolge arbeitet das BRICS+-Bündnis sogar an einem eigenen Währungssystem. Im Westen wurde dies mit Recht in den Medien als ökonomische Kampfansage verstanden. Aber warum interessiert man sich in der EU oder in den USA überhaupt dafür, in welcher Währung die Länder des globalen Südens untereinander Geschäfte abschließen?

Omar Osman hat in der Frühlingsausgabe der World Review of Political Economy ein Modell der finanziellen Bevorteilung von Ländern mit einer Weltwährung ausgearbeitet. Nach ihm ist der Besitz einer Weltwährung der Hebel zu einem gigantischen Raub am globalen Süden. Die Beute: nicht weniger als 11 Billionen Dollar jährlich.

Imperialismus und Weltwährung

Kapitalismus an sich beruht zwar nicht auf Diebstahl, sondern auf dem Tausch von Äquivalenten; dennoch gibt es Diebstahl, wo es Eigentum gibt und es gibt Methoden des systematischen Diebstahls. Imperialismus bezeichnet diesen systematischen Diebstahl im internationalen Maßstab. Manche Methoden bestehen im offensichtlichen Wegnehmen von Besitz, etwa durch die Annexion eines Ölfeldes. Diese Methoden sind jedoch sehr begrenzt anwendbar, da die Bourgeoisie zu stark von der gegenseitigen Anerkennung der Staaten als Souveräne profitiert, um dies dauerhaft aufs Spiel zu setzen. Daher haben sich unter den imperialistischen Staaten andere spitzfindigere Methoden herausgebildet, um durch Umverteilung des Reichtums aus dem globalen Süden die inneren Widersprüche zumindest zu glätten.

Eine dieser Methoden ist die Verfügung über eine Weltwährung. Eine Weltwährung bildet sich zunächst einmal rein praktisch heraus, indem sich zwei oder mehr Partner im internationalen Handel auf eine Währung als Handelswährung einigen. Der Bezug auf eine solche Währung löste den Bezug auf einen materiellen Träger des Wertes, zum Beispiel Gold ab. Der Besitz von Devisen in einer Weltwährung sichert dem Besitzer den Zugriff auf einen möglichst großen Teil des Weltmarktes, in welchem die Währung als Handelswährung akzeptiert wird. Historisch haben sich die Währungen kolonialistischer Länder, wie Großbritannien oder Japan als Weltwährungen durchgesetzt. Andere, wie der Peso oder der Francs haben im Rahmen der europäischen Integration gemeinsam mit der starken D-Mark im Euro eine neue Gestalt erhalten. Und nicht zuletzt die USA als langjährig fortschrittlichste Ökonomie und Handelswährung der OPEC verfügen mit dem US-Dollar über die am weitesten verbreitete Währung. Doch welche Vorteile ergeben sich überhaupt daraus, dass ein Land selbst über eine Weltwährung verfügt?

Der erste Vorteil liegt auf der Hand. Staaten, deren Währung als Weltwährung akzeptiert wird, können Geld drucken. Die inflationäre Wirkung der Geldmengenausweitung wird durch die internationale Verbreitung abgefedert. Damit einher geht zweitens die Möglichkeit niedriger Zinsraten, um die Wirtschaft anzukurbeln. Drittens muss der Besitzer einer Weltwährung keine Devisen lagern. Diese benötigt man aber, um auf die Währungspolitik anderer Länder reagieren zu können (näheres hier). Durch den Verfall des Wertes einer Weltwährung sinken auch die Schulden des Herkunftslandes, wenn der Gläubiger nicht über ausreichend Devisen verfügt. Insbesondere extraktive Ökonomien investieren einen Großteil ihre Handelüberschüsse in die Devisenrücklage statt in die ökonomische Entwicklung. Viertens genießen die Besitzer einer Weltwährung geopolitische Vorteile. Da der IWF seine Fonds größtenteils mit US-Dollar speist, werden unterstützte Regierung von diesem gezwungen, eine US-freundliche Handelspolitik zu akzeptieren, was häufig mit der Zerstörung der einheimischen Märkte und einem Abbau der Sozialsysteme einhergeht. Und zu guter Letzt wirkt der Dollar als Sanktionsmittel gegen unliebsame Konkurrenten, die ohne Dollar nicht mehr an bestimmte Produktionsmittel kommen.

Mit einer Weltwährung gehen jedoch auch Nachteile einher. Zum Beispiel entfällt die Möglichkeit, durch Abwertung der eigenen Währung auf Kosten der Konsumfähigkeit des Proletariats die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Die dahinter stehende Ökonomie muss also so robust und produktiv sein, dass sie dieses Mittels nicht bedarf. Da die Möglichkeiten der eigenen Währungspolitik durch außenpolitische Erwägungen begrenzt wird, verweben sich Finanz- und Außenpolitik miteinander. Die Wirtschaftspolitik anderer Staaten wird für das imperialistische Land genauso wichtig wie die eigene und es muss Mittel und Wege finden, diese zu beeinflussen. Eine Weltwährung ist damit nicht nur Ergebnis der Herausbildung des Imperialismus, sondern verflucht das Land geradezu dazu, die Souveränität anderer Staaten im eigenen Interesse beständig zu beschneiden.

Imperialistische Rente und empirischer Befund

Auch wenn sich der Großteil der Ökonom*innen darüber einig ist, dass der Besitz einer Weltwährung letztendlich mehr Vor- als Nachteile birgt, wird insbesondere in der Linken diskutiert, ob es so etwas wie eine messbare imperialistische Rente gibt. Unter einer Rente im marxistischen Sinne versteht man die Umverteilung von Teilen des industriellen Profits auf Grundlage bestimmter Rechtstitel. Bekanntestes Beispiel ist der Anteil der Bodenbesitzer am Profit über die Pacht, welcher insbesondere die politische Landschaft Deutschlands von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat. Osman will nun aufzeigen, dass der Besitz einer Weltwährung genau diesen Effekt für das imperialistische Land auf Kosten der kapitalistischen Peripherie hat.

Dazu wollte er zunächst belegen, dass es einen ganz empirisch messbaren Unterschied in der Finanzpolitik zwischen Ländern mit einer Weltwährung und Ländern ohne gibt. Hierzu hat er den Zusammenhang von Geldmengen mit der Inflation und dem Bruttoinlandsprodukt in verschiedenen Ländern verglichen. Nach der klassischen Wirtschaftstheorie müsste es nämlich einen starken Zusammenhang zwischen diesen drei Größen geben. Es zeigte sich jedoch für die USA, die Eurozone, Großbritannien und Japan Gegenteiliges. Trotz der Geldmengenausweitung von 800% bis 1000% lag die jährliche Inflation im Schnitt bei gerade einmal 0 bis 2%, das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts bei 0,5% bis 2%. In Indien, Ägypten, Brasilien und Südafrika lagen die Inflationsraten hingegen bei ähnlicher Geldmengenausweitung bis 5% bis 12%, das Wachstum des BIP zwischen 2% und 6%. Es zeigt sich also ein ganz qualitativer Unterschied in der Wirkung der Geldmengenpolitik durch die imperialistischen Kernstaaten und Staaten, die keine Weltwährung besitzen. Insbesondere bei den USA zeigt sich die Verschränkung zwischen Geldmengenpolitik und Imperialismus. Während Krisen bzw. Rezessionen wurden Dollar gedruckt, um die Rüstung zu finanzieren. Immerhin 40% der weltweiten Militärausgaben gehen auf das Konto der Vereinigten Staaten. Mit dieser Waffengewalt wiederum wird dem Dollar die Geltung als Weltwährung verschafft.

Modellierung der imperialistischen Rente

Nun ist damit jedoch noch nicht gezeigt, ob es auch einen Umverteilungseffekt durch eine Weltwährung gibt. Um diesen zu modellieren, entwarf Osman eine recht simple Gleichung, mit der er die imperialistische Rente der Reservewährung IRRC definiert:

IRRC = Y – Y* (1 – (R ÷M)) = Y * (R ÷ M)

Y ist dabei das Bruttoinlandsprodukt eines imperialistischen Landes, R der weltweit als Reservewährung gehaltene Anteil der Währung und M der inländisch in Umlauf befindliche Teil der Geldmenge. Die Idee dahinter ist, dass bei einer Geldmengenausweitung ein Teil der Inflation durch die im Ausland befindlichen Reservewährungen aufgefangen werden. Mit jeder Geldmengenausweitung verliert nicht nur jedes im imperialistischen Land befindliche Geld an Wert, auch das im Ausland befindliche. Während im imperialistischen Land jedoch auch über eine größere Geldmenge verfügt wird, wurden die Reservewährungen der anderen Länder ohne Kompensation abgewertet. Das imperialistische Land ist alleine durch die Ausweitung der Geldmenge im Vergleich zum Ausland reicher geworden.

Mit diesem Modell kann Osman auch quantifizieren, von welchem geldwerten Raub am globalen Süden man sprechen muss. Auf Grundlage der Daten des IWF, der FED, der EZB, der Bank of Japan, der Bank of England, der Weltbank und der OECD berechnete er, dass alleine die Vereinigten Staaten von Amerika alleine 2021 7,95 Billionen Dollar durch diesen Kanal gewannen. Das entspricht dem Doppelten des gesamten Staatshaushalts und einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Die Eurozone folgt dahinter mit 2,19 Billionen Euro. Insgesamt wanderten 11,1 Billionen Dollar aus dem Rest der Welt in die USA, die Eurozone, nach Großbritannien und Japan. Oder nochmals anders. Jeder Mensch im erwerbsfähigen Alter außerhalb dieser vier Währungszonen zahlt pro Jahr ca. 2000 Dollar ohne Gegenleistung an die imperialistischen Staaten.

Zusammenfassung

Der Imperialismus hat viele Gesichter. Sei es in Form des Kolonialismus oder der Probleme postkolonialer Staaten. Sei es in den zwischenimperialistischen Krisen und Kriegen. Die dauerhafteste und tiefgreifendste, zugleich jedoch auch am schwersten sichtbare Gestalt trägt er im ökonomischen Imperialismus. Mit den Waffen des IWF oder des amerikanischen Sanktionsregimes raubt er dem globalen Süden nicht nur die Bodenschätze, sondern auch Geld. Wie im Feudalismus und neben der herkömmlichen Ausbeutung im Kapitalismus arbeitet ein Großteil der Menschheit einen Teil der Zeit kostenlos für die kapitalistischen Zentren.

Omar Osman hat mit seinem Modell über den Einfluss des Besitzes einer Weltwährung vorgerechnet, in welchen Dimension wir den Imperialismus denken müssen. Alleine durch diesen Mechanismus fließen jährlich mittlerweile über 11 Billionen Dollar aus dem Süden in den Norden. Es trägt daher kein Wunder, wenn die Leute vor Armut, Kriegen und den Umweltschäden in die Länder zu fliehen versuchen, in die sie einen großen Teil ihrer eigenen Arbeitskraft gesteckt haben. Und es kann nicht mehr überraschen, auf wessen Schultern die hiesigen Klassenkompromisse ausgehandelt werden. Dieser Umverteilungsmechanismus verzerrt die ökonomische Optik im Westen sogar soweit, dass sich diese Modern Monetary Theory diese vermeintliche Entkopplung von Geldmenge und Inflation für soziale Zwecke zu nutzen machen will. Letztendlich fordert sie jedoch nichts weiter als die Ausweitung dieses Raubes.

Die Kritik liegt auf der Hand. Das Modell erscheint recht simpel und die Werte erscheinen sehr hoch. Selbst die bürgerliche Ökonomie hat noch keine funktionale Bestimmung des Zusammenhangs zwischen Geldmenge und Preisniveau gefunden (Näheres hier). Weiterhin wäre zu fragen, ob dieser Mechanismus zusätzlich zu anderen imperialistischen Umverteilungsmechanismen dazugerechnet werden muss (Näheres hier) oder sich diese teilweise überschneiden und daher nicht so leicht aufsummiert werden können. Allerdings ist die dahinterstehende Argumentation zu plausibel, um den Zahlen völlige Willkür vorzuwerfen. Man darf sich auch nicht vormachen. Die wesentlichen Überlegungen, welche hinter anderen ökonomischen Modellen stehen, sind in Wahrheit auch nicht viel komplexer, auch wenn bürgerliche Ökonom*innen Tricks entwickelt haben, sie komplex aussehen zu lassen. Also selbst wenn der Modus der Geldmengenausweitung komplizierter ist, selbst wenn die Zahlen sogar signifikant niedriger ausfallen müssten und selbst wenn dies der einzige ökonomische Hebel des Imperialismus wäre. Die Größenordnung alleine müsste erschrecken lassen und ist ein weiterer Beleg: die wirkungsvollste Solidarität mit den Menschen aus der postkolonialen Welt ist die Verschärfung des Klassenkampfes und die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Ausbeuterregimes.

Literatur:

Osman, O. (2023): ANALYSIS OF THE IMPERIAL RENT OF RESERVE CURRENCY. A Manifestation of Existence and a Method of Quantity Estimation. In: World Review of Political Economy. Jahrgang 14. Ausgabe 1. S.149-163.

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