Was bringt eigentlich die Theorie des ungleichen Tauschs?

⋄ Die Erfassung der gesamten Welt durch den Freihandel hat diese nicht nur ungleicher gemacht, sie hat auch den Raubbau an der Natur beschleunigt.

⋄ Die Theorie des ungleichen ökologischen und ökonomischen Tauschs versucht dieses Phänomen stichhaltig zu erklären.

⋄ Andrea Ricci wollte in einer Debatte mit Hornborg und Summerville in der aktuellen
Capitalism Nature Socialism
den politischen Mehrwert einer dialektischen Interpretation dieser Theorie hervorheben.

⋄ Nach ihm habe die zunehmende internationale Ungleichheit auch die internationale Arbeiter*innenklasse stärker fragmentiert als früher.

⋄ Ansätze der Entkopplung, des Fair Trades und des Degrowths wies er als mangelhaft zurück, konnte aber auch keine praktische Anleitung aus der Theorie des ungleichen Tauschs schöpfen.

Das Jahr 1995 markiert eine bedeutende Zäsur in der Entwicklung des globalen Kapitalismus. In diesem Jahr wurde die Welthandelsorganisation WTO gegründet. Fünf Jahre nach Ende des Kalten Krieges trieb sie das Paradoxon der weltweiten Marktwirtschaft weiter auf die Spitze. Sie schrieb sich auf die Fahnen, was die ehemaligen kolonisierten Länder lange Zeit beanspruchten: Gleichheit. Sie setzte sich für den Abbau aller Handelshemmnisse ein, für Liberalisierung und Privatisierung. Doch schnell wurde deutlich, dass die rechtliche Gleichheit bei ökonomischer Ungleichheit die Unterschiede zwischen den Weltregionen nicht etwa behob, sondern vielmehr vertiefte. Was die bürgerliche Mitte in den kapitalistischen Zentren wie im globalen Süden bis dato als marxistische Propaganda abgetan hatte, wurde auf einmal offensichtlich. Der Freiheit des Marktes führte zu mehr und mehr politischer Unfreiheit, teilweise diktiert durch die WTO selbst.

Die Konstituierung einer globalen Bewegung gegen den Neoliberalismus erwies sich trotz einer kurzen kraftvollen Periode um die Jahrtausendwende als wenig nachhaltig. Wo es Verlierer des Freihandels gab, da gab es auch Gewinner. Umweltschädliche Produktion konnte aus den kapitalistischen Kernländern in die Peripherie verlagert werden, wodurch die rauchenden Schlote in Deutschland verschwanden und sich Luft- wie Wasserqualität erholten. Das Handelsregime ermöglichte den Import billiger Konsumgüter und den Export teurer Produktionsmittel, auf Kosten der ärmeren Länder, zu Gunsten der reicheren. Die Spaltung der Arbeiter*innenklasse wurde vorangetrieben.

Über den ökonomischen und ökologischen ungleichen Tausch entspann sich seither eine Debatte, sowohl über seine Funktionsmechanismen, als auch politische Konsequenzen. Die Capitalism Nature Socialism dokumentierte stellvertretend einen Streit zwischen Andrea Ricci, Alf Horborg und Peter Sommerville (hier bereits dokumentiert). Jüngst veröffentlichte Ricci in diesem Journal eine erneute Antwort, in der er insbesondere die Bedeutung des ungleichen Tausches für die internationale soziale Bewegung diskutierte.

Die Spaltung der globalen Arbeiter*innenbewegung

Im Gegensatz zu Hornborg und Sommerville vertritt Ricci das Konzept einer dialektischen Einheit von ungleichem ökonomischem und ökologischem Tausch. Grundlage hierfür ist die Dualität der Warenform als Einheit der sozialen Größe Tauschwert und der materiellen Größe Gebrauchswert. Der ökonomisch ungleiche Tausch rühre daher, dass produktivere Länder auf Grund des Marxschen Preisbildungskonzepts im Tausch für die gleiche Menge Geld mehr vergegenständlichte gesellschaftlich notwendige Arbeit erhalten würden als umgekehrt (Näheres hier). Die materielle Gebrauchswertseite davon sei, dass arbeitsintensive und in der Regel umwelt- bzw. gesundheitsschädliche Arbeiten in die unproduktiveren Länder des Globalen Südens verlegt werden könnten. Da ein beständiger Wertfluss aus der Peripherie in die imperialistischen Zentren bestehe, könnten die abhängigen Länder kaum ihrer schlechten Position auf dem Weltmarkt entgehen. Der Schaden lässt sich auf mehrere Billionen Dollar alleine in den letzten Jahren beziffern (Näheres hier & hier).

Das bedeute weiterhin, dass es neben der Klassenspaltung in den einzelnen Ländern selbst, auch Spaltungstendenzen innerhalb der transnationalen Klassen gäbe. Das entspricht schon alleine dem Augenschein, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich die Lebensbedingungen eines Niedriglohnarbeiters in Deutschland und in Bolivien oder, um gar nicht soweit weg zu gehen, in Rumänien oder der Ukraine sind. Diese objektive Spaltung der Klassenlagen habe auch zu einer subjektiven Spaltung des Klassenbewusstseins geführt, in der sich die Arbeiter*innenklassen der dominanten Marktwirtschaften aus Angst vor dem Aufstieg der abhängigen Länder hinter ihre Regierungen drängten. Selbst das aktuelle Europawahl-Programm der Linkspartei enthält solche Elemente. Hinzu kommt, dass die unterschiedliche Stellung zum Weltmarkt die Reproduktionsmechanismen diversifiziere. Während im Westen Sozialstaaten das Solidaritätsnetzwerk Familie teilweise ersetzen und Lebensentwürfe pluralisieren konnten, wurde die Familie in den peripheren Ländern wieder verstärkt der Hauptakteur der Reproduktionsarbeit. Damit einher gingen jedoch persönliche Zwänge und Abhängigkeiten, die im Westen nicht auf ihre Ursachen zurückgeführt wurden, sondern als vormodern zur Ursache für die ökonomische Rückständigkeit verklärt wurden. Dieser Sachverhalt führte zu dem Dreifachkonstrukt der „gendered ethnicized class“, in der sich die unterschiedlichen Klassenlagen auch als unterschiedliche Geschlechts- und rassifizierte Lagen widerspiegeln. Die sozialen Bewegungen vermochten es damit nicht mehr, sich global und internationalistisch aufzustellen und zogen sich auf partikulare und lokale Themengebiete zurück.

Einheit von grüner und roter Bewegung?

Wo die materielle Realität Spaltung bewirkt, muss Einheit politisch aktiv hergestellt werden. Samir Amin rief beispielsweise 2019 zur internationalen Allianz der Arbeiter*innen und Völker auf. Aber was sollte das gemeinsame Interesse dieser Allianz sein? Prinzipiell wurde aus zwei Richtungen geantwortet. Zum einen bildete sich ein grüner Flügel heraus, der die Erhaltung der Umwelt als die verbindende Klammer aller humanistischen Bewegungen identifizierte. So universell der Anspruch dieses Flügels war, so brachte er international nur die indigene Bewegung der Peripherien und die akademischen linksliberalen Mittelschichten der kapitalistischen Zentren zusammen. Der rote Flügel der sozialen Bewegungen erkannte die fehlende Repräsentation der produktiven Arbeiter*innenklassen der Zentren und der Mittelschichten der Peripherien. Er benannte die Überausbeutung der kapitalistischen Peripherie als zentral für das Verständnis der internationalen Klassenspaltung und zum Hauptziel politischer Aktion. Er konnte aber bisher kein Konzept zur Integration der Klassen entwickeln, sondern musste mehr ohnmächtig mit ansehen, wie diese Klassenfraktionen eher durch nationalistische und faschistische Kräfte angesprochen wurden.

Als globale Bewegungen haben in den letzten Jahrzehnten aber vor allen Dingen drei Strömungen, die jeweils Teile der roten und grünen Ansätze aufnahmen, herausgebildet. Erstens die Fair-Trade-Bewegung. Sie beruht darauf, freiwillig mehr für Produkte zu bezahlen, damit die Arbeiter*innen in den peripheren Ländern mehr Lohn bekommen können. Dass dieses Konzept nur die wohlhabenderen Fraktionen der Arbeiter*innenklasse der Zentren ansprechen kann, wird leicht deutlich. Auch im Westen werden Arbeiter*innen gemäß der Kosten zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft bezahlt. In dieser Kalkulation ist aber die Überausbeutung der Peripherie bereits inbegriffen. Würde die Arbeiter*in ihre Konsumgüter nun so bezahlen, als ob es keine Überausbeutung in der Peripherie gäbe, dann würde sie ihre Arbeitskraft nicht mehr vollständig wiederherstellen können. Das muss nicht gleich verhungern sein, aber es kann ein Fehlen notwendiger Regenerationszeit, Statusverlust, Mittel für politisches Engagement oder ein Nachteil im Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt bedeuten. Nur die Teile der Arbeiter*innenklasse, die über den eigenen Reproduktionskosten bezahlt werden, können an diesem Konzept partizipieren. Und daraus ist wiederum der Turn entstanden, dass eine entsprechende Konsumgewohnheit zum Distinktionsmerkmal der privilegierten Arbeiter*innenklasse geworden ist und somit erneut zu subjektiver Klassenspaltung führt.

Ein anderes Konzept ist die Entkopplung der Peripherie vom Weltmarkt. Der ökonomische und ökologische ungleiche Tausch funktioniert nur da, wo der freie Markt waltet. Durch Aufbau von Handelshemmnissen, der Rückgewinnung des Primats der Politik in der Peripherie und eine importsubstituierende industrielle Entwicklung könnte die imperialistische Abhängigkeit eingedämmt werden. Doch unproblematisch ist das Konzept nicht. Erstens bedeutet es, dass die abgekoppelten Länder bestimmte Ressourcen selbst nicht zur Verfügung haben. Umweltfreundliche Synergieeffekte in der Produktion würden erschwert, wenn sie auf internationalem Handel beruhten. Die technologische Entwicklung der Länder selbst müsste weitgehend autark erfolgen und damit in der Menschheitsgeschichte bereits gewonnene Errungenschaften mehrfach individuell neu erstritten anstatt geteilt werden. Und letztens bedeutete es auch eine Entkopplung der sozialen Bewegungen und der Arbeiter*innenbewegung der einzelnen Weltregionen.

Die dritte Bewegung ist die Degrowth-Bewegung, entweder in ihrer universellen oder partiellen Variante. Universell fordert sie, dass in jedem Land das Maß der Produktivität danach bemessen wird, wie groß die ökologischen Kosten sind. Um ein Minimum dieser zu erreichen müsste die kapitalistische Produktivität gesenkt werden, z.B. Landwirtschaft mit weniger Maschinen und mehr Arbeitseinsatz betrieben werden. Im partiellen Ansatz würden nur die imperialistischen Zentren ihre Produktivitätsvorteile einschränken, während wiederum die Peripherie sich nur soweit industrialisiert, dass keine Mehrbelastung der Umwelt eintritt. Während dieser Ansatz zumindest den politischen Anforderungen einer integrativen Bewegung Rechnung trägt, krankt er an fundamentalen theoretischen Problemen. Zum einen entkoppelt er ökologischen und ökonomischen ungleichen Tausch. Das mag man noch mitgehen. Aber er verkennt darüber hinaus, dass sich nach Marx die Entwicklung der Produktivität durch die Konkurrenz gerade hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Um überhaupt ökologischen vom ökonomischen ungleichen Tausch zu entkoppeln, bräuchte es schon eine geplante Entwicklung der Produktivkräfte, was nicht weniger als eine umfassende sozialistische Revolution darstellte. Dabei versucht sich die Degrowth-Bewegung aber gerade als reformistischen Ansatz zu präsentieren. Sie kann aber eben nur scheitern, weil sie sich der Grundlagen für den eigenen Erfolg nicht bewusst ist.

Der ungleiche Tausch als integratives Konzept?

Andrea Ricci schließt nun richtigerweise: Wenn der ökonomische und der ökologische ungleiche Tausch jeweils zwei Facetten der Warenform sind und diese die Spaltung der globalen Arbeiter*innenklasse bewirken, dann müsste auch dieser der Adressat einer globalen sozialen Bewegung sein. Für den globalen Süden lässt sich eine solche Bewegung tatsächlich auch feststellen. Landarbeiter*innen und produktive Arbeiter*innen würden sich zunehmend in gemeinsamen Plattformen zusammenschließen (Näheres hier), um gemeinsam eine Basis für eine nachhaltige ökonomische und ökologische industrielle Entwicklung zu legen. Diese Bewegungen können sich unter anderem zunutze machen, dass mit China bzw. dem chinesischen Block eine Alternative sowohl beim Export von Konsumgütern als auch beim Import von Produktionsmitteln existiert, der die Monopolrente zumindest zu drücken in der Lage ist. Darüber hinaus wird der Freihandel immer kritischer gesehen, internationale Handelsorganisationen laufen mit ihren Klagen gegen souveräne Wirtschaftspolitiken immer häufiger ins Leere und die Regierungen werden in ihrem Kampf gegen das internationale Freihandelsregime stärker unterstützt. Die Bewegung La Via Campesina sieht Ricci hier als prototypisch an.

In den imperialistischen Zentren ist die Lage hingegen komplexer. Auch wenn die Rede vom imperialen Lebensstil angesichts vieler prekärer Klassenlagen im Westen als irreführend erscheint, gelingt es den sozialen Marktwirtschaften doch, mit den Surplusprofiten aus der Peripherie die Klassenkämpfe zumindest an strategisch bedeutenden Stellen zu befrieden. Eine Arbeiter*innenbewegung, welche sich um die Exogenität ihrer Klassenlage bewusst sei, existiere noch nicht. Ricci sieht in der Theorie des ungleichen Tausches zwar einen Kondensationskern solcher Bewegungen, würde eine Verminderung der globalen Fragmentierung der Arbeiter*innenklasse auch die Kampfeinheit des Proletariats auf Skala des Weltmarktes heben. Einzig einen im Hier und Jetzt ersetzbaren Hebelpunkt kann Ricci nicht vorweisen.

Zusammenfassung

Den Nachweis, dass der Kampf gegen den ungleichen Tausch das Bindeglied zwischen den verschiedenen sozialen Bewegungen und der Klassenfragmentierungen entlang Nation, Gender, Race oder sozialer Stellung werden könne, erbringt Ricci nur negativ. Weder Entkopplung, noch Fairtrade oder Degrowth seien in der Lage, praktische Wege einer Zusammenführung des internationalen Klassenkampfes aufzuzeigen. Allerdings kann dies der ungleiche Tausch alleine auch nicht. Er kann Verständnis und Erklärung schaffen für die existierende Zersplitterung der sozialen Bewegung. Er kann aufzeigen, wie die Gleichheit unter ungleichen Handelspartnern zu neuer ökonomischer Überausbeutung führt. Aber darüber hinaus gehende Implikationen war Ricci nicht in der Lage aufzuweisen. Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gibt. Der eigentliche Clou an der Theorie des ungleichen Tauschs ist eigentlich folgender, dass entgegen des bürgerlichen Alltagsverstandes jeder Klassenkampf – je radikaler geführt, desto mehr – eben exogene Einflüsse auf die gesamte Welt hat. Wie die globale Ausbeuterklasse auch von lokalen Siegen ihrer Klassengenoss*innen profitiert, so trifft dies für das Proletariat auch zu. Je höher in den Zentren erkämpfte Löhne sind, desto niedriger ist die organische Zusammensetzung und umso schlechter funktioniert der Werttransfer aus der Peripherie in die Zentren. Der ungleiche Tausch ist damit nichts, was selbstständig neben dem Klassenkampf steht, er ist ein elementarer Bestandteil. Er verbindet die einzelnen Schicksale der Arbeiter*innen auf globaler Ebene, welche durch den Neoliberalismus zunehmend verwischt worden. Er ist damit aber eben kein Geheimrezept, sondern theoretische Fundierung einer Lehre, die Marxist*innen auch so geläufig sein müsste: Think globally, fight locally.

Literatur:

Ricci, A. (2023): The Political Implications of Unequal Exchange. Towards a Common Agenda for Global Social Movements. In: Capitalism Nature Socialism. Online First. DOI: 10.1080/10455752.2023.2281505.

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