Isaac-Deutscher-Preis 2023: Heide Gerstenbergs „Market and Violence”

⋄ Der Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preis wurde in diesem Jahr an Heide Gerstenbergers Buch Market and Violence vergeben.

⋄ Gerstenberger ist Professorin an der Universität Bremen und arbeitet schwerpunktmäßig zur
Überwindung der Ancien Regimes in Europas, zur ursprünglichen Akkumulation, zur staatlichen Armenpolitik, zu Problemen der Globalisierung und zum Zirkulationsproletariat.

⋄ In ihrem Buch versucht sie plausibel zu machen, dass die kapitalistische Ausbeutung neben dem Lohnverhältnis zwischen rechtlich gleich gestellten Personen essentiell auf der unmittelbaren Gewalt gegenüber juristisch ungleichen Personen beruht.

⋄ Obwohl Gerstenberger ihre Geschichtsauffassung gut erzählt, krankt das Buch an einer Enttheoretisierung der Kapitalismusanalyse zugunsten eines naiven Realismus.

Heide Gerstenberger von der Universität Bremen hat in diesem Jahr als erste Frau seit 1986 und erste*r deutsche*r Autor*in überhaupt den bekanntesten marxistischen Wissenschaftspreis – den Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preis – gewonnen. In ihrem Buch Market and Violence, der englischen Übersetzung von Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus (2019)beschreibt sie, wie der Kapitalismus in allen seinen Phasen, von der ursprünglichen Akkumulation bis zum entwickelten Imperialismus immer fundamental auf Gewalt beruhte, und zwar nicht nur im Sinne eines passiven Herrschaftsverhältnisses, sondern in Form von unmittelbarer, blutiger und historisch einmaliger Gewalt. Eine Rezension.

Heide Gerstenberger und der Deutscher-Preis

Die 1940 geborene Heide Gerstenberger lehrt seit 1974 als Professorin für die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates an der Universität Bremen, an deren Gründung sie mit beteiligt war. Schwerpunktmäßig hat sie sich mit der Überwindung der Ancien Regimesin Europas, der ursprünglichen Akkumulation, der staatlichen Armenpolitik, Problemen der Globalisierung und dem Zirkulationsproletariat in der Handelsschifffahrt auseinandergesetzt. Politisch ist sie der Bewegungslinken zuzuordnen, sitzt im wissenschaftlichen Beirat von attac und wird von vielen Strömungen der Linken gern zu Themen wie Staat, Gewalt und Geschichte konsultiert. Die neueren und umfangreichen deutschsprachigen Veröffentlichungen erschienen im Westfälischen Dampfboot, einem anarchistisch bis linkssozialistischen Verlag. Politisch geprägt wurde sie von der Staatsableitungsdebatte, die vom Ende der 60er Jahre den Staat als Notwendigkeit aus der kapitalistischen Klassengesellschaft herleiten wollte. Den sehr abstrakten Herleitungsversuchen setzt sie seit nunmehr gut 50 Jahren die konkreten historischen Prozesse entgegen, welche die meisten dieser theoretischen Konstruktionen nach Gerstenbergers Auffassung weitestgehend widerlegen würden.

Der Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preis wird seit 1969 für herausragende marxistische Werke von der New Left Review und der Historical Materialism ausgelobt. Die Preissumme beträgt 500 Pfund. Die Jury wird aktuell von Gilbert Achcar, Alex Callinicos, Alejandro Colas, Ben Fine, Rob Knox, Chun Lin, Esther Leslie, Alfredo Saad-Filho, Chris Wickham und Lea Ypi besetzt. In diesem Jahr kam es zu einem kleinen Eklat, als der Nominierte Soren Mau die Nominierung mit der Begründung ablehnte, dass er nicht ein weiterer in einer langen Folge von Männern als Preisträger erscheinen wolle. Tatsächlich war die letzte Preisträgerin 1986 Ellen Meiksins Wood. Denkt man an die vielen einflussreichen marxistischen Autor*innen seither – um nur einige zu nennen: Radhika Desai, Frigga Haug, Silvia Federici, Chantal Mouffe, Alessandra Mezzadri, Tithi Bhattacharya, Gayatri Chakravorty Spivak, Jodi Dean, Selma James oder natürlich die diesjährig nominierte Nancy Fraser – mutet dieser Sachverhalt tatsächlich etwas seltsam an. Ob der Rücktritt Maus aus der Nominiertenliste jedoch hier ein gutes Werk getan hat, kann diskutiert werden.

Die Idee des Buches

Die Kernthese von Heide Gerstenberger in Market and Violence lautet kurz und knackig: Gewalt gehört zur kapitalistischen Gesellschaft. Und zwar nicht nur in seinen Frühformen, in der ursprünglichen Akkumulation etwa, oder in seinen Verfallsformen – dem entwickelten militarisierten Imperialismus –, sondern in jeder seiner Entwicklungsformen. Dass die personale Herrschaft des Menschen über den Menschen durch Verträge zwischen Besitzern der Produktionsmittel und Besitzlosen ersetzt wurde, habe nicht zu einer Abkehr von Gewalt geführt, sondern im Gegenteil zu neuen Dimensionen von Gewalt, die in früheren Gesellschaften undenkbar gewesen wären. Und wo immer es gehe, versuche die Bourgeoisie den freien Vertrag zu unterlaufen, Zangsarbeitsregime zu schaffen und die Reproduktionskosten unter ihr existenzsicherndes Minimum zu drücken und die Arbeiter*innen wortwörtlich zu verschleißen. Und um es zu präzisieren, es geht hier nicht nur um Gewalt im Sinne eines Herrschaftsverhältnisses mit latenter, drohender oder intrinsischer Gewalt. Es geht um direkte, teils unbeschränkte Gewalt. Gewalt setzt Gerstenberger hier mit unbeschränkter – sprich, auch vertraglich unbeschränkter – Gewalt gleich. Ihren Schwerpunkt legt sie dabei auf Frankreich, Großbritannien, die USA und Deutschland, also die Länder, die sie bereits in früheren Studien eingehender behandelt hatte.

Das ordnet sich sehr organisch in Gerstenbergers generelles Schaffen ein, das schematische und teleologische Auffassungen eines Aufstiegs der Klassengesellschaften von konkreten Gewaltausübungen zu abstrakteren Herrschaftsverhältnissen zurückweisen will. Sie weist die Vorstellung, dass der Kapitalismus sich im Wesentlichen auf juristische Gleichstellung stütze und durch diese die Herrschaft der besitzenden Klasse über die besitzlose konstituiere, als logisch plausibel, aber historisch unhaltbar zurück. Im Gegensatz zu diesem Kernelement marxistischer Theorie sei die juristische Ungleichheit zu jeder Zeit unhintergehbar einflussreich gewesen. Wo dann mal juristische Gleichheit geherrscht habe, sei sie nicht durch das Kapital zur Optimierung der Ausbeutungsbedingungen gesetzt, sondern von den abhängigen Klassen erkämpft worden.

Die zugrunde liegende Gesellschafts- und Geschichtsauffassung muss man dabei dankenswerterweise nicht als dem Buch implizites extrahieren, sondern Gerstenberger legt in mehreren wenigsetigen theoretischen Einschüben zwischen den Kapiteln ihre Prämissen offen.

Der narrative Bogen: die Gewalt der ursprünglichen Zirkulation

Gerstenberger beginnt ihre Darstellung mit einem denkwürdigen Sachverhalt. Als die iberischen Seefahrer auf der Suche nach einem neuen Handelsweg nach Indien in den Amerikas aufschlugen und eine handelsunwillige indigene Bevölkerung vorfanden, drehten sie nicht einfach um, um an anderer Stelle ihr eigentliches Geschäft zu betreiben: den Handel. Sie raubten Tempel und Städte aus, stahlen das Land, nahmen es unter ihre Herrschaft und töteten bewusst hunderttausende, unbewusst mehrere Millionen Indigener. Der Kapitalismus beginnt also mit dem Typus des Handelskriegers, der sich der Verzahnung von Handel und Gewalt bewusst ist. Überhaupt zeigt sie, dass der Handel, der Transport einer Ware über eine größere Distanz, vor der kapitalistischen Herrschaft alles andere als eine selbstverständliche Sache war, sondern dass dieser erst militärisch durchgesetzt werden musste. Man könnte also von einer ursprünglichen Zirkulation sprechen. Der Handel kam nicht mit einem natürlichen Gesellschaftsvertrag auf die Welt. In dieser Zeit werden Piraten bewusst von Königen finanziert, um den Handel des Konkurrenten zu unterbinden. Er wurde bewaffnet durchgesetzt. Es kristallisieren sich auch zwei Modi der Gewalt heraus. Die beschränkte Gewalt zwischen sich anerkennenden Staaten und die unbeschränkte Gewalt gegen alles (noch) Nichtstaatliche. Der unbeschränkten Gewalt konnte die Peripherie nur dadurch Einhalt gebieten, indem sie entweder selbst die staatlichen Strukturen ausbildete, die den Kapitalismus durchsetzten oder als Kolonien unter den Schutz der neuen Kolonialherren fielen. Eine Unterscheidung zwischen Kolonialstaat und bürgerlichem Nationalstaat findet Gerstenberger darin, dass der Kolonialstaat tatsächlich ein Regime zur Förderung der privaten Aneignung de Reichtums der Kolonie ist, während in den Kernländern die Frage der Reproduktion der Ware Arbeitskraft eine maßgebliche Rolle spielte. Doch auch im Inneren musste die Zirkulation sich mit Gewalt gegen Gewalt erst behaupten. Fernstraßen waren bis ins 19. Jahrhunderts hinein mit Räubern aller Art gesäumt, von denen nicht wenige im Auftrag mächtigerer Fürstenhäuser arbeiteten, um Widersacher einzuschüchtern oder die Kriegskasse aufzubessern. Die postrevolutionären Bourgeoisien bauten den Militär- und Polizeiapparat nicht selten unter dem Vorwand des Schutzes der Handelswege aus.

Doch auch an der These, dass während der ursprünglichen Akkumulation zwar mittellose, verarmte und um des Überlebens Willen auf die auch nur prekärste Form der Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesene Lumpen entstanden, diese jedoch wenigstens rechtliche Gleichstellung besaßen, versucht Gerstenberger zu rütteln. Viele der frühkapitalistischen Arbeitsverhältnisse waren alles andere als freie Verträge zwischen freien Menschen. Und da war die Sklaverei nur die extremste Form eines riesigen Spektrums unfreier Arbeit, die gleichfalls die Löhne der freien Arbeiter*innen mit senkte. Darüber hinaus wurde die Existenz ungleicher und unfreier Arbeiter*innen dazu genutzt, die Rechte der freien Arbeiter*innen in Frage zu ziehen. Gerstenberger nennt hier die französische Herrschaft in Algerien als Beispiel, wo zunächst nur Algerier vorsorglich interniert werden konnten, bis Frankreich passend zur staatsbürgerlichen Gleichstellung der Kolonisierten die Möglichkeit der präventiven Internierung auf alle Franzosen ausdehnte. Oder Indien, wo Großbritannien nicht nur ein öffentliches Zivil- und Strafrecht aufsetzte, sondern gleichsam die Firmen separate Gerichte gegenüber ihren Arbeiter*innen eröffneten, was zu einer Doppel- und Dreifachgesetzgebung führte. Diese Unfreiheit konnte letztendlich nur durch Waffengewalt hergestellt werden; sei es die Waffengewalt der europäischstämmigen Nationen gegen Arbeiter*innen und Indigene nach innen oder gegen Kolonialisierte nach außen. Gerstenberger führt sehr breit aus, dass nach der Abschaffung der Sklaverei ein breites Spektrum an Ersatzsklaverei geschaffen wurde, sei es durch rassistische Gesetzgebung, Schuldknechtschaft oder einfach illegale Schattenwirtschaft begünstigt.

Kein Ende der Gewalt

Das Ende der Gewaltherrschaft des kolonialen Zeitalters des Kapitalismus wurde durch nicht weniger eingeläutet als die Gewalt der beiden Weltkriege und setzte wiederum neue Gewalt in die Welt. In die Weltkriege wurden die Proletarier eingezogen – ohne Vertrag und Möglichkeit des Rücktritts. Sie wurden mit dem Tode bestraft, wenn sie sich nicht willig zeigten, ihr Leben zu riskieren, um andere Proletarier zu töten. Und da jeder Krieg seine ökonomischen Ursachen und Voraussetzungen und seine ökonomischen Folgen hat, muss der Kriegsdienst als dramatischste Form der Zwangsarbeit für das Kapital angesehen werden.

Aber auf der anderen Seite kamen die Proletarier, die heimkehrten, als in der Gewaltanwendung geschulte Arbeiter*innen zurück. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel so Russland aus dem alten Kolonialregime heraus und nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpften sich die afrikanischen und asiatischen Kolonien ihre Unabhängigkeit. In den kapitalistischen Zentren hingegen sei als Sonderweg die kapitalistische Konkurrenz domestiziert worden. In einem nichtlinearen Prozess seien Gewerkschaften anerkannt worden und die explizite Gewalt auf Situationen beschränkt worden, in denen das Gewaltmonopol des Staates in Gefahr zu geraten schien. Die vormals kriminalisierten Arbeitskämpfe wurden zunehmend verrechtlicht, allerdings – so betont Gerstenberger – nicht aus Gründen der effektiveren Ausbeutung, sondern als Folge nicht gewaltsamer Klassenkämpfe. Manchmal fand die Domestizierung auch nicht als Zugeständnis an die Arbeiter*innenklasse statt, sondern, wie in Deutschland oder Italien, über faschistische Regime. Darüber hinaus dauerte die direkte Gewalt in der kapitalistischen Peripherie, sei sie direkt oder indirekt durch Stellvertreter ausgeübt worden, noch bis heute an.

Während die Domestizierung als so etwas wie die Beschränkung der Ausbeutung angesehen werden kann, hielt die unbeschränkte Ausbeutung, und das ist für Gerstenberger das zentrale Charakteristikum explizit kapitalistischer Gewalt, in der kapitalistischen Peripherie an und unterlag im Vergleich zum Kolonialismus nur einigen Wandlungen. Wo Kleinbauern keinen Zugang zu regulären Krediten haben, müssen sie sich an mafiöse Strukturen ausliefern. In vielen Ländern des Globalen Südens wurde die Zwangsarbeit zwar verboten, hielt aber ohne hinreichende staatliche Kontrollorgane und teilweise bewusster Kooperation noch lange an. Sexarbeiter*innen, Wanderarbeiter*innen, migrantisierte Arbeiter*innen; immer wieder nutzten Ausbeuter Marginalisierungen, dass nicht so genau hingeschaut wurde, insbesondere, wenn die Überausbeutung im Interesse der Mehrheitsgesellschaft stattfand. Und häufig gibt es immer noch die einseitige Unfreiheit, dass die Arbeiter*innen nicht von ihren Verträgen zurücktreten dürfen, während ihnen gleichzeitig jederzeit mit Entlassung oder Lohnverweigerung gedroht werden kann. Auf Gegengewalt der unterdrückten Arbeiter*innen reagierten die herrschenden Klassen unter Toleranz der westlichen Staatenwelt auch immer wieder auf faschistische Regierungen. Manchmal, wie in China, werde die Überausbeutung der Arbeiter*innen als deren eigenes Interesse und Investment in die Zukunft verkauft. Und in noch anderen Fällen bleibt die explizite Gewalt gegen Arbeiter*innen fast unsichtbar, etwa wenn ihre Leben durch giftige Produktionsweisen und mangelnde Schutzeinrichtungen in Fabriken erheblich verkürzt werden.

Kritik

Gerstenbergers Arrangement konkreter Formen kapitalistischer Gewalt liest sich flüssig und folgt einem roten Faden. Gleichsam verweigert sich das Buch eines Beitrags zur Theoriebildung. Gerstenbewerger Materialismus bewegt sich scharf an der Grenze zum naiven Realismus, der zwischen Wesen und Erscheinung gar keine Differenz mehr erkennen kann. Das Ergebnis, dass selbst die bürgerliche Rechtsgleichheit nicht ein Geschenk der herrschenden Klassen sei, sondern von unfreien Arbeiter*innen erst erkämpft werden musste, nimmt sich nur auf den ersten Blick radikal aus. Gerstenberger vermag es nämlich nicht mehr zu erklären, warum dann die bisherigen innerkapitalistischen Klassenkämpfe zwar diese erkämpfen konnten, aber andere sozialistische Ziele auf der Strecke blieben. Irgendetwas Wesenseigenes des Kapitalismus müsste es ja doch geben, dass er zumindest mit der rechtlichen Gleichstellung der Ausgebeuteten gut leben kann, aber nicht mit veränderten Eigentumsverhältnissen.

Während es allerdings Winants Buch über die Tranformation des Rust Belts – der letztjährige Deutscher-Preis-Träger (Näheres hier) – gelang, die vielfältigen Erscheinungsformen aus auf Besitz, Race und Gender basierenden Ungleichheiten stimmig zu theoretisieren und gleichzeitig narrative Kraft zu entfalten, so geht Gerstenbergers Buch den Weg der Enttheoretisierung der Geschichte. Diese schlägt sich zum Beispiel in begrifflicher Unschärfe nieder, wenn Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft zwar als getrennte Phänomene betrachtet werden, aber die Differenz nicht expliziert wird und auch die Beziehung bleibt weitestgehend offen. Gerstenberger spart nicht mit Kritik an marxistischen Wert-, Imperialismus- und Staatstheorien, aber selbst bringt sie nur deskriptive Anekdoten gegen Theoriefragmente hervor, ohne jeweils wirklich logisch zwingende Einsprüche zu erheben. Ein kleines Beispiel:

„Precisely because this is so [Anm. SoC: die unterschiedlichen Lebensbedingungen ausgebeuteter Menschen in der Welt], it is impossible to justify the theoretical construct of a global proletariat. If a child knocking stones in an Indian quarry, a worker constantly handling poison in a rose plantation in Ecuador, or a captive sailor on an Indonesian fishing boat are all indiscriminately assigned to the theoretical construct of a global proletariat, whose rage about their conditions can be heard in a ‘cry’ (Holloway 2005, p. 16), they are then not only being exploited by capital owners and oppressed or ‘overlooked’ by politicians, but they are also being disregarded by theoreticians.“

S.522.

Aus dem Sachverhalt, dass ein Kind in einem indischen Steinbruch ausgebeutet werde, während ein ecuadorianischer Arbeiter auf einer Rosenplantage ausgebeutet werde, soll ein Argument dafür sein, dass es so etwas wie ein globales Proletariat nicht gäbe? Vielmehr würden sich Marxist*innen, die identifizierten, dass beide sowohl für Lohn zur Reporduktion ihrer Arbeitskraft, in Trennung von den Mitteln ihrer Reproduktion und für einen Weltmarkt produzieren, wo ihre Arbeit mit der abstrakten Arbeiter gesamten Welt verglichen wird, dass also beide aus sehr ähnlichen Gründen Arbeiten verrichten, die sie privat nicht täten, die Menschen „missachten“. Die Argumentstruktur ist hier: Weil zwei Phänomene unterschiedliche Erscheinungsformen haben, können sie kein wissenschaftlich erschließbares gemeinsames Wesen haben. Damit das Argument standhalten kann, müssen als Erscheinung und Wesen in eins fallen. Ohne diese Differenz gibt es nach Marx aber auch keine Wissenschaft mehr und wer alleine in die Naturwissenschaften schaut, wo beispielsweise die Physik hinter den sehr unterschiedlichen Flugkurven eines Steins und eines Blattes die gleiche Gravitation am wirken sieht, der muss diesem naiven Realismus widersprechen.

Durch den Verzicht auf eine theoretische Einordnung kann Gerstenberger ihr Ziel, Gewalt und juristische Ungleichheit als kapitalistisch immanent nachzuweisen, auch nur durch die Fülle deskriptiven Materials nahe legen und keinesfalls schlüssig konzeptualisieren. Den deskriptiven Teilen des Buches fehlt es darüber hinaus der Neuigkeitswert. Manche Dinge hat Gerstenberger aus eigenen früheren Darstellungen übernommen, wo sie tatsächlich für eine deutschsprachige Leser*innenschaft erstmalig lesbar waren und das Faible für die Arbeitsverhältnisse in der Schifffahrt bricht häufiger mal durch; aber das Buch selbst bietet wenig Unbekanntes.

Zusammenfassung

Heide Gerstenberger gelingt es, ihren Punkt, dass explizite Gewalt und juristische Ungleichheit der kapitalistischen Ausbeutung inhärent sind, auf eindrucksvolle Art und Weise durch eine Fülle von Beispielen und Studien plausibel zu machen. Das Buch reiht sich ein in das momentan angesagte Genre der Globalgeschichten. Stellenweise erinnert es stark an die Epochalwerke Hobsbawms. Der Mehrwert des Buches liegt sicherlich darin, dass die Explizierung kapitalistischer Gewalt zur Reflexion darüber einlädt, welche ideologischen Formen und materiellen Interessen diesen eigentlich skandalösen Sachverhalt kontinuierlich verschleiern. Und mit der Darstellung der Bedeutung formaler Ungleichheit und nicht formell unter das bürgerliche Recht subsummierter Gewalt stellt sie natürlich schematistische marxistische Ansätze vor einige Probleme.

Allein, Gerstenberger gelingt selbst keine theoretische Beschreibung (um fair zu sein, wird sie auch gar nicht versucht) der Zusammenhänge zwischen bürgerlichem Recht und illiberaler Gewalt. Vielmehr wird aus der Pluralität der Erscheinungen von Gewalt auf eine theoretische Nichterschließbarkeit kurzgeschlossen. Nicht nur die einzelnen historischen Sachverhalte werden mehr oder weniger konzeptlos de*r Leser*in hingeworfen, auch kritisierte Theorien werden nur fragmentarisch abgebügelt nach dem Motto: „Theorie A kann mit Aussage B auf Phänomen C des Sachverhalts D auf den ersten Blick keine überzeugende Antwort liefern.“ Das ist von einer lauteren wissenschaftlichen Argumentation leider meilenweit entfernt.

Zusammenfassend lässt sich das Buch mit drei Schlagworten beschreiben: postmarxistisch, postkolonial, poststrukturalistisch. Damit ist das Buch auf alle Fälle ein Zeitdokument, das die Entwicklung der akademischen Linken exemplarisch repräsentiert und damit im Kanon exponiert. Ob es allerdings für einen Preis qualifiziert, der gerade herausragende Werke marxistischer und historisch-materialistischer Theoriebildung prämieren will? Da darf man dann doch ein großes Fragezeichen anhängen. Ein kleiner Treppenwitz zum Schluss: ausgerechnet die letzte Deutscher-Preisträgerin Woods in ihrem Buch Retreat from Class genau vor diesen Einflüssen gewarnt hat.

Literatur:

Gerstenberger (2019/2022): Market and Violence. The Functioning of Capitalism in History. Übersetzt von Niall Bond. Boston: Brill.

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