En VoC: Vergleichende Kapitalismusanalyse in Griechenland

⋄ Griechenland zählt als Teil der Europäischen Union formal zu einem imperialistischen Block, ist innerhalb dieser jedoch selbst in extremer Abhängigkeit.

⋄ Die vergleichende Kapitalismusanalyse beansprucht für sich, ein begriffliches Werkzeug zu besitzen, solche ambivalenten Positionen theoretisch bewältigen zu können.

⋄ Konrad Sobczyk versuchte sich an einer solchen Interpretation des griechischen Falls und bestimmte nicht nur externe, sondern auch interne Faktoren für die griechische Abhängigkeit.

⋄ Er zeigt, dass Griechenland weder extern noch intern eine realistische Möglichkeit besaß, aus der Abhängigkeit zu entfliehen.

⋄ Nicht zuletzt kann die Analyse Erklärungsansätze dafür bieten, warum die Kommunistische Partei Griechenlands gerade auf einen radikal-revolutionären Kurs setzt.

Die KKE ist momentan die am besten in der Gesellschaft verankerten kommunistischen Parteien Europas. Jüngste Umfragen sehen sie bei 10-12%. Besonders ist dabei, dass die KKE, anders als die ebenfalls momentan starke KPÖ oder KPRF, einen dezidiert anti-reformistischen Kurs fährt. Viele erinnern sich vielleicht noch an die Absage an Tsipras und SYRIZA 2015, sich an einer Anti-Austeritätsregierung zu beteiligen. Viele sagte damals den Tod der Partei voraus, doch mittlerweile scheint sie SYRIZA bzw. dem, was strukturell und programmatisch von SYRIZA übrig geblieben ist, überholt zu haben.

Die Kompromisslosigkeit der KKE hat jedoch auch zu Rissen in der internationalen kommunistischen Bewegung geführt. Insbesondere ihre Haltung zum Imperialismus, die faktisch jedes kapitalistische Land als imperialistisch mit unterschiedlicher Ausprägung ansieht, hat eine Gegenreaktion veranlasst, die einen qualitativen Unterschied zwischen dem westlichen Block und Staaten, wie Russland, China, Indien oder auch ärmeren afrikanischen Ländern erkennt. Wenn nun verschiedene nationale kommunistische Parteien zu sehr unterschiedlichen Urteilen über eine sehr grundsätzliche Frage kommen, dann eignet es sich, die verschiedenen materiellen Grundlagen in den jeweiligen Ländern zu untersuchen. Konrad Sobczyk von der Universität in Manchester hat jüngst in der New Political Economy eine Analyse der griechischen politischen Ökonomie in Rahmen des Konzepts der vergleichenden Kapitalismusanalyse angefertigt. Insbesondere der Begriff des „internen Fluchtpotentials aus der Abhängigkeit“ könnte ein Schlüssel für ein Verständnis der Sichtweise der KKE sein.

Variationen des Kapitalismus und vergleichende Kapitalismusanalyse

Die vergleichende Kapitalismusanalyse ist aus einer Debatte um das 2001 erschienene Sammelband Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage der Herausgeber Peter Hall und David Soskice hervorgegangen. Im Einleitungskapitel entwickelten die beiden Autoren die beiden Idealtypen einer liberalen und einer koordinierten Marktwirtschaft, wobei sie sich weniger für die Vorzüge der einen oder anderen Variation aussprachen, sondern die jeweiligen Reproduktionsmechanismen sachlich erklären wollten. Eine Variation sei weniger universell zu bevorzugen, sondern nur wirksam in Koordination mit den vorhandenen Bedingungen. Aufbauend auf den beiden kapitalistischen Archetypen versuchten die Autoren weiterhin die Herausbildung politischer Institutionen abzuleiten und das Wechselverhältnis zwischen verschiedenen kapitalistischen Variationen zu problematisieren.

Als Beispiel für den Untersuchungsgegenstand der vergleichenden Kapitalismusanalyse kann die Frage angeführt werden, wie die Verteilung des Mehrprodukts auf Lohnarbeit, Kapital und Renten die Nachfrage beeinflusst und wie entstehende Nachfragedefizite durch innere Umverteilung oder den Weltmarkt ausgeglichen werden. Dem zugrunde liegen soziale Formationen, welche die Institutionen derart gestalten, dass die beobachtbaren Verteilungsprozesse zustande kommen. Da die die Widersprüche durch Verteilungsprozesse über den Weltmarkt auch externalisiert werden können, hat dies wiederum zur Folge, dass auch soziale Formationen in anderen Ländern beeinflusst werden.

Die Debatte um die vergleichende Kapitalismusanalyse hat in den letzten beiden Jahrzehnten sowohl marxistische als auch bürgerliche Wissenschaftler*innen erfasst. Der wesentliche Unterschied zwischen dem reformistischen Ansatz und dem marxistischen ist der, dass der erste die Potentiale einer kapitalistischen Gesellschaft auslotet, sich innerhalb des globalen Kapitalismus in eine weniger abhängige Position zu begeben, während der marxistische Ansatz den Einfluss der Abhängigkeiten für die nationale und globale Überwindung des Kapitalismus herausarbeitet. Dabei sind beide Ansätze gar nicht so gegensätzlich, wie die Gegenüberstellung von revolutionär und reformistisch suggeriert, sondern beide Richtungen nähern sich aus unterschiedlichen Richtungen dem Punkt an, ab welchem eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte derart gehemmt wird, dass die Produktionsverhältnisse über sie hinaus wachsen. Oder anders gesagt: Die einen analysieren, warum die oben nicht mehr können und die anderen, warum die unten nicht mehr wollen; in der Revolution muss beides zusammenkommen. Beide Richtungen bedienen sich dabei aus dem gleichen begrifflichen Werkzeugkasten: Überausbeutung, imperiale Renten, Finanzialisierung, Weltwährungen und deren Institutionalisierung.

Abhängigkeitstheorie und vergleichende Kapitalismusanalyse

Während sich der ursprüngliche Untersuchungsgegenstand der vergleichenden Kapitalismusanalyse auf die kapitalistischen Kernländer beschränkte, haben weitere Generationen die Impulse der Abhängigkeitstheorie mit aufgenommen und versucht, postkoloniale Abhängigkeiten mit den Mechanismen dieser Theorie aufzudecken. Wenn es wahr ist, dass soziale Formationen und kapitalistische Akkumulationsregime miteinander zusammenhängen, lässt sich leicht eine Brücke schlagen, indem neben der liberalen und koordinierten Marktwirtschaft auch die Variation der abhängigen Marktwirtschaft eingeführt wird. Doch die vergleichende Kapitalismusanalyse geht in einem Punkt über die Abhängigkeitstheorie hinaus. Letzte würde diese Verhältnisse als einseitige Abhängigkeiten auslegen, in denen zentrale imperialistische Länder periphere Ökonomien nach ihren Bedürfnissen zu beeinflussen versuchen und entsprechend von außen auf die sozialen Formationen einwirken. Die vergleichende Kapitalismusanalyse hingegen untersucht auch die umgekehrte Wirkung, ob nicht die sozialen Formationen der perihperen Länder auch die Akkumulationsregime der zentralen Imperialismen beeinflussen.

Die Analysekraft der Theorie wollte Sobczyk nun am Fallbeispiel Griechenland untersuchen, da das Land keinem der extremen Pole – imperialistische Kernländer oder abhängige Peripherie – zuzuordnen ist. Zeitlich wiederum hat sich mit der EU-Integration und der Währungsunion viel für das Land geändert; Veränderungen, welche die Theorie abbilden müsste. Methodologisch hat Sobczyk dafür halboffene Interviews mit 15 Expert*innen und Politiker*innen geführt und diese über die theoretischen Grundsätze der vergleichenden Kapitalismusanalyse trianguliert. Er beschränkte sich dabei auf den reformistischen Teil der Theorie, der eher auf die Möglichkeit der Überwindung der Abhängigkeit abzielt. Zudem bezieht er sich weitestgehend auf die dritte Generation der vergleichenden Kapitalismusanalyse, da diese zum Beispiel den Einfluss des Staates und politischer Freiheiten stärker berücksichtigt und die Synthese zwischen Entwicklungsschranken, aber auch -potentialen bereits stärker vorangetrieben hat.

Die externen Faktoren Griechenlands

Nach dem Ende der deutschen Okkupation in Griechenland erhoben die Kommunist*innen auf Grund ihrer führenden Rolle im Partisanenkampf den Anspruch auf eine sozialistische Entwicklung Griechenlands. Stalin hatte den Westmächten jedoch deren Einfluss in Griechenland zugesichert, sodass die parafaschistische Rechte in Griechenland den Bürgerkrieg gewinnen konnte. Um das Land an den Westen zu binden, wurde Griechenland schnell in westlichen Strukturen aufgenommen: es erhielt Geld aus dem Marshallplan, wurde Teil der NATO und recht zeitig Mitglied der EWG. Dadurch konnte Griechenland zwar günstig Agrarerzeugnisse exportieren und vom Tourismus profitieren, die einheimische Industrie jedoch auch nicht durch Importzölle schützen. Als nach Ende des klassischen Fordismus die Reallöhne überall stagnierten, konnte die Kaufkraft nur über öffentliche und private Verschuldung aufrecht erhalten werden. Das galt nicht nur für Griechenland, aber andere Länder konnten den Schulden immerhin ein industrielles Rückgrat entgegensetzen. Ohne die technische Entwicklung des Westens und ohne die Lohn-Tiefpreise Osteuropas gab es jedoch kaum eine Chance für Griechenland, die Schulden durch ökonomische Entwicklung zurückzuzahlen. Das ökonomische Wachstum war fast ausschließlich schuldenbasiert, womit Griechenland als abhängige Marktwirtschaft bezeichnet werden muss.

Besonders virulent wurde aber die Tatsache, dass sich Griechenland innerhalb der EU in einer Freihandelssituation mit stark exportorientierten Märkten wiederfand. Insbesondere Deutschland baute ab den frühen 2000er Jahren seinen Niedrigklohnsektor aus und kompensierte die fehlende Nachfrage durch ein Exportregime, dass einen äußeren Abnehmer wie Griechenland benötigte. Während Griechenland das Nachfrageproblem nach der Stagnation der Reallöhne also mit Verschuldung kurzfristig behob, versuchte Deutschland das Problem zu externalisieren.

Die internen Faktoren Griechenlands

Doch das ist nur eine Seite der Erklärung. Noch ist nicht hinreichend geklärt, warum Griechenland stärker als andere Länder betroffen war. Im Rahmen der vergleichenden Kapitalismusanalyse wären hier drei Einflüsse relevant. Erstens der politische Klientelismus, der Wählergunst an die Befriedigung der Interessen einzelner sozialer Gruppen koppelte. Die Zeichnung einer Tradition des Klienten-Patronage-Verhältnisse bis vor 400 Jahren, die Sobczyk vornimmt, ist hier sicherlich zu anachronistisch. Dennoch ist der Klientelismus-Vorwurf nicht falsch. Da sich die politische Herrschaft Griechenlands lange Zeit nicht auf freiwillige Klassenbündnisse, sondern gewaltsam erzwungene stützte, mussten die latent oppositionellen Fraktionen durch materielle Zugeständnisse befriedigt werden. Das betrifft zum einen einen bevorzugten öffentlichen Sektor und damit zusammenhängend staatlich garantierte Pensionsfonds. Diese mussten traditionell aus den Staatshaushalten massiv unterstützt werden.

Eine weitere Auswirkung des Klientelismus ist ein kompliziertes Steuersystem (seit 1975 werden jährlich fast 3000 neue Steuergesetze erlassen), das immer wieder herrschaftsstützende soziale Formationen durch tausende Sonderregelungen von Staatsabgaben ausnahm. Insbesondere landbesitzende Rentiers und selbstständige Kleinbürger*innen profitierten von diesem System, während ein Teil des zirkulierenden und kleinproduzierenden Kapitals in die Schattenwirtschaft abdriftete. Während also viele Klientelgruppen vom Staat abhängig gemacht wurden, war der Staat wiederum vom internationalen Finanzkapital abhängig, dass solange Kredite gewährte, wie wenigstens der Zinsfluss gewahrt blieb und erst dann in Panik geriet, als eine drohende Staatspleite die eigenen Spekulationsblasen bedrohte.

In der Fassung der vergleichenden Kapitalismusanalyse trugen diese Faktoren dazu bei, dass Griechenland nur ein geringes „internes Fluchtpotential aus der Abhängigkeit“ besaß. Der Druck kam mit dem Schuldenschnitt und den erzwungenen Austeritätsreformen von außen. Der Staat konnte weder die Interessen der Pensionär*innen, noch der Rentiers bedienen; ließ die ersten verarmen und besteuerte die zweiten, sodass viele Grund und Boden lieber an das ausländische Kapital verkauften. Die Regierung SYRIZA war mit ihrer OXI-Kampagne ein letzter Versuch, den griechischen Status Quo zu halten, konnte aber selbst der Sprengkraft zwischen den einzelnen Klientelgruppen und den ausländischen Finanzinteressen nichts entgegensetzen. Die Bevölkerung wurde in der Folge zwangsverarmt und die soziale Infrastruktur geschliffen. Die von den internationalen Finanzinstitutionen geforderte Steuerreform setzt sich nur langsam gegen heftige Widerstände durch und richtet sich zunächst ebenfalls gegen die gesellschaftlich schwächer gestellten Gruppen, Arbeiter*innen im privaten Sektor und Pensionär*innen. Ausländisches Kapital hingegen wird mit Steuerdumping gelockt.

Zusammenfassung

Richten wir unseren Blick mit dieser theoretischen Einordnung auf die Position der KKE. Sobczyk attestiert Griechenland nun ein geringes „internes Fluchtpotential aus der Abhängigkeit“. Wenn man diese Analyse teilt – und die KKE tut dies offenbar – dann stellt sich aber auch die Frage nicht, ob entsprechende Reformen das Proletariat erst einmal aus der imperialistischen Surplusausbeutung befreien könnten, um dann den Klassenkampf mit größerem Selbstbewusstsein auf die nationale Ebene heben zu können. So argumentieren die russische, chinesische und einige andere kommunistische Parteien. Ohne eine entsprechende innere Entwicklung und die verbleibende Abhängigkeit vom Ausland würden revolutionäre Prozesse an der materiellen Notlage schnell ersticken. Allerdings weist Griechenland im Lichte der vergleichenden Kapitalismusanalyse ein solches Entwicklungspotential gar nicht auf. Die KKE braucht also garnicht zu forcieren, was nicht realistisch ist. Auch ist die durch den Klientelismus hervorgerufene Spaltung der einzelnen Fraktionen der werktätigen Bevölkerung keine Basis für einen auf innere Entwicklung abzielenden Klassenkompromiss.

Nach außen her wird Griechenland durch exportorientierte Kernländer der EU – vorn dabei Deutschland – dominiert und kann seine eigene Währung zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit nicht abwerten. Aber auch das simple Verlassen der EU würde die internen Probleme nicht beheben. Die Klientelpolitik hat jahrelang eine moderne Industrialisierung behindert, die dazu geführt hat, dass selbst bei starker Abwertung der Währung, kaum interessante Produkte angeboten werden könnten. Allein eine vollständige Verarmung der Bevölkerung – egal, ob öffentlicher Dienst, Rentner*innen oder Arbeiter*innen in der Privatwirtschaft – könnte die Lohnkosten derart reduzieren, dass Griechenland zum Magnet des internationalen Kapitals würde.

Dass sich die KKE 2015 nicht auf eine Regierung mit Tsipras und der SYRIZA einließ, die entweder den Status Quo bewahrt hätte oder eine Verelendungspolitik von außen hätte exekutieren müssen, ist vor diesem theoretischen Hintergrund vollkommen nachvollziehbar. Dass die KKE diese Entscheidung in einen größeren Kontext der revolutionären Emphase und der Betonung der relativen bis absoluten Autonomie der Arbeiter*innen ideologisch ihren Mitgliedern und Sympathisant*innen plausibel macht, anstatt sie nur sachlich aus der düsteren, nackten materiellen Realität zu begründen, ist auch ein nachvollziehbarer Weg. Worin die KKE aber irrt, ist die besondere Situation Griechenlands schematisch auf alle Länder anwenden zu wollen. In Ländern, welche ein „internes Fluchtpotential aus der Abhängigkeit“ besitzen, wie China, der Iran, bedingt auch Russland und Indien, könnte ein radikal-revolutionäres Programm die Partei vom Proletariat eher entfremden. Daher wäre es begrüßenswert, in der internationalen kommunistischen Debatte den Weg der Kommunistischen Partei Griechenlands, so richtig er auch jetzt in Griechenland ist, nicht als allgemeingültig in Debatten durchboxen zu wollen und die internationale Koordination damit zu schwächen. Vielmehr sollte ein dialektisches Konzept einer einheitlichen kommunistischen Bewegung, die unterschiedliche Entwicklungspfade der nationalen kommunistischen Parteien zusammenführt und in fruchtbare Bewegung kommt, entwickelt werden.

Literatur:

Sobczyk, K. (2023): Understanding ‘dependency’ through the comparative capitalisms framework: conceptualisation of Greece as a dependent market economy. In: New Political Economy. Jahrgang 28. Ausgabe 6. S.925-941.

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