Miniserie zu Value and Unequal Exchange in International Trade (2021)
Wie im letzten Artikel beschrieben, stellt die Theorie des ungleichen Tauschs eine theoretisch konsistente Erweiterung der marxistischen politischen Ökonomie dar; ihre Implikationen sind aber derart weitreichend, dass sie von vielen Sozialist*innen nur vorsichtig verwendet wird. Kritiker*innen behaupten, dass die Effekte des ungleichen Tauschs gar nicht groß genug seien, um internationale Entwicklungen schlüssig interpretieren zu können. Ohne empirische Untersuchung ist dieses Argument auch nicht zu widerlegen, womit wir zum Kern dieser kleinen Serie kommen: der für mich interessantesten marxistischen Studie des Jahres 2021. Es handelt sich um das Buch „Value and Unequal Exchange in International Trade – the Geography of global capitalist exploitation“ von Andrea Ricci von der Universität in Urbino, Italien. In dieser entwickelt Ricci ein Modell des ungleichen Tauschs und untersucht empirisch die nach diesem Modell geflossenen Wertströme aus der kapitalistischen Peripherie in die Zentren. Zwei Probleme stellten sich Ricci bei seiner Untersuchung: erstens das Transformationsproblem und die zweitens die marxistische Interpretation von Datensätzen bürgerlicher Ökonomie.
Mit dem BigMac das Transformationsproblem lösen
Das Transformationsproblem, welches bereits Generationen linker Wissenschaftler*innen beschäftigt, ist folgendes: Preise kann man direkt ablesen. Arbeitszeiten kann man mit der Stoppuhr messen. Aber Werte – und sowohl die Theorie des ungleichen Tauschs, wie die Überlegungen zur Durchschnittsprofitrate gehen ja gerade von einem Unterschied zwischen Wert und Preis aus – können nicht direkt gemessen werden. Sie repräsentieren auch nicht einfach Arbeitszeit, sondern gesellschaftliche durchschnittliche oder notwendige Arbeitszeit. Marxist*innen sind sich noch nicht einmal einig, ob der Wert bereits bei der Produktion entsteht, schließlich wird hier die Qualität der Ware hergestellt, oder ob sie der Zirkulation entspringt, da eine Ware, die sich nicht verkaufen lässt, auch gar keinen Wert darstelle. Der Wert einer Ware entsteht theoretisch durch Vergleich der in ihren vergegenständlichten Arbeit mit der aller anderen Waren auf dem (Welt)markt, wobei nicht einmal von vorneherein klar ist, welcher Anteil der Arbeit überhaupt wertbildend war. Es leuchtet ein, dass ein solches Problem weder exakt noch ganz allgemein noch exakt gelöst werden kann. Es reicht aus, problemspezifisch Näherungslösungen mittels verlässlicher Datensätze zu finden. Wie geht Ricci hier vor?
Der Schlüssel ist der BigMac, oder genauer: der Big-Mac-Incdex. Dieser wird seit 1986 von der Zeitung The Economist erhoben. Hierfür wird der Preis für einen Big Mac in der jeweiligen Währung eines Landes genommen und durch den Wechselkurs zum US-Dollar geteilt. Der Big Mäc vereint hierbei einige interessante Eigenschaften: Man bekommt ihn fast in jedem Land und er wird überall in beinahe standardisierter Qualität angeboten. Auf Grund der Zusammensetzung werden die meisten Zutaten regional erzeugt, der Preis ist in der Regel jedoch national gleich. Und er spricht überall eine breite Zielgruppe zwischen unterer und oberer Mittelschicht an, die ihn sich leisten können muss. Durch all diese Eigenschaften ist ein sehr simples, aber erstaunlich vielsagendes Maß für die Kaufkraftparität, also das Verhältnis von Preisen zu Warenwerten. Somit lässt sich somit ein grobes Maß für das Preis/Wert-Verhältnis finden.
Dies ist natürlich nur ein vereinfachtes Schema. Ricci muss zum einen berücksichtigen, dass beim internationalen Handel die Preise in unterschiedlichen Währungen ausgedrückt werden, die selbst in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Zum anderen ist der Big Mac zwar ein anschauliches Beispiel für die Kaufkraftparität, Ricci nutzt aber komplexere ermittelte Werte. Aber genau der Unterschied zwischen Wechselkursen und Kaufkraftparitäten ist der Kern der Untersuchung Riccis. („In fact, the persistent gap between current and PPP exchange rate is the necessary result of the contradiction, and it represents the visible manifestation of the systematic transfer of value from poorer to richer countries hidden under the apparently equivalent exchange of commodities in the capitalist global market.“)
Das zweite Problem war die Übersetzung der Daten. Die Daten mit denen Ricci arbeitet entstammen der Weltbank, dem Internationalen Währungsfond, der International Labor Organisation und der UNCTAD, der United Nations Conference for Trade and Developement. Diesen entnimmt er die Werte für Value Added (Verkaufspreis-Einkaufpreis in der Produktion), Wechselkurse und Kaufkraftparitäten. Ein paar Schritte, wie er diese an Input-Output-Analysen orientierten Datensätze an marxistische Ökonomie anpasst, werde ich im Anhang kurz anreißen. Geographisch teilt Ricci die Welt in drei Bereiche ein, die an die Weltsystemanalyse angelehnt sind: die kapitalistischen Zentren (die Wirtschaften Nordamerikas, West- und Mitteleuropas, sowie der starken südostasiatischen Staaten), die aufstrebende Peripherie (China, Russland und was man gemeinhin als Schwellenländer bezeichnet) und die Peripherie (im allgemeinen Sprachgebruach die „Dritte Welt“).
Ergebnisse
1. Die Größenordnung des ungleichen Tauschs
Seit 1990 stieg der internationale Wertfluss (als internationale Surplusausbeutung interpretierbar) um das Fünffache (von 704 Milliarden Dollar auf 3.924 Mrd. Dollar), wobei sich der Anteil innerhalb globaler Wertschöpfungsketten verachtfachte. Das Argument gegen den ungleichen Tausch, dass der globale Handel zu klein sei, um die großen Unterschiede zwischen kapitalistischer Peripherie und den Zentren zu erklären, wird zunehmend schwächer, wenn es denn je richtig war. Der relative Anteil des Wertflusses am Weltbruttoinlandsprodukt stieg von 3,1 auf 4,5%, wobei der mächtigste Anstieg nach der Zusammenbruch der Sowjetunion zu verzeichnen ist. Objektiv war der Ostblock somit ein begrenzender Faktor des westlichen Imperialismus.
2. Die Geographie des ungleichen Tauschs
Um die Größenordnung der Werttransfers durch den ungleichen Tausch zu verdeutlichen, sind hier die Pro-Kopf-Zahlen in US-Dollar dargestellt:
Es mag zunächst überraschen, dass die USA längst nicht mehr die größten Profiteure des Handelsimperialismus sind, sondern Europa. Mehr als 4.300 Euro (Dollar in Euro umgerechnet) pro Kopf wandern allein als Surplusausbeutung aus den weniger entwickelten Ländern nach Mitteleuropa, wozu hier auch Deutschland gezählt wird. Das macht allein für Deutschland 353 Milliarden Euro aus. Da nur 54% aller Deutschen erwerbstätig sind, sind das pro Erwerbsperson 8000 Euro. Das macht etwa 2/3 des gesamten Bundeshaushalts 2021 aus und liegt doppelt so hoch wie der gesamte Sozialetat der BRD. Um es nicht falsch zu verstehen. Natürlich kommt nur ein geringer Prozentsatz tatsächlich in der deutschen Arbeiter*innenklasse an. Das Gros bleibt bei den Kapitalisten, die das Geld verwenden, um den Vorsprung vor der Peripherie weiter auszubauen oder an den Finanzmärkten zu spekulieren. Aber wir können uns vielleicht vorstellen, wie hart die Klassenkämpfe hierzulande ausgetragen werden müssten, wenn diese zusätzliche Marge nicht bereitstünde. Umgekehrt wandert von jeder Person der Peripherie ein Wert von über 500 Euro in das Zentrum. Prozentual auf die geringen Löhne gerechnet, ist dies eine immense Summe, die auch dort zuvörderst der lokalen Bourgeoisie nicht zur Verfügung steht, um Investitionen für den globalen Wettbewerb zu tätigen. Darüber hinaus akkumulieren sich die jährlichen Beträge, sodass der Vorsprung des Zentrums immer weiter wächst.
3. Die Entwicklung des ungleichen Tauschs
Um die Entwicklung des ungleichen Tauschs zu analysieren, nutzen wir nicht die Absolutwerte, sondern den Anteil am Bruttosozialprodukt:
Während sich der Wert für die kapitalistischen Zentren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zunächst gesteigert hatte, verharrt er momentan konstant bei 8%. Wir sehen weiter, dass die Semiperipherie den Wertabfluss zunehmend bremsen konnte. Einen Beitrag hierzu leistet beispielsweise China durch die Entwicklung von der Werkbank der Welt in ein Hochtechnologieland. Aber auch die Türkei und das sich nach 1990 im freien Fall befindliche Russland konnten netto ihren Wertabfluss verringern. Dies geschieht teilweise auch auf Kosten der Peripherie, deren Abstand zur Semiperipherie seit dem Zerfall des Ostblocks enorm angestiegen ist. Diese Länder sind nicht nur vom Imperialismus der kapitalistischen Kernstaaten, sondern auch der sich entwickelnden Ökonomien der Semiperipherie betroffen.
4. Abhängigkeit der Ökonomien vom ungleichen Tausch
Ricci führt einen weiteren Index ein, um die Bedeutung des ungleichen Tauschs zu verdeutlichen, den Unequal Exchange Dependency Index. Dieser von Paul Baran inspirierte Index beschreibt den Anteil des ungleichen Tauschs an der kompletten Kapitalakkumulation:
Wir sehen, wie stark die europäische Wirtschaft von den Extraprofiten aus der Peripherie abhängig ist, sogar weit stärker als die USA und Kanada. Am stärksten negativ beeinflusst sind die Wirtschaften Nordafrikas und Südostasiens. Auch Russland ist ein weit stärker vom Imperialismus betroffenes Land als dass es selbst ökonomisch imperialistisch auftreten kann. Und wir sehen, dass China sich langsam aus den Fesseln der imperialistischen Akkumulation befreit.
5. Die Entwicklung einzelner Regionen
5.1 Mitteleuropa und Nordamerika
Vergleichen wir die Entwicklung der Vereinigten Staaten und Kanada (orange) mit der Mitteleuropas (blau), fällt ins Auge, wie sich die Kurven ab der Euro-Einführung 2002 deutlich auseinander entwickeln. Diese führte innerhalb weniger Jahre zu einer Verdopplung der Extraprofite aus der kapitalistischen Peripherie, während die Vereinigten Staaten in der gleichen Zeit stagnierten. Die Kurve für Mitteleuropa ist natürlich ein Konglomerat sehr unterschiedlicher Wirtschaften und der Wert für Deutschland dürfte beträchtlich höher liegen. Wenn also gerade die Nationalisten den Euro kritisieren, dann vergessen sie, dass dieser offenkundig das erfolgreichste imperialistische Projekt Deutschlands aller Zeiten war.
5.2 China
In der Entwicklung Chinas lassen sich sehr charakteristisch die einzelnen Phasen der Wirtschaftspolitik ablesen. Verkündete Deng Xiaoping 1992 die „Kombination von Wirtschaftsplanung und Marktwirtschaft“, infolge derer der private Sektor massiv ausgedehnt wurde und China zur „Werkbank der Bank“ avancierte, so sieht man in den letzten zehn Jahren die Folgen zweier unterschiedlicher Entwicklungen. Zum einen den Aufbau der eigenen chinesischen Hightech-Industrie, was die organische Zusammensetzung der chinesischen Industrie steigert und so die Extraausbeutung verringert; zum anderen die eigene Surplusausbeutung von Staaten der Peripherie, z.B. in Afrika, welche sich positiv auf das Gesamtergebnis auswirken. Man kann lange darüber streiten, ob China eher kapitalistischen oder eher sozialistischen Charakter, aber die Beendigung der Abführung der Extraprofite an die Zentren ist eine Leistung, die beispielsweise Indien nicht geglückt ist und die ohne die ein weiterer sozialistischer Aufbau schwer denkbar wäre.
5.3 Russland
Auch die Daten Russlands zeichnen die Geschichte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erkennbar nach. Während zunächst das Volkseigentum verschleudert wurde und Russland nicht weniger als 558% des Bruttoinlandsproduktes ans Ausland transferierte, stieg der Wert zu Ende der Jelzin-Ära nochmals auf fast 100% an. Genau diese Entwicklung stoppte Putin, indem er den Oligarchen Handschellen anlegte, staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur vornahm und so tatsächlich den Werttransfer ins Ausland nach und nach verringern konnte. In dieser Phase genoss Putin die Zustimmung der Bevölkerung, welche die praktischen Konsequenzen dieser Politik materiell erfuhr. Allerdings ist auch zu sehen, dass Putins konfrontative und auf Rohstoffexporte basierende Politik nach dem kurzen Medwedew-Intermezzo zum umgekehrten Trend führte. Die Folge: steigende Skepsis in der Bevölkerung und ein immer undemokratischeres Vorgehen der Regierung.
Zusammenfassung:
Andrea Ricci hat in seiner Arbeit das Transformationsproblem sicher nicht vollständig analytisch gelöst, aber er kann begründete Schätzungen über den Umfang des ungleichen Tauschs abgeben. Und die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, wie stark die Bourgeoisie des globalen Nordens vom globalen Süden profitiert.
Riccis Modell ist einfach, schlüssig, aber nur eine von vielen Näherungslösungen an das Transformationsproblem. Interessant wäre die Analyse durch weitere Methoden, um die Schätzung qualitativ beurteilen zu können. Unterscheidet sich das Ergebnis stark von der Methode? Wie hoch ist die Fehlertoleranz der Wert? Liegen die Schätzungen Riccis eher am oberen oder unteren Rand möglicher Lösungen des Transformationsproblems. Folgt man der Methodik Riccis, so lässt sich die Theorie des ungleichen Tauschs aus der marxistischen Analyse jedenfalls nicht mehr wegdenken.
Ein Kommentar