Alt, krank, arm … aber relativ gut versichert

⋄ Der Gewinner des diesjährigen Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preises ist das Buch The Next Shift von Gabriel Winant.

⋄ Winant bechöftigt sich darin mit dem sozioökonomischen Wandel der Steel City Pittsburgh, in der heute die Krankenhauskette UPMC der größte Arbeitgeber ist.

⋄ Das Grundkonzept des Buches ist das der ungleichen Entwicklung des Proletariats in Raum und Zeit, aber auch in Geschlecht und Ethnizität.

⋄ Winant gelingt es, dass Verbindende des Proletariats trotz aller Heterogenität darzustellen und Schicksale anhand zentraler Motive in Beziehung zu setzen.

The Next Shift ist ein würdiger Preisträger und hat die ebenfalls nominierten Silvia Federici, Ilya Budraitskis und Kolja Lindnder mit Recht ausgestochen.

Die Weihnachtszeit ist die Zeit, in der man seine Liebsten mit preisgekrönter marxistischer Literatur bescheren möchte. Letzterer mangelt es leider an Preisen. Eine Ausnahme macht der seit 1969 vergebene und mit 500 Dollar dotierte Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preis (näheres siehe hier). Dieses Jahr darf sich Gabriel Winant in die Riege namhafter Preisträger*innen wie David Harvey, Eric Hobsbawm oder Terry Eagleton einreihen. Sein Buch The Next Shift. The Fall of Industry and the Rise of Health Care in Rust Belt America über die Transformationsprozesse im amerikanischen Rust Belt konnte die Jury überzeugen.

Wir werfen einen gemeinsamen Blick in das Buch, besprechen aber neben dem Gewinner auch die nomminierten Bücher Ilya Budraitskis´ Dissidents among Dissidents Ideology, Kolja Lindners Marx, Marxism and the Question of Eurocentrism und Silvia Federicis Patriarchy of the Wage. Vielleicht findet die eine oder andere Leser*in noch einen Weihnachtswunsch oder eine Geschenkidee.

Vom Rust Belt zum Care Belt

Der Spitzname der amerikanischen Stadt Pittsburgh ist Steel City. Doch der größte Arbeitergeber der Hauptstadt Pennsylvanias ist nicht etwa ein Stahlwerk, sondern das UPMC, das University of Pittsburg Medical Center. Beschäftigte die Stahlbranche 1950 noch 200.000 Arbeiter*innen und der Caresektor 20.000, so haben sich die Verhältnisse mittlerweile genau umgekehrt. Auf dem USS Steel Tower prangen an Stelle des Namens des einstigen Industriegiganten heute die Buchstaben UPMC. Dabei beschäftigt der Krankenhauskonzern nach Steuerangaben keinen einzigen Angestellten. Alle Pfleger*innen, Ärzte oder Reinigungskräfte sind in einem komplizierten Geflecht aus Subunternehmen angestellt. Wer sind also diese Arbeiter*innen, “who do not exist” und wo kommen sie her?

Gabriel Winant ging der Frage nach, wie der drastistsche Umschwung im Rust Belt vonstatten ging und was er für die Klassenformation – auch unter Berücksichtigung der Kategorien Race und Gender – bedeutet. Die Studie könnte auch für uns in Deutschland, wo ähnlich radikale Transformationsprozesse in den einstigen Kohleregionen bevorstehen, interessant sein.

Das Konzept des Buches

Die Grundlage des amerikanischen Gesundheitssystems ist nach Winant der New Deal des Präsidenten Roosevelt,mit dem ab 1938 Wirtschaftskrise überwunden und Vollbeschäftigung garantiert werden sollte. Der Deal sorgte auch dafür, dass die zuvor zwar militante, aber schlecht organisierte Arbeiter*innenklasse in die großen Gewerkschaften strömte. Hier erhielten sie als Belohnung für die zunehmende Disziplinierung Alleinverdienerlöhne und soziale Absicherung, während der McCarthyismus die Belegschaften von den verbliebenen Sozialist*innen säuberte. In dieser Zeit wuchs der Mythos der amerikanischen Stahlarbeiter, die guten Lohn für harte Arbeit erwarten konnten und eine neue Mittelschicht bildeten.

Doch das Glück währte nicht lang. Die Lohnanstiege ließen mit der Zeit auch die Stahlpreise ansteigen, weswegen immer mehr Teile der Produktion ins Ausland verlagert wurden. Übrig blieb eine überalterte, körperlich kaputte, aber gut versicherte Gesellschaft, welche die zahlungskräftige Nachfrage nach dem Gesundheitssektor schuf. Das zentrale Konzept Winants ist hierbei das der ungleichen Entwicklung der Arbeiter*innenklasse. Der Begriff ist eigentlich der Weltsystemanalyse entlehnt, welche die globale Hierarchie der Nationalstaaten aus räumlich und zeitlich unterschiedlicher Entwicklung herleitet. Winant wendet dieses Konzept nun auf die Arbeiter*innenklasse Pittsburghs an. Die Ungleichheit ist hierbei nicht nur zeitlich und räumlich zu verstehen, sondern eben auch im Hinblick auf Race und Gender. So unterliegen natürlich alle Lohnabhängigen den gleichen Verwertungsprinzipien des Kapitals, die konkrete Ausgestaltung nimmt sich von Ort zu Ort, Geschlecht zu Geschlecht, Hautfarbe zu Hautfarbe sehr unterschiedlich aus. Die Verbindung aus Intersektionalismus und Imperialismustheorie ist auf jeden Fall originell. Und dass sie fruchtbar ist, zeigt das Buch.

Die Methode

Wissenschaftlich gesehen ist The Next Shift ein Oral-History-Buch. Winant hat selbst hunderte von Interviews, gerade im Caresektor geführt. Aber er sichtete auch die Transkripte aus über hundert Jahren Sozialforschung im Zentrum Pennsylvanias. Diese analysierte er unter der Fragestellung der Klassenformation und hob so einen impliziten Schatz, der in den größtenteils der bürgerlichen Forschung entstammenden Interviews schlummerte.

Alle Oral-History-Fragmente werden zum Sprechen gebracht, indem sie über die Kategorien Class, Race und Gender in ihrer zeitlichen Entwicklung trianguliert werden. Was sagt ein ein weißer Arbeiter 1920, 1950 und 2010? Was eine afroamerikanische Arbeiterin in diesen Jahren? Und wie stehen die Aussagen des weißen Arbeiters von 1950 in Zusammenhang mit denen der afro-amerikanischen Arbeiterin sechzig Jahre später? Dass Winant seine Fragen so stellen kann, zeigt auf, dass das Proletariat trotz aller Heterogenität eine gemeinsame Geschichte teilt, die bis in die letzten Winkel miteinander verflochten ist.

Take Aways

Die Methode führt zu einigen wirklich interessanten Einsichten. Zum Beispiel räumen die Interviews mit einigen vulgärfeministischen Vorurteilen über die weiße und männliche Herrschaft auf. Wenngleich natürlich die männlichen Brotverdiener technisch gesehen das Geld auf das Konto überwiesen bekamen, zehrte der Job in den Stahlwerken an der Gesundheit. Die Angst davor, in diesen Werken zu sterben, bearbeitete ständig die Nerven. An den High Schools vermittelte man den Kindern bereits früh, dass die Faulen eines Tages als Kollegen ihrer Eltern enden würden. Nach Winant war die Frau nur formal vom Mann abhängig, beide waren als gemeinsames Reproduktionssystem von heteropatriarchalen Funktionsweise des Kapitalismus abhängig.

Beeindruckend ist auch, dass die Arbeiter*innen bereits in den 1950ern, als die Stahlrproduktion ihren Höhepunkt erreichte und die Tarifverträge einen bescheidenen Massenwohlstand garantierten, das Ende und die Trostlosigkeit der Stahlindistrie vorhersahen und zumindest ihren Kindern zu Alternativen rieten. Dies entkleidet die Verkürzungen der Rechten, dass Arbeiter*innen rücksicht- und voraussichtslos – auch auf Kosten des Planeten – ihre Arbeitsplätze zu retten versuchten.

Geradezu zynisch ist die Tatsache, dass eine Fraktion der Arbeiter*innen fast überhaupt keinen Gesundheitsschutz genoss. Die Careworker*innen selbst. Nach den erfolgreichen Streiks Ende der 50er wurden dutzende Krakenhäuser aus dem Boden gestampft und die größtenteils verfügbare schwarze, wie weibliche Arbeitskraft aufgesaugt. Diese fanden sich in schlecht bezahlten und schlecht versicherten Jobs wieder. Teilweise behandelten private Krankenhäuser nicht einmal schwarze Patient*innen, selbst wenn diese versichert waren oder zahlen konnten. Auch galten Care-Arbeiter*innen lange Zeit nicht als gewerkschaftsfähig. Sie mussten sich wild, militant und mit hohem Risiko organisieren, was eine paradoxe Situation in den Krankenhäusern schuf. Während die Werbepropaganda das Bild das Krankenhaus als eine Art Familie mit Arzt im Zentrum als fürsorglichem Vater, waren die Klassenauseinandersetzungen härter als in den Stahlwerken. Kein Wunder, schließlich machten die Lohnkosten im reproduktiven Bereich zwei Drittel der Gesamtkosten aus, während in der Stahlproduktion das konstante Kapital überwog. Jeder erfolgreiche gewerkschaftliche Kampf konnte das Krankenhaus unrentabel machen und so zogen die Kapitalisten alle Register. Um so schlechter war die Lage des Krankenhaus-Proletariats, als im Zuge des Niedergangs der Stahlindustrie Pennsylvania mehrmals seinen Haushalt kürzen musste und Investitionen in die öffentliche Gesundheitsstruktur ausblieben.

Dies sollen nur einige blind herausgegriffene Aspekte sein. Das Mosaik der Klassenformationen und -kämpfe hält noch weit mehr bereit.

Der Autor Gabriel Winant

The Next Shift ist Gabriel Winants erster Buch. Hauptberuflich arbeitet er als Assistenzprofessor an der Universität von Chicago. Sein Forschungsschwerpunkt als Historiker liegt dabei auf der Ungleichheit im modernen kapitalistischen Amerika. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf die Transformation und Stratfizierung des Proletariats. Publizistisch ist er in der amerikanischen Linken schon länger unterwegs. Er veröffentlichte sowohl Artikel bei Jabobin, als auch bei linken Dissent-Magazin oder im wissenschaftspolitischen n+1-Journal. Schwerpunkt seiner Beiträge ist die Organisation der Arbeiter*innen direkt im Betrieb, die immer einen Hang zur Überschätzung des Spontaneismus haben. Sein aktuelles Buchprojekt Our Weary Years: How the Working Class Survived Industrial America beschäftigt sich mit dem vorliegenden Buch ähnlicher Methodik und Fokus auf den Klassenformationen mit der ersten industriellen Revolution in Amerika und dem Pauperismus.

Zusammenfassung

Überzeugte beim letztjährigen Deutscher-Preisträger die Stalin-Biographie Ronald Sunys nicht – der Preis galt wohl eher seinem Lebenswerk -, so hat die Jury in diesem Jahr eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Gabriel Winant gelingt es mit prägnanten Sätzen, wie

“Die sozialen Formation, die der Deindustrialisierung des Rust Belt folgte, war eine Bevölkerung, die überdurchschnittlich alt, krank, arbeitslos, verarmt, aber ziemlich gut versichert war.”

S.17

die Paradoxie der kapitalistischen Herrschaftsweise eindringlich zu beschreiben. Bereits der Titel The Next Shift verrät Tiefe, da über das Motiv der Schicht die Gemeinsamkeit der Arbeit im Stahlwerk mit der im Krankenhaus herausgestellt wird, während das Adjektiv Next die Dynamik und Transformation betont.

Ganz generell ist es Winants Stärke, Motive zu entwickeln, die als rote Fäden die einzelnen Lebensberichte und Interviews verknüpfen. Ein Beispiel ist die Küchendebatte (das Video siehe hier) zwischen Richard Nixon und Nikita Krushchev. Nixon behauptete damals, dass die Stahlarbeiter der USA zwar gerade im Streik seien, sich jeder jedoch eine Küche, wie sie auf der Amerikanischen Nationalausstellung 1959 in Moskau leisten könne. Winant zeigte auf, wie hart die Frauen in den Arbeiter*innenhaushalten das Geld zusammenhalten mussten, um auf Kredit den von Nixon gepriesenen Lebensstandard mit einem Stahlarbeiterlohn finanzieren zu können. Konsumtion war nicht mehr Genuss, sie war eine Qual. Prekär wurde der Konsum, wenn die Festtage anstanden und die Männer Überstunden und die Frauen geheime Nebenjobs annahmen, um die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen. Die Verknüpfung der individuellen Schicksale mit der weltpolitischen Bühne und den natioanlökonomischen Zusammenhängen ist der Mehrwert des Buches. Winant gelingt es, in einer Stadt, die von einem sozioökonomischen Umbruch sondersgleichen geprägt ist, das Gemeinsame, das Verbindende und wenn man so will, das objektive Klassenbewusstsein ganz konkret herauszuarbeiten. Das ist nach Lenin nur wenigen gelungen.

Literatur:

Winant, G. (2021): The Next Shift. The Fall of Industry and the Rise of Health Care in Rust Belt America. Cambridge: Harvard University Press.

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