Postfreirismus

⋄ Der Bildungssektor ist eine wesentliche Stütze des kapitalistischen Systems, wo Kinder zu Lohnarbeiter*innen ausgebildet werden und ihnen die bürgerliche Ideologie vermittelt wird.

⋄ Die marxistische Kritik an der Bildung geht im Wesentlichen auf Paulo Freire zurück, der heute eher kritisch oder verkürzt von der kritischen Pädagogik wahrgenommen wird.

⋄ In einem Aufsatz in der
International Critical Thought verteidigt Derek Ford die revolutionäre Praxis Freires.

⋄ Die heutige kritische Theorie versuche zwar, die kapitalistische Totalität weitgehend zu dekonstruieren, könne aber keinen revolutionär-praktischen Ansatz vorlegen.

⋄ Vielmehr habe sie den Antikommunismus der bürgerlichen Institutionen übernommen und messe realsozialistische Pädagogik an utopischen Entwürfen. .

Nicht nur in den USA, auch in Deutschland gelten Lehrer*innen an Schulen und Universitäten als links vom gesellschaftlichen Durchschnitt (vgl. SLIME 1983). Ob ihnen hierzulande der Vorwurf gemacht wird, durch gewaltfreie Kuschelpädagogik die Kinder von der Leistungsbereitschaft zu entfremden oder ob sie drüben gleich ganz als marxistisch durchsetzt gelten, wie für die amerikanischen Republikaner. Moderne pädagogische Konzepte sind der bürgerlichen Rechten suspekt und schuld sind nicht die Ansprüche des modernen Kapitals an ein flexibles und selbstausbeutendes Proletariat, sondern linke Pauker.

Dabei steht im Marxismus selbst zur Disposition, inwiefern Hochschulen und Schulen überhaupt ein Ort menschlicher und proletarischer Emanzipation sein können oder ob ihre gesellschaftliche Funktion zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft nicht jeglichen revolutionären Anspruch unterlaufen müsse. Dennoch gibt es eine Reihe linker Pädagog*innen, die Aufklärung für lehrbar und Ideologien der Ungleichwertigkeit für schulisch bewältigbar halten. Viele davon berufen sich auf den marxistischen Klassiker Paulo Freire. Zu Unrecht, wie Derek Ford in der International Critical Thought einwendet. Über die revolutionäre Praxis der Bildung.

Bildung im Kapitalismus

Die Schule erfüllt im Kapitalismus eine ideologische und eine materielle Funktion. Ideologisch werden den Kindern die Grundlagen bürgerlicher Geschichtsrezeption, Werteorientierungen und Erfolgsmaßstäbe eingetrichtert. Materiell werden sie zu verwertbaren Lohnarbeiter*innen zugerichtet und gleichzeitig wird es den Eltern ermöglicht, sich während dieser Erziehungszeit ungestört vom eigenen Nachwuchs ausbeuten zu lassen. Da der Schule damit eine Schlüsselfunktion zufällt, wurde natürlich von Sozialist*innen und Kommunist*innen versucht, diese Schlüsselfunktion selbst zu besetzen oder gegenhegemoniale Bildungskonzepte zu etablieren. Ein Fokus lag dabei auf der Veränderung der sozialen Arrangements zwischen Lehrenden und Lernenden, wie unter den Lernenden. Wo die soziale Segregation Arbeiter*innen davon abhielt, Universitäten zu besuchen, wurden Volkshochschulen gegründet oder Lesekreise in Fabriken abgehalten. Statt auf Disziplin von oben herab zu pochen, wurde die intrinsische Motivation der Aussicht auf Befreiung als hinreichender Anporn des zum Lernen notwendigen Fleißes erachtet. Wie in der Dialektik der Klassenverhältnisse nicht unüblich, hat sich die Bourgeoisie die erfolgreichsten Konzepte abgeschaut und in den sich wandelnden Akkumulationsbedingungen neu zu konstituieren versucht. Außerschulische Lernorte sind heute überall in der Stadt verteilt, Gruppenarbeit und selbstorganisiertes Lernen vermitteln den Schüler*innen ein Gefühl von Autonomie und sparen an der ein oder anderen Stelle kostspieliges Personal. Produktion und Reproduktion bilden somit eine Einheit, bei der sich die jeweiligen Elemente auch gegeneinander verschieben können.

Hinzu kommt, dass auch der Imperialismus ganz wesentlich über Produktion, Konsumtion, Distribution und Hierarchisierung von Bildung entscheidet. Je nach Bedürfnissen der Akkumulationsregime im globalen Norden wird entweder Wissensproduktion ausgelagert oder kluge Köpfe in die Zentren geholt. Dabei werden vor-, nicht- und antikapitalistische Pädagogiken entwertet und die Institutionen standardisiert, welche die Herrschaft der imperialistischen Bourgeoisien auch global perpetuiert.

Derek Ford hält angesichts dieses Befunds eine marxistische Bildungstheorie für zentral, da die Revolution an sich einen fast vernachlässigbar kurzen Zeitraum im Vergleich zu ihrer Vorbereitung darstellt. Revolutionäre Praxis sei daher größtenteils vorrevolutionäre Praxis, die nur durch eine richtige Didaktik nicht in Opportunismus verfalle.

Paulo Freire und die Praxis

Einer der Väter einer marxistischen Bildungstheorie ist dabei der Brasilianer Paulo Freire. In den 1930er Jahren zog sich das ausländische Kapital als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise aus der Peripherie zurück und überließ populistischen Regierungen in Südamerika die Möglichkeit einer importsubstituierenden Industrialisierung. Darauf hin wuchs nicht nur die Arbeiter*innenklasse schnell an, sondern auch linke Intellektuelle träumten von den sich auf tuenden Potentialen, die sich aus Bewahrung der kulturellen Identität bei sozialem Ausgleich und zeitgleicher materieller und ideologischer Modernisierung ergeben könnten. Zentral war die Erwachsenenbildung, um revolutionäre Ansätze auch in die Dörfer tragen zu können.

Freire kritisierte in diesem Umfeld die bürgerliche Bildung darin, dass sie nur den technischen Aspekt der Alphabetisierung betrachte, während wirklich verstehendes Lesen nur im Einklang mit einem Begreifen der gesellschaftlichen Realität gedacht werden könne. Um dies methodisch umzusetzen, suchten die Befreiungspädagog*innen generative Wörter, die im Alltag der Menschen eine zentrale Rolle spielten. Diese Begriffe wurden dann sowohl schriftlich und bildlich dargestellt und ihre Bedeutung für das konkrete Leben gemeinsam diskutiert, um sich den Begriff bewusst zu machen. Nach dem Schreibtraining wurde der Begriff dann im Zusammenhang mit anderen Begriffen diskutiert und somit die Verbindung zur weiteren Begriffswelt hergestellt.

Zentral war hier die eigene Motivation der Beherrschten, sich auch Aufklärung über ihre Unterdrückung verschaffen zu wollen. Paulo Freires Pädagogik sei damit nach Ford antiinstitutionell gewesen. Er habe sich nicht gefragt, die bürgerlichen Einrichtungen zur Zurichtung der Kinder hin zu verwertbaren Lohnarbeiter*innen demokratischer oder emanzipatorischer gestalten könne, sondern wie man die Lernprozesse organisieren müsse, um außerhalb des bürgerlichen Apparats und aus aufklärerischen Bewegungen oder der kommunistischen Partei heraus, die Klassengesellschaft bekämpfen zu können.

Kritische Pädagogik

Ein Nachfahre Freires ist die kritische Pädagogik. Ford sieht jedoch in dieser Pädagogik, die begrifflich und systematisch auf der kritischen Theorie aufbaut, den Gedanken der revolutionären Praxis verloren. Dass es ihr trotzdem gelungen sei, sich gegen nur wenige Widerstände als dominante Strömung linker Pädagogik durchzusetzen, liege daran, dass Bildung und Wissensvermittlung traditionell blinde Flecken der marxistischen Bewegung seien.

Dabei habe die kritische Pädagogik richtig erkannt, dass alle Bildung im Wesentlichen Bildung der Ware Arbeitskraft innerhalb einer totalitär fetischisierten Gesellschaft sei. Die Selbstermächtigung, die kapitalistische Bildung verspricht, sei nur die Ermächtigung, sich besser ausbeuten zu lassen. Der Fehlschluss sei allerdings gewesen, aus der kapitalistischen Totalität keine positive Aufhebungsbewegung mehr ableiten zu können. Die kritische Theorie verkenne, dass nicht alles nur Warenform ist und damit alles in seiner konkreten Existenz Bruchstellen gegenüber der kapitalistischen Totalität aufweist. Die Reproduktion der Ware Arbeitskraft sei daher auch nicht nur Produktion von Arbeiter*innen als willenlose Objekte der Wertverwertung, sondern auch die Reproduktion von Bewusstsein und Unbewusstsein. Damit sei Bildung ein strategisches Schlachtfeld, das nicht in der Verteidigung der „Zivilisation“ gegen vermeintlich regressive, weil meist an den konkreten Erscheinungen ansetzenden, Kapitalismuskritik bestehe. Als regressive Kapitalismuskritik würden die kritischen Pädagog*innen all jene Strömungen nennen, die klar zwischen Herrschenden und Beherrschten unterschieden, anstatt alle als gleichrangige Opfer eines gemeinsamen Verblendungszusammenhangs zu verklären. Dass die revolutionäre Praxis in der heutigen kritischen Pädagogik kaum noch eine Rolle spiele, habe nach Ford mit der Institutionalisierung der kritischen Theorie zu tun. Er beginnt hier mit der Rolle einiger Vertreter des IfS beim CIA-finanzierten und antikommunistischen Kongress für kulturelle Freiheit.

Dabei greife die kritische Theorie ein reales Problem bei Freire auf. Freire baute abstrakt seine Bildungstheorie auf der instrinsischen Motivation der Beherrschten auf, sich Aufklärung über die sie bestimmenden Verhältnisse zu verschaffen. Konkret jedoch formulierte er konkrete, teilweise recht dogmatische Methoden, um die Alphabetisierung zu organisieren. Die Auflösung dieses nur theoretischen Widerspruchs sieht Ford in der Praxis gegeben. Freire habe seine Didaktik immer mit dem konkreten Ziel der Befreiung in konkreten Gesellschaften formuliert. Seine dreischrittige Methode speiste sich aus der Erfahrung, wie der übergreifende Ansatz am besten unter den Bedingungen des antikolonialen Kampfes umzusetzen sei, wobei er es ablehnte, die gleiche Methodik auch auf entwickeltere Länder wie die USA anwenden zu wollen.

Freire und die kritische Pädagogik: Unterschiede und Synthesen

Die Unterschiede zwischen Freire und der kritischen Pädagogik seien heute nach Ford sehr klar benennbar. Während letztere die Schule als den Ort möglicher Transformation des Bewusstseins erachtet, wollte Freire gerade gegeninstitutionelle Bildungseinrichtungen aufbauen. Das führe dazu, dass sich die kritische Pädagogik nicht mehr wie Freire auf marxistische Analyseinstrumente wie Klasse und ökonomische Herrschaft beziehe, sondern auf den Bürger, die öffentliche Sphäre und den demokratischen Nationalstaat. Daher erscheine ihr die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie gegen die autoritären Zumutungen revolutionärer Projekte im Anfangsstadium bedingungslos verteidigenswert. Freire hingegen kannte als aktiver Beteiligter an antikolonialen Projekten die Probleme und die Einschränkungen für allseitige Partizipation, die eine Zuspitzung von Klassenkämpfen zur Folge hat. Das macht Ford etwa daran fest, dass Freire, der als Berater von der antikolonialen Regierung in Guinea-Bissau mit dem Aufbau eines Bildungssystems betraut wurde, seinen Abschlussbericht freiwillig erst von der revolutionären Partei absegnen ließ; also die Notwendigkeit revolutionärer Disziplin über seine intellektuelle Integrität stellte.

Ford leitet aus dieser Praxisfremdheit einige Probleme der heutigen akademischen linken Bildungsdiskussion ab. Erstens grassiere immer noch ein tiefgreifender Antikommunismus, jedenfalls wenn es um reale Projekte und nicht utopische Fantasien geht. Man messe jeden realsozialistischen Versuch nur an einem emanzipatorischen Ideal; ein Vergleich, dessen Ergebnis schon im Vorfeld feststünde. Zweitens habe man unter dem Banner der Determinismuskritik den historischen Materialismus und die genaue Analyse der kapitalistischen Verhältnisse fallen gelassen. Dabei seien nach Marx soziale Gesetze eben nur dann Gesetze, wenn sie sich unbewusst vom Willen der Menschen abspielten. Im Kommunismus würden daher nicht mehr die sozialen Gesetze bestimmen, sondern nur noch die materiellen (z.B. dass produziert werden muss, was konsumiert werden will). Und gerade marxistische Bildungstheorie sehr flexibler als die bürgerliche, da sie sich ja auf konkret-historische Umstände bezieht, anstatt auf die universalistische Gleichsetzung aller Arbeit durch die Ware. Als Beispiel nennt Ford hier die Juche-Ideologie, die gleichermaßen orthodox-marxistisch und weit weg davon ist.

Dabei lehnt Ford keineswegs plurale Diskussionen ab. Aber sein Verständnis des historischen Materialismus ist jenes, dass es Zeiten der Diskussion und Zeiten der Aktion gäbe. Er macht das an der Trotzki-Stalin-Debatte zwischen 1922-1927 plausibel. Im Kern sei es darum gegangen, ob die Sowjetunion mehr Mittel zur Durchsetzung der proletarischen Weltrevolution oder zur Stabilisierung des sozialistischen Aufbaus im eigenen Land verwenden wolle. Keiner der beiden Exponenten sprach sich ausschließlich für das eine oder das andere aus. In der Phase der Diskussion seien sowohl Trotzkis als auch Stalins Texte in Lesekreisen, in der Öffentlichkeit und in den Fabriken diskutiert worden. Als das Ausbleiben der Revolution im Westen die Sowjetunion vor die überlebenswichtige Frage stellte, ob man lieber mit voller Kraft ein revolutionäres Abenteuer in China unterstützen oder die Produktionsmittel im eigenen Land aufbauen wolle, sei bereits eine öffentliche Meinungsbildung abgeschlossen gewesen, die für letzteres Partei ergriff. Dieser Weg habe sich dann diskussionslos durchsetzen müssen, um erfolgreich zu sein, was auch mit Repressionen gegen jene einher ging, die in der Debatte unterlegen, sich dem herrschenden Kurs aber nicht anschließen wollten.

Was Ford wichtig an diesem Beispiel findet, ist, dass demokratische Partizipation nicht an einem bürgerlichen oder einem utopischen Standard gemessen werden könne. Die Partizipation in der UdSSR war sehr ungleichmäßig, zeitlich als auch räumlich. Während die führende Rolle der kommunistischen Partei – wie im Kapitalismus die führende Rolle einer oder mehrerer bürgerlicher Parteien – unangetastet blieb, habe die Partizipation am Arbeitsplatz oder in anderen Sphären der Öffentlichkeit eine höhere Stufe als im Westen erreicht. Mit einem Bildungsegalitarismus hätten sowjetische Universitäten allen gesellschaftlichen Schichten einen Zugang zu höherer Bildung ermöglicht, von dem Arme, Schwarze oder Frauen in den USA nur träumen konnten. Während in der Zeit der antikolonialen Befreiungskämpfe die USA Milliarden in Propagandaorganisationen steckten, um die Unabhängigkeit der Dritten Welt zu untergraben, habe die Sowjetunion eigene Universitäten zur Befähigung der Aufständischen zum Aufbau einer funktionierenden, sozialistischen Gesellschaft aufgebaut. All diese Dinge habe Paulo Freire in Rechnung gestellt. Überlebt hat von seinem Konzept aber nur eine dialogische Pädagogik, die Benachteiligten eine Stimme geben, die Gründe für die Benachteiligung aber nicht abschaffen wolle.

Zusammenfassung

Ford schließt seine Polemik damit ab, dass Freire wie Lenin ein Konzept der Dialektik von Spontaneität und Organisation verfolgt habe. Die Macht der Massen ist zentral, aber ohne organisierende Kraft ungerichtet und leicht zu zügeln. In der kritischen Pädagogik habe sich nur das Element der Spontaneität, die Fokussierung auf das Individuum erhalten. Aus der Feststellung, dass die hiesigen Bildungseinrichtungen nur die zukünftige Verwertung der Kinder organisieren, wurde einfach Einspruch gegen jede Art von Organisation erhoben, die gegen die intrinsische Motivation verstoße, ohne zu Fragen, durch welche objektiven Faktoren diese bedingt sei. Es bleibe also nur ein halber Freire erhalten.

Fords Kritik mag für einen Großteil der kritischen Pädagogik stimmen, auch wenn sich viele Vertreter*innen der Beschränktheit ihres Ansatzes durchaus bewusst sind. Die fundamentalste Kritik solcher scheinradikalen Ideologien steht aber noch aus: der Aufbau eines organisierten und antiinstitutionellen Bildungssystems abseits des staatlichen Apparats, dass in der Lage ist, Wissenschaft und Pädagogik in den Dienst der sozialistischen Revolution zu stellen.

Literatur:

Ford, D. (2023): From “Authentic” to Actual Marxist Educational Theory: Advancing Revolutionary Pedagogies. In: International Critical Thought. Jahrgang 13. Ausgabe 4. S.506-524.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert