Das Verbrechen der Verbrechen

⋄ Genozid oder Völkermord gilt als das schwerste als Völkerrechtsverbrechen.

⋄ Unter ihm werden Handlungen verstanden, die darauf abzielen, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.

⋄ A. Dirk Moses forscht seit Jahrzehnten zum Genozidbegriff und einzelnen Genoziden. In seinem Buch
The Problems of Genocide problematisiert er diesen Begriff.

⋄ Er kritisiert, dass der der Genozid durch seine untrennbare Verbindung zur Shoa politische Widersprüche mythologisiere.

⋄ Zudem verstehe er den Völkermord als Bruch mit der Zivilisation und nicht deren Folge. Damit würden Massentötungen, die im Namen der Zivilisation begangen würden, legitimiert.

Er gilt als das schwerwiegendste Verbrechen im Völkerrecht: der Genozid. Unter ihm werden Handlungen verstanden, die darauf abzielen, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Das muss nicht die physische Vernichtung sein, sondern kann auch die Auslöschung einer Identität bezeichnen. Obwohl oder gerade weil der Vorwurf so schwerwiegend ist, wird er häufig gebraucht. Russland warf der Ukraine einen Genozid an russischsprachigen Ukrianer*innen vor. Selensky bezeichnete die Gewalttaten in Butscha als solchen. Schon seit Jahren wird der Vorwurf des Genozids an den Uyguren gegenüber China erhoben. Dabei ist er extrem schwer nachzuweisen, denn der Genozid definiert sich durch seine Absicht. Diese müsste unabhängig von darunter liegenden sozialen und politischen Widersprüchen aufgezeigt werden.

A. Dirk Moses ist ein australischer Genozidforscher mit deutschen, polnischen und jüdischen Wurzeln. Seit zehn Jahren gibt er das Journal of Genocide Research und zahlreiche Sammelbände zum Thema heraus. In seinen Beiträgen synthetisiert er Erkenntnisse aus internationalem Recht, Geschichts- und Politikwissenschaften Er widmete sich dem Thema, nachdem er durch die Argumentation, die Ermordung und Ungleichbehandlung der Indigenen durch die britischen könne kein Genozid sein, da man diese ja zivilisiert habe und man dies nicht in einem Atemzug mit der Shoa nennen könne. In seinem aktuellen Buch The Problems of Genocide. Permanent Security and the Language of Transgression. unternimmt er eine Reise durch die Problemgeschichte des größten Verbrechens unter den Verbrechen.

Eine kurze Geschichte des Genozids

Der Begriff Genozid stammt von polnischen Rechtsanwalt Raphael Lemkin aus dem Jahre 1943. Sein Neologismus verband die beiden griechischen Wortbestandteile für Mord und Ethnie/Stamm. Lemkin konnte die Nürnberger Tribunale noch nicht von der Verwendung seines neuen Konzepts überzeugen, die sich lieber an den etablierten „Kriegsverbrechen“ der Haager Landkriegskonvention orientierten. Die neu gegründeten Vereinten Nationen waren da wesentlich aufgeschlossener und erließen 1948 eine entsprechende Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Genoziden. Eine erste Welle von Anklagen wegen Genoziden aus Indien und Algerien richtete sich gegen die britischen und französischen Kolonialherren. Sie blieben bis zum Ende der Kolonialzeit und darüber hinaus jedoch folgenlos. Eine zweite Welle resultierte aus den Sezessionskonflikten nach dem Zerfall der Kolonialreiche, als ethnische Minderheiten eigene Staatlichkeiten anstrebten und somit in Bürgerkriege mit den nationalen Regierungen gerieten. Eine dritte Welle gab es in 1970ern im Zuge von Klagen internationaler Organisationen gegen die Sowjetunion wegen vermeintlicher kultureller und nationaler Unterdrückung von religiösen oder den baltischen Minderheiten. Nach dem Kalten Krieg wurde der Vorwurf des Genozids im zerfallenden bzw. ehemaligen Jugoslawien ein Motor der Sezession und immerhin Grund für die erste deutsche Beteiligung Deutschlands an einem Angriffskrieg nach 1945. Seit den 2000ern fordern verstärkt auch die Erben der indigenen Einwohner*innen der Amerikas und Australiens eine Anerkennung der Leiden ihrer Vorfahren als Genozide. Gleichzeitig hat auch die Debatte um die Anerkennung des Völkermordes an den Armenier*innen und damit Konflikte mit der Türkei an Fahrt aufgenommen. Aktuell werden unter anderem die Morde an den Jesid*innen durch den Daesh, die Minderheitenpolitik der Volksrepublik China, der Krieg Saudi-Arabiens gegen Teile der jemenitischen Bevölkerung und der Ukraine-Krieg unter den Aspekten des Völkermords diskutiert.

Über allem schwebt die Shoa

Als Lemkin das Konzept des Genozids entwickelte, hatte er die Verbrechen des Hitlerfaschismus vor Augen, dessen gesamtes Ausmaß er wahrscheinlich noch nicht einmal abschätzen konnte. Vor diesem Hintergrund fixierte er sich auf nationale, ethnische und religiöse Minderheiten und schloss politische oder militärische Massenmorde nicht mit ein. Dies trug der Singularität der Shoa Rechnung, die zunächst tatsächlich frei von politischen oder militärischen Motiven zu sein schien. Die Juden, welche millionenfach in den Vernichtungslagern ermordet wurden, planten keinen Aufstand. Sie wollten auch keine Sezession. Sie waren normale und zumeist loyale Mitglieder der europäischen Gesellschaften gewesen. Sie waren das, was in der Folge vom Begriff Genozid ausstrahlen sollte: unschuldig. Der Impetus der Unschuld ließ den Genozid in der Hierarchie der Kriegsverbrechen zur Spitze aufsteigen. In der Umkehr hieß das. Wer politische Interessen verfolgte und daher inhaftiert oder ermordet wurde, war selbst schuld. Er konnte nicht den Status des reinen Opfers beanspruchen. Wer sich gegen Armut oder Diktaturen auflehnte und im Bürgerkrieg starb, hatte zumindest die Option, auch leiser zu sterben und war nicht mehr vom Genozid-Begriff geschützt.

Moses argumentiert aus dieser historischen Entwicklung: Die Einzigartigkeit der Shoa machte diese zu einem schlechten Gradmesser für andere Kriegsverbrechen oder Massenmorde. In der Regel resultierten diese aus politischen Konflikten, in denen die einfach Täter-Opfer-Dichotomie nicht aufging. Wer also die Anerkennung eines Genozids für sich beanspruchen konnte, erreichte mehr als eine Bestrafung der Täter. Er erreichte eine vollständige Rehabilitation aller Sünden.

Das wirft die Frage auf, wer in der Lage ist, einen Genozid für sich beanspruchen zu können. Und hier hat Lemkin einige konzeptionelle Grundsteine gelegt, die sich als Stolpersteine erweisen sollten. Lemkin bezeichnete Genozide als Akt der „Barbarei“ und des „Vandalismus“, als Rückfälle von der Zivilisation. Nun ist die Gegenüberstellung von Zivilisation und Barbarei ein eurozentristisches Konzept, dass Gewalttaten im Namen der Zivilisierung rückständiger Völker gutheißt. Dadurch, dass Genozide nicht mehr als Konsequenz der Moderne, sondern als Ausnahmesituation von der Moderne erfasst werden, verschwindet eine analytische Dimension, die zu einer adäquaten Beschreibung notwendig wäre. Insbesondere der industrielle Massenmord der Deutschen an den Juden ist mit Barbarei eben schlecht umschrieben. Wir denken an Himmler, der den SS-Wachen bescheinigte, trotz aller Verbrechen anständig geblieben zu sein. Und das war auch der Grund, warum sich Nazis, wie Otto Ohlendorf, Führer der SS-Einsatzgruppe D, bis zum Schluss unschuldig fühlten. Für sie war die Vernichtung der Jüd*innen eine Notwendigkeit gewesen, um die Sicherheit Deutschlands über Generationen hinweg zu garantierten. Brutal, aber gerechtfertigt. Auch Saul Friedländer stellte heraus, dass die Nazis die Juden wirklich für eine Bedrohung hielten und die Verfolgung nicht nur als Vorwand für die Machtsicherung missbrauchten. Aber wie fällt die Shoa dann noch unter das Konzept eines Genozides und wie unterscheidet sie sich qualitativ von anderen Tötungen an Zivilist*innen im Namen der Sicherheit eines Landes..

Lemkin konnte noch nicht ahnen, dass eine neue Art der Kriegsführung in den kommenden Jahren die Schrecken des Landkrieges um die Schrecken des Luftkrieges erweitern würde. Das Bombardement ziviler Strukturen wurde zu einem Mittel, um die Moral der Bevölkerung und die industriellen Kapazitäten des Gegners zu zerstören. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Luftkrieg erst ab 1944 intensiv geführt und auch da erreichte er lange nicht die Ausmaße, wie in Korea, Vietnam oder dem Irak. Moses stellt in Frage, dass man Genozide und Bombardements sauber voneinander trennen könne und das dies überhaupt sinnvoll wäre.

Der Genozid als Folge der Zivilisation

Moses argumentiert weiter, dass der Begriff des Genozids in der Realität meist in polemischer Absicht gebraucht würde und daher blind mache für andere Formen der Massenvernichtung, die als ziviler erscheinen würden. Das Bombardement von Städten mit mehreren zehn- oder hundertausend Toten – in Vietnam oder Korea kosteten sie Millionen das Leben – werde als weniger verurteilenswert dargestellt, als beispielsweise Masseninhaftierungen, nur weil ein militärischer Zweck vorgeschoben werden kann. Diese Sprache nennt er die “Sprache der Grenzüberschreitung” bzw. die „Language of Transgression“. Dabei sei es gerade die Zivilisation, welche den Genozid in die Welt gebracht habe. Mit dem Aufkommen der Nationalstaaten und territorialer Grenzen sei neben äußeren Feinden auch ein innerer Feind entstanden. Die ethnischen Mehrheiten, welche eine Nation tragen, sehen in den Minderheiten im die „Anderen“, die bestenfalls partizipativ eingebunden, meistens marginalisiert und häufig als Gefahr markiert werden können. Die Ziel einer „permanenten Sicherheit“ treibe Regierungen und Völker dann dazu, gewaltsam gegen ethnische Minderheiten vorzugehen. Seine Forderung klingt verblüffend. Um Völkermorde zu verhindern, müsste „permanente Sicherheit“ illegal sein, sprich territoriale Grenzen antastbar werden.

Krieg und Genozid … untrennbar

Moses wagt weiterhin die These, dass militärische Kriegsführung und Genozidalität gar nicht zu trennen seien. Jede Form moderner Kriegsführung preist zivile Opfer mit ein. Wenn die Opfer aber in Kauf genommen würden, müssten sie legitimiert werden. Um diese Legitimität zu begründen, dürften Zivilist*innen nicht als unschuldig gelten. Ihre Schuld sei die Kumpanei mit dem militärischen Gegner. Dadurch werde jedoch ein ganzes Volk in Sippenhaft genommen, egal, ob es dem gegnerischen Regime loyal oder oppositionell gegenüberstanden. Hiermit werde also ein völkisches Kollektiv konstruiert, welches als Kollektiv auch Strafe verdient habe. Die Grenze zum Genozid ist nunmehr schwimmend.

Dieser fließende Übergang führe zu einem weiteren Problem. Ohne eine Hierarchisierung von Kriegsmitteln oder Kriegsverbrechen lässt sich völkerrechtlich weniger leicht Legitimität für militärisches Vorgehen erreichen. Ein Bombardement ließe sich nicht alleine durch den Hinweis auf einen verhinderten oder vergoltenen Genozid rechtfertigen, sondern man müsste schon nachweisen, dass die militärische Intervention mehr Opfer verhindert als gekostet hätte. Und das wäre eine hochspekulative Angelegenheit.

Ein weiteres Problem ist definitorischer Natur. Unter Genoziden werden nur solche Taten von Staaten oder parastaatlichen Akteuren eingestuft, die innerhalb der eigenen Grenzen gegen aus nationalen, ethnischen, rassistischen oder religiösen Motiven durchgeführt würden. Ein Massenmord an Kommunist*innen fiele etwa nicht unter diese Definition, ebenso wenig wie genozidale Verbrechen außerhalb der eigenen Staatsgrenzen. Politischer Massenmord wird dadurch entskandalisiert.

Die Klassenblindheit des Genozid-Begriffs

Ein letztes Problem sei konzeptioneller Natur. Durch die juristische Fixierung nationaler, ethnischer oder religiöser Minderheiten werde deren Sonderstatus manifestiert, während beispielsweise klassenbasierte Gewalt keinerlei Berücksichtigung erfährt. Um unter den (schwachen) Schutz des Völkerrechts zu kommen, müsste sich eine Gruppe als solche konstituieren, auch wenn die zugrunde liegenden Probleme ökonomischer oder politischer Natur sind. Damit werde das Problem der ethnischen Segregation überhaupt erst geschaffen. Nehmen wir die Uyguren in China als Beispiel. Mit dem ökonomischen Aufstieg Chinas, der Durchsetzung einer allumfassenden Staatlichkeit und den Modernisierungsbestrebungen wurden die alten politischen und sozialen Strukturen der muslimischen Minderheit gefährdet. Traditionelle Autoritäten in Clans sahen ihre Macht herausgefordert.. Große Teile der uygurischen Jugend sahen ihre Zukunft eher an den Universitäten der Volksrepublik als im vormodernen pseudonomadischen Lebensweisen der Familienverbände. Daher strebten die uygurischen Autoritäten nach einer Re-Ethnisierung des Konflikts, um sich prinzipiell von der Mehrheit abzugrenzen und internationalen Beistand zu erhalten. Solche ethnisierten Konfliktnarrative verschleiern jedoch die soziale Basis, mythologisieren die Trennung von Mehrheiten und Minderheiten und stellen die Staatsmacht prinzipiell in Frage. Der Staat darf sein Gewaltmonopol aber garnicht aus der Hand geben. So eskalieren politische Konflikte, anstatt eingehegt zu werden und der chinesische Staat war nicht in der Lage oder willens, auf den uygurischen Terror mit einer angemessenen Repolitisierung zu reagieren. Umgekehrt werden alle ethnischen und religiösen Motive von Minderheiten unter Generalverdacht gestellt, als möglicher Kristallisationskern für verschärfte politische Auseinandersetzungen zu fungieren.

Wenn man daher mit Moses ein zentrales Problem des Genozifbegriffs festhalten möchte, dann ist es die Entpolitisierung von Genoziden zu Gunsten einer binären Täter-Opfer-Dichotomie. Solche vereinfachten Narrative halten jedoch weder der politischen und historischen Forschung stand, noch sind sie in der Lage, die politischen Konflikte zu lösen oder zu befrieden.

Zusammenfassung

Die Geschichte des Begriffs Genozid ist noch lange nicht abgeschlossen. Längst haben sich auch von westlicher Gewalt betroffene Ethnien und Nationen des Begriffs angenommen, um die im Namen der Zivilisation begangenen Verbrechen anzuklagen. Die Probleme des Begriffs Genozid sind der Motor, der diese Entwicklung weitertreibt. Und A. Dirk Moses legt als Ergebnis jahrzehntelanger Forschung die Probleme des Genozid-Begriffs schonungslos offen. Er schlägt zwei Lösungen vor: entweder die Enthierarchisierung des Begriffs und die Akzeptanz, dass ein Opfer westlicher Bomben am Ende genauso tot ist, wie nach einer ethnischen Säuberung. Oder eine Dekolonialisierung des Begriffs, der Gewalt im Namen der Zivilisation mit einschließt. Beides liefe auf das selbe hinaus: Entmythologisierung und Repolitisierung.

Und die Entkleidung politischer Probleme aus ihrem mythologischem Gewand ist eine der dringlichsten Aufgaben von Marxist*innen. Sie schließt an die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung an, ohne die es nach Marx keine Wissenschaft bräuchte. Als Marxist*innen dürfen wir weder in den Chor jener einstimmen, die einen kulturellen Genozid an russischsprachigen Ukrainer*innen oder die die Hungerkrise 1932/1933 als bewusst herbeigeführte Aushungerung verkaufen wollen, die Ukrainer*innen töten sollte, weil sie Ukrainier*innen waren. Als Beweis, dass die Russen die Ukrainer einfach schon immer gehasst haben. Wir müssen die realen Widersprüche identifizieren. In der Ukraine geht es nicht um Sprache oder Kultur. Es geht um Klassenfragen, es geht um hegemoniale Erzählungen herrschender gesellschaftlicher Blöcke und es geht um imperialistische Politik, sowie die Reaktion auf diese. All dies erfasst der Genozidbegriff nicht.

A. Dirk Moses hält in seinem Buch, was der Titel verspricht. Er legt alle Probleme offen, ohne die dahinterstehenden Taten zu bagatellisieren. Er konfrontiert die Darstellungen von Politikern mit der zugrunde liegenden Realität mit enormer Expertise und dem Bewusstsein für reale Widersprüche. Das macht das Buch zu einem der besten, wenn man sich für das ideologische Framing des westlichen Imperialismus interessiert.

Literatur:

Moses, A. D. (2021): The Problems of Genocide. Permanent Security and the Language of Transgression. Cambridge: Cambridge University Press.

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