Vergangenheitsbewältigung nach DIN

⋄ Angesichts des einzigartigen Zivilisationsbruches der Shoah spielt die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland eine große Rolle.

Nach der Wende wurde diese jedoch zu einer Staatsraison verkürzt, anstatt lebendige Diskussion über die Ursachen und Folgen des Hitlerfaschismus zuzulassen.

⋄ Johannes Schulz unterschied anlehnend an die Theorie der Psychoanalyse Freuds die idealistische und die materialistische Vergangenheitsbewältigung.

⋄ Während die idealistische Vergangenheitsbewältigung die Gesellschaft mittels historischer Lehren auf eine neue moralische Stufe heben will, fordert die materialistische die Abschaffung der Ursachen vergangener Verbrechen.

⋄ Schulz hält die materialistische Vergangenheitsbewältigung nur für eine Korrektur der idealistischen.

Auf Grund der unvollständigen Denazifizierungen in BRD und DDR als Baustelle betrachtet, seit den 90ern als globales Vorzeigeprojekt kritischer Geschichtskultur ins Schaufenster gestellt und seit einigen Jahren nunmehr in Form einer deutschen Staatsraison in ein politisches Programm übersetzt, ist die deutsche Vergangenheitsbewältigung angesichts der Singularität der Shoah selbst ein singuläres Spektakel. Der wieder gewaltsam eskalierte Konflikt in Palästina und Israel hat aber erneut die Sollbruchstellen aufgezeigt. Während die einen Israel mit Blick auf die Lektionen der Geschichte vorbehaltlos unterstützen, mahnen die anderen als Konsequenz der gleichen Geschichte die Ablehnung von Vertreibung, Kolonialismus und Bombenkriegen an.

Johannes Schulz von der Universität in Luzern hat unter Berufung auf verschiedene Vertreter der Frankfurter Schule und ihrer Interpretation von Sigmund Freuds Theorie der Psychoanalyse idealistische und materialistische Vergangenheitsbewältigung unterschieden. Sein Aufsatz erschien in der Philosophy und Social Criticism.

Ausgangspunkt Freud

Was hat nun Vergangenheitsbewältigung mit Sigmund Freud zu tun? Schulz betrachtet hierzu kollektives Bewusstsein analog zum individuellen, dass sich Freuds Theorie der Psychoanalyse auch auf soziale Phänomene anwenden lässt. Nach dieser entstehen viele psychische Probleme aus einem moralischen Dilemma zwischen natürlichen Trieben und ihrer kulturellen Einhegung. Dabei gäbe es zum einen Triebe, denen der Mensch ungehindert nachgehen kann, aber auch solche, die sozial nicht akzeptiert würden. Das beruht darauf, dass sich die menschliche Gesellschaft je nach Stufe der Produktivkraftentwicklung Regeln auferlegen müssen, die den individuellen Trieben des Menschen widersprechen und sie unterdrücken. Wo diese jedoch unterdrückt werden, wandern sie ins Unterbewusste und können dort Psychosen auslösen.

Erster Schritt einer Therapie ist daher immer die Analyse und die Identifikation des unterdrückten Triebes. Darauf folgend gibt es nun zwei unterschiedliche Arten der Bewältigung: die idealistische und die materialistische. Die idealistische Form nennt sich bei Freud Sublimierung. Hier werden die eigentlichen Triebe auf sozial akzeptiertes Verhalten umgelenkt wird. So kann der kindliche Trieb, mit Kot und Schlamm zu spielen beispielsweise auf Töpferei umgelenkt werden und so die Triebe sogar affirmativ und konstruktiv nutzen. Durch die dadurch entstandenen neuen Konstruktionen hebe sich die Gesellschaft sogar auf einen höheren moralischen Grad und nach Freud könne eigentlich die gesamte menschliche Kulturgeschichte als eine Art dieser Sublimierung verstanden werden. Die materialistische Bewältigung kann dort stattfinden, wo die Ursache eines Triebes abgestellt werden kann.

Auf Gesellschaften könnte man es so anwenden, dass politisch eingehegte Vergangenheit dort bewältigt werden muss, wo die exzessive Form der Herrschaft einer Klasse den moralischen Ansprüchen einer späteren Gesellschaft nicht mehr genügt und als schädlich wahrgenommen wird. Das muss nicht die Klassenherrschaft selbst in Frage stellen, aber doch zumindest ihre rücksichtslose Durchsetzung. Dass diese Analogie nicht zu weit hergeholt ist, macht Schulz daran fest, dass sich Adorno und Habermas teilweise explizit auf Freud und sein begriffliches Instrumentarium bezogen haben.

Idealistische Vergangenheitsbewältigung à la Habermas

Habermas nutze nun die idealistische Seite dieses Konzepts, um Vergangenheitsbewältigung als einen konstruktiven Prozess zu beschreiben. Dadurch, dass sich die Gesellschaft selbst über vergangenes Unrecht verständige, hebe sie sich selbst auf eine höhere Stufe der Moral. Dazu sei natürlich die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Narrativen der Vergangenheit notwendig. So habe der französische Nationalmythos lange Zeit im Selbstbild der Grande Nation bestanden, die Urheber der bürgerlichen Werte der Freiheit, Gleihheit und Brüderlichkeit war. Diese Nation baute aber auch auf kolonialer Unterdrückung auf, was sich ins Unterbewusstsein übertragen habe und durch die sozialen Spannungen in den Banlieues materiell wieder zutage getreten sei.

Hier sei eine Art zweiter Französischer Revolution notwendig, um die Werte der ersten Revolution auf eine neue universale Stufe zu heben, welche die Gleichheit und Freiheit alles Bürger*innen und Nationen garantiere. Die Nation könne sich mit sich selbst versöhnen, wenn sie vergangenes Unrecht als notwendige Voraussetzung der eigenen moralischen Reifung auffasse. Vergangenheitsbewältigung ist damit etwas fruchtbares, das die Menschen nicht mehr abschrecke. Etwas weiter gedacht sei die Vergangenheitsbewältigung selbst nicht Ursache des Sublimierungsprozesses, sondern nur Folge, da sich die moralische Differenz, die bloß vom Unbewussten zum Bewussten wandert, ja bereits eingestellt hat. Andernfalls würde sie ja nicht erkannt werden.

Materialistische Vergangenheitsbewältigung à la Adorno

Im Gegensatz zu Habermas habe sich Adorno im Wesentlichen auf Freuds Naturalismus bezogen. So wie menschliche Triebe ihren Ursprung in der physischen Welt haben, hätten gesellschaftliche Entwicklungen ihre Basis in den realen sozialen Beziehungen, die ihre Mitglieder miteinander eingehen. Diese könne man dekonstruieren und somit ihr zerstörerisches Potential erkennbar machen. Anders als bei der Sublimierung dürfe die Vergangenheit nicht affirmiert, sondern müsse überwunden werden. Man könne sich nicht dauerhaft moralisch über den materiellen Druck einer Gesellschaftsordnung erheben, sondern solle die Gründe für Unterdrückung, Krieg, Mord und Ungleichheit selbst abschaffen. Blieben die Ursachen der verbrecherischen Vergangenheit erhalten, dann würde die Gefahr eines neuen Zivilisationsbruches beständig fortbestehen. Schulz nennt dies den materialistischen Ansatz.

Für Adorno beispielsweise sei die Kälte der menschlichen Entfremdung ursächlich für die Kälte des Mordens in der Shoah gewesen, weshalb die kapitalistische Gesellschaft als Grund der Entfremdung selbst überwunden werden müsse, damit auch Auschwitz nie wieder geschehen könne. Selbst in wohlhabenden Gesellschaften würden Individuen immer wieder ihre Funktion als Objekt der Kapitalinteressen wahrnehmen. Die beständige latente Angst vor dem Schicksal, einmal selbst für das Kapital unbrauchbar zu sein, triebe die Menschen in die behagliche Illusion der Volksgemeinschaft. Auschwitz war für Adorno beides, wiederholbar und singulär. Wiederholbar, weil die entfremdete Existenz in der kapitalistischen Gesellschaft fort bestehe und singulär, weil der Exzess der Shoah eine historisch bisher einmalige Zuspitzung der bis in die Psyche fortgepflanzte Krisenhaftigkeit des Kapitalismus darstellte.

Die Vergangenheit zu bewältigen hieße demnach, die Gegenwart zu bewältigen. Die Kernaufgabe materialistischer Vergangenheitsbewältigung sei die Entdeckung der Kontinuitäten zu den Auswüchsen einer Gesellschaftsform und die Identifikation der Hebelpunkte für Diskontinuitäten.

Die BLM-Bewegung

An Hand der Black-Lives-Matters-Bewegung wollte Schulz dann darstellen, wie sich materialistische und idealistische Vergangenheitsbewältigung zueinander verhalten. Und hier zeigt sich auch der wesentliche Schwachpunkt seiner Ausführungen. Er betrachtet die materialistische Vergangenheitsbewältigung nur als Korrektiv der idealistischen. Dabei zählt Schulz die Zerstörungen von Denkmälern des Sklavenhalters Thomas Jefferson oder des Rassisten und Antisemiten Winston Churchill sogar zur affirmativen idealistischen Seite. Beides konfrontiere die Gegenwartsgesellschaft mit der Realität, dass auch die Gründerväter der bürgerlichen Demokratie oder ein wichtiger Akteur im Kampf gegen Hitler aus heutiger Sicht unhaltbare Positionen vertreten haben und kratzen so an einer Identität der Gesellschaften, welche die Kosten des zivilisatorischen Fortschritts ausblendet und erschreckt, wenn die Rechnung präsentiert wird. Dies verweise auf die Rolle der Fortschritts dieser Gesellschaft, welche die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit als falsch erkannt hat und dies auch mit Blick auf die Geschichte expliziert. Hier führe man eine Traditionslinie fort, die bis zu Martin Luther King zurück reiche, der weniger an einem revolutionären Umsturz der Gesellschaft interessiert war, als an der Schaffung eines neuen amerikanischen Nationalmythos, der die Gleichstellung der Schwarzen als Vollendung der noch unvollendeten amerikanischen Werte zu konstituieren versucht.

Allerdings vergisst diese Perspektive, dass es ein ganz materielles Interesse an der Ungleichheit gibt. Rassistische Zuschreibungen können schlechte Bezahlung und die Vergabe mieser Jobs an POCs rechtfertigen, die Weiße dann nicht mehr übernehmen müssten. Psychologisch können sich prekäre weiße Proletarier*innen auf ihre Ethnizität als Distinktionsmerkmal berufen. Und der nationale Rassismus ist letztlich auch ein Spiegelbild des Imperialismus, der große Teile des globalen Südens überausbeutet, somit Ressourcen für die Befriedung der Klassenwidersprüche in den imperialistischen Zentren schafft und andere Gesellschaften moralisch wie materiell entwertet (Näheres hier). All dies behindert natürlich die narrative Aufarbeitung des Rassismus in den USA, da dem moralischen Fortschritt immer wieder die nackte Realität des Kapitalismus entgegenschlägt.

Aber wie kommt Schulz dann darauf, die materialistische Dekonstruktion nur als Korrektiv einer affirmativen Geschichtsneudeutung zu betrachten, anstatt auf den Umsturz der bedingenden Verhältnisse hin zu arbeiten? Das leitet sich davon ab, dass Adorno, auf den sich Schulz bezieht, seinen Antikapitalismus selbst nicht ernst genommen hat. Adorno war tief einer Antitotalitarismusdoktrin verhaftet, welche die Betonung der individuellen Freiheit über die materialistische Analyse der Ursachen der Shoah im Kapitalismus stellte. Dass die Shoah und die Härten eines sozialistischen Aufbaus eben nicht komplementär waren, vergaß Adorno. Und so distanzierte er sich von der 68er-Bewegung, welche die Diskussion um die Vergangenheitsbewältigung zumindestens im akademischen Raum mit der Frage der gesellschaftlichen Verhältnisse verknüpfte. Die Nähe zum Kommunismus und teilweise auch die Rechtfertigung des Realsozialismus, sowie eine vermeintlich fehlende Empathie gegenüber den jüdischen Opfern des Hitlerfaschismus, wogen für ihn schwerer als die gemeinsame Identifikation des Kapitalismus als Ursache der Shoah. Damit zeigte Adorno, dass bereits für ihn die radikale Gesellschaftskritik nur ein Korrektiv und nicht grundlegendes Ziel war.

Deutschland und die Staatsraison

Auch wenn die Interpretation einer materialistischen Vergangenheitsbewältigung als bloßes Korrektiv einer idealistischen nicht trägt, lässt sich die Gegenüberstellung eines idealistischen und eines materialistischen Ansatzes durchaus fruchtbar anwenden. Denn insbesondere der Blick auf den Krieg in Gaza führt die Begrenztheit der idealistischen Vergangenheitsbewältigung vor Augen. Diese ist mittlerweile zu einer Staatsraison geronnen, deren unkritische und unreflektierte Übernahme ausschließlich die erfolgreiche Vergangenheitsbewältigung ausweist. Timothy Harton Ash sprach von einer DIN-Norm der Erinnerung, die alleine in der nationalen Parteinahme für Israel in jeder Art von Konflikt aufgeht. Die deutsche Staatsraison hat selbst einen Schlussstrich unter die Vergangenheitsbewältigung gesetzt, da sie abweichende Reflexionen und Schlussfolgerungen außerhalb des gesellschaftlichen Konsens stellt, ohne dass überhaupt geprüft wird, auf welchen Haltungen und Werten diese beruhen.

Diese zwanghafte einseitige Auflösung der Lehren aus der Shoah muss jedoch zu kurz greifen. Wie Adorno anmerkte, war die Shoah eben nicht nur das konkrete Verbrechen der Deutschen an den Juden, also die historische Singularität. Natürlich war dies auch der Fall, aber nicht nur. Die Shoah war auch ein Menschheitsverbrechen. Die Deutschen waren nicht Millionen von pathologischen Psychopathen mit Lust am massenhaften Mord, sondern es waren die ihnen entfremdet gegenübergestellten gesellschaftlichen Verhältnisse, deren Zumutungen sie auf eine Personengruppe projizierten. Die Industrialisierung des Massenmords und die im Topos der Pflichterfüllung zum Ausdruck gebrachte Distanz der Mörder von ihrem Handwerk, sind nur in einer entfremdeten kapitalistischen Gesellschaft überhaupt denkbar. Es war die Tatsache, dass Auschwitz bei einem Fortleben der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse eben durchaus wiederholbar sei, die das Völkerrecht inklusive ihres Genozidverbots als Versuch einer juristischen Einhegung der kapitalistischen Gewalt schuf.

Die Reduzierung dieser Doppelgestalt der Shoah auf den Aspekt der Solidarität mit dem jüdischen Staat folgt natürlich aus dem Fortbestehen der Herrschaft der Bourgeoisie und ihrem Interesse am Fortbestehen der kapitalistischen Gesellschaftsform. Dass es gerade die Form des bürgerlichen Staates ist, die den Kapitalismus organisiert, womit auch der israelische Staat die Möglichkeit einer neuen Shoah transportiert, muss unterdrückt werden. Wo aber ein Trauma unterdrückt wird, kann es pathologisch werden. Ein Beispiel ist die Fetischisierung des modernen industrialisierten Tötens durch Drohnen und GPS-gesteuerte Raketen als Zivilisationsnachweis gegenüber der Barbarei eines Widerstands, der noch mit der Hand töten muss.

Die idealistische Vergangenheitsbewältigung erschafft so stets neue historische Traumata. Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Gesellschaft mit jedem Trauma wachse und eine neue historische Stufe erreiche. Aber die Gewalt pflanzt sich doch fort. Daher wäre es nur konsequent, aus der Analyse der Grundlagen der historischen Traumata auch deren vollständige Überwindung einzufordern. Dass Menschen sich verpflichtet fühlen, andere Menschen zu töten oder zu unterdrücken oder dies sogar gerne tun, ist kein Naturgesetz, sondern wird den Menschen von ihnen als fremd gegenüberstehenden gesellschaftlichen Verhältnissen aufgezwungen. Der idealistische Zugang kann hier umgekehrt als das Korrektiv gelten, das den realen zivilisatorischen Fortschritt positiv aufhebt (im Sinne von bewahren). Letztendlich müssen Rassismus und Antisemitismus jedoch zur Überwindung der kapitalistischen über Geld und Waren vermittelte Herrschaft des Menschen über den Menschen und seiner imperialistischen Form bewegen und nicht zu neuen Feel-Good-Erzählungen.

Zusammenfassung

Der mit Rückgriff auf Sigmund Freud erfolgte Vergleich idealistischer und materialistischer Vergangenheitsbewältigung, wie ihn Johannes Schukz anstellt, ist fruchtbar, wenn er vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Dass Schulz diesen Schritt nicht geht, liegt in der Inkosequenz der Frankfurter Schule selbst begründet, welche die Annehmlichkeiten einer kleinbürgerlichen Existenz als Hof-Kritiker der sich neu konstituierenden Volksgemeinschaft nach 1945 doch mehr zu schätzen wusste als die in den realen Kämpfen um Befreiung kolonial unterdrückter Völker, der kapitalistischen Peripherie oder des Proletariats notwendige Disziplin und Einordnung in die Bewegung hin zur Befreiung. Aber eben nur letzteres kann ein neues Auschwitz wirklich undenkbar und undurchführbar machen.

Literatur:

Schulz, J. (2024): “Vergangenheitsbewaltigung” revisited: Distinguishing two paradigms of working through the past. In: Philosophy and Social Criticism. Jahrgang 50. Ausgabe 2. S.391–415.

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