Die Dekommunisierung frisst ihre Kinder

⋄ Die Zerstörung sowjetischer Symbolik im öffentlichen Raum hat nach den Jahren um 1990 im Zuge des Ukraine-Konflikts ein zweites Mal an Fahrt angenommen.

⋄ Insbesondere die rechtskonservative PiS-Regierung im weitestgehend antikommunistisch geprägten Polen ließ ab 2016 Straßennamen aus sozialistischen Zeiten zentral umbenennen.

⋄ Łukasz Wiktor Olejnik zeigte in der
European Politics and Society, dass die ideologisierte Dekommunisierung zumindest direkt vor Ort negativ wahrgenommen wurde.

⋄ Mit Hilfe der Auswertung der Daten aus über 27.000 Wahlkreisbüros konnte er einen signifikanten Zusammenhang der Umbenennungen und einem ca. 4% schlechteren Wahlergebnis der PiS aufzeigen.

⋄ Die Anwohner*innen quittierten damit fehlende Mitsprache, finanzielle Kosten, organisatorisches Chaos und die politisch motivierte Schlussstrichmentalität.

Zum Kulturkampf, der zwischen Russland und vielen nationalistischen osteuropäischen Regierungen geführt wird und als Begleitmusik den gesamten Ukraine-Konflikt seit 2006/2013 klingt, gehört an vorderster Front die so genannte Dekommunisierung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der Auflösung des Warschauer Paktes und der Etablierung bürgerlicher Staaten zwischen Elbe und Stillem Ozean stellte sich die Frage, wie mit dem sowjetischen Erbe umzugehen sei. In Russland selbst führte der Absturz der Yeltsin-Zeit dazu, dass die Sowjetunion schnell romantisch verklärt und der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg national umgedeutet wurde. In der Ukraine gehört die Positionierung zum sowjetischen Erbe zur generellen Parteinahme in der politischen Landschaft und mit dem Sieg der Orangenen Revolution und später des Maidans wurden kommunistische Denkmäler geschliffen, deren Lücke nun unter anderem ein scheindemokratischer Banderakult füllt. In vielen Staaten Osteuropas – insbesondere in Polen – wurde die Befreiung durch die UdSSR schnell als Besatzung und Bevormundung wahrgenommen. Sozialistische Systeme etablierten sich ohne Rückhalt in der Bevölkerung und die Dekommunisierung scheint hier allgemeiner Konsens zu sein.

Dass es nicht ganz so einfach ist, zeigt Łukasz Wiktor Olejnik in der European Politics and Society. Obwohl der Antikommunismus fester Bestandteil der modernen polnischen Nationalerzählung ist – nahezu gleichrangig mit dem Katholizismus –, hat sich die regierende konservative PiS-Partei nicht nur Freunde mit ihren Gesetzen zur Tilgung des sozialistischen Erbes gemacht. In die Wahlgebieten, in denen Straßennamen sehr strikt geändert wurden, hat sie anteilig weniger Wähler*innen in den letzten Jahren gewonnen als in anderen Wahlkreisen. Warum ist das so und was sind die Hintergründe der polnische Kommunisierung und Dekommunisierung?

Straßenumbenennungen

Der Kampf um die Symbolik des öffentlichen Raums ist so alt wie die Architektur selbst. So dienten Burgen im Mittelalter nicht nur dem Schutz an sich, sondern sollten auch den Schutz der Bevölkerung durch die Feudalherren symbolisieren, um die Legitimität der Grundherrschaft „sichtbar“ zu machen. Die gläsernen Gebäude des liberalen Kapitalismus sollen Transparenz und Effizienz ausdrücken. Im besonderen Fokus stehen Straßennamen. Jede Straße, die gebaut wird, muss auch benannt werden und daher sind die lokalen oder nationalen Autoritäten sogar gezwungen, sich zu positionieren. In der Regel werden daher die Namen großer Straßen mit Ereignissen oder Personen verknüpft, welche der Legitimation des herrschenden Systems dienen. Selbst die Benennung nach Orten kann durch Auswahl und Schreibweise Akzente setzen. Man denke an die Umbenennungen von Kiewer Straßen gemäß der aktuellen ukrainischen Schreibweise.

Begonnen hat der ideologische Straßenkampf Ende des 19. Jahrhunderts im revolutionären Paris, als die Bevölkerung an die Terminologie der bewaffneten Aufklärung gewöhnt werden sollte. In den USA oder in Großbritannien wurden Straßen häufig nach wohlhabenden Personen benannt, um die Herrschaft des Bürgertums im öffentlichen Raum zu untermauern und ihr Mäzenentum zu würdigen. In den Kolonien etablierten die Kolonialmächte mit Straßennamen die Amtssprache. Umgekehrt wurde in den letzten Jahrzehnten auch in vielen westlichen Ländern die koloniale Tradition vieler Straßennamen in Frage gestellt. Und natürlich wurden auch in der Sowjetunion Straßen nach berühmten Kommunist*innen, revolutionären Ereignissen und symbolträchtigen Orten benannt.

Kommunisierung in Polen

Nach dem Sieg der Sowjetunion über den Hitlerfaschismus und der Befreiung Europas etablierte die Siegermacht im Osten zahlreiche Volksregierungen, häufig gegen den mittelfristigen Willen der Bevölkerung. Ziel war es, permanent an die Opfer der Sowjetunion für die befreiten Völker dieser Staaten und die Handschrift nationalistischer oder reaktionärer Vorgängerregierungen aus dem öffentlichen Leben zu drängen.

Auch Polen wurde 1944 von der Roten Armee befreit. Die sowjetischen Soldat*innen kamen in ein Land, indem die Bevölkerung nicht nur durch den Sowjetisch-Polnischen Krieg, die protofaschistischen Vorgängerregierungen unter Pilsudski und die katholische Kirche zum Antikommunismus erzogen wurde. Polen war eines der ersten Länder, das bilaterale Abkommen mit dem Dritten Reich schloss; lange vor dem Molotow-Ribbentrop-Pakt. Auch wurde die UdSSR durch polnische Nationalisten als Nachfolgenation des russischen Zarentums betrachtet, das von der polnischen Teilung profitierte. Durch die Westverschiebung der polnischen Grenzen kamen ganze Gebiete in die neu gegründete Volksrepublik, die kein Wort polnisch sprachen und deren Straßen demgemäß nach den neuen Machtverhältnissen revidiert werden mussten. Weitere Probleme waren das Fehlen einer revolutionären Tradition, das über einzelne Theoretiker*innen und sozialdemokratisch-integrative Strömungen hinausging. Dafür waren zahlreiche Straßennamen durch ihren religiösen Bezug stark emotional aufgeladen.

Anfangs erfolgte der Umbenennungsprozess daher lokal, spontan und chaotisch. Zunächst hatte es die neue Regierung auf die Namen von Autoritäten der Zweiten Republik abgesehen, auf Namen von Kapitalisten und Aristokraten und deutsche Bezeichnungen, später zielte sich auch auf die katholische Identität. Dabei wurde Krakau komplett überarbeitet, in Warschau wurden zunächst nur die radikal konservativen Namen entfernt und im Westen musste man noch vorsichtiger vorgehen. Die neuen Straßennamen bezeichneten entweder polnische oder internationale Kommunist*innen, kommunistische Organisationen, an der Befreiung Polens beteiligte Abteilungen der Roten Armee, historischen Ereignissen oder Konzepten (Straße der Arbeitereinheit, Straße der Kooperativen, Straße der Verteidiger des Friedens).

Dekommunisierung in Polen

Nach der Abschaffung der Volksrepublik innerhalb der Verhandlungen an Runden Tischen mit der Opposition wurde der sozialistische Staat für ca. 50.000 Tote verantwortlich gemacht, wovon die meisten den Umstruktierungsprozessen zum Ende des Zweiten Weltkriegs zuzuordnen sind. Dazu kommen Betroffene von Enteignungen, Verfolgte durch die Geheimpolizei oder im Zuge von Streiks inhaftierte und schikanierte Arbeiter*innen. Im Juni 1989 gab die sozialistische Partei ihr Machtprivileg ab und seit dem wurden nur streng antikommunistische Parteien gewählt. Die Kommunistische Partei Polens schürt ein Schattendasein, dass über die Pflege alter Kontakte von Genoss*innen faktisch nicht hinausgeht. Die Umbenennungen oder häufiger Rückbenennungen der sozialistischen Straßennamen genossen daher prinzipiell in der Bevölkerung breite Zustimmung. Von den 2098 Umbenennungen seit 1989 wurde über die Hälfte alleine im Jahre 1990 vorgenommen. Die Dynamik der Verhältnisse verlangte ihren symbolischen Ausdruck und wurde von der Bevölkerung weitgehend mitgetragen. Diese Dynamik verlor jedoch in den Folgejahren an Tempo.

Es wurden kritische Stimmen laut, welche das Überdauern ehemaliger kommunistischer Kader in Behörden und Verwaltung beklagten. Diese behinderten angeblich die weitere Dekommunisierung. Die rechtskonservative PiS gewann 2015 die Parlamentswahlen unter anderem mit dem Betrugsvorwurf der Eliten an der antikommunistischen Revolution in Polen. Kurz nach dem Wahlsieg erließ sie 2016 ein Gesetz zur Verbannung totalitärer Propaganda aus dem öffentlichen Leben, wozu unter anderem Hammer und Sichel, aber eben auch kommunistische Straßennamen zählten. Der Umbenennungsprozess wurde nun zentralisiert. Es wurde eine Kommission gebildet, welche in Frage kommende Straßennamen katalogisierte, denn häufig wussten Anwohner*innen garnichts mehr über die politischen Hintergründe der jeweiligen Namen bzw. ordneten diverse Künstler*innen, Schriftsteller*innen und andere Denker*innen gar nicht der kommunistischen Bewegung zu.

Das Ziel der PiS war durchsichtig. Die PiS wollte sich als Speerspitze des konsensuell getragenen Antikommunismus darstellen. Der Vorgängerregierung unter Donald Tusk wurde zudem eine zu lasche Haltung gegenüber Russland vorgeworfen, was durch diesen symbolischen Akt unterstrichen werden sollte. Aktiv wollte die PiS ein auf Katholik*innen und die Entourage der zweiten Republik bzw. der polnischen Unabhängigkeit nach 1989 fokussiertes neues nationales Bewusstsein konstruieren. Die politischen Gegner der neuen Dekommunisierungswelle mahnten einen pragmatischeren Umgang mit dem historischen Erbe Polens an. Historische Rollen seien verschwommen gewesen. Unter den tragenden Personen der Volksrepublik seien auch Aufständische des Warschauer Ghettos gewesen, deren Andenken erhaltenswert sei. Im Gegenzug seien nationale Größen auch Alliierte der Faschisten gewesen, deren zweifelhafter Ruhm nun weiterlebe.

Die Auswirkungen

Olejnik untersuchte nun die Auswirkungen des Gesetzes zur Dekommunisierung auf die Wahlergebnisse der PiS auf Grundlage von 27.416 Wahlkreisergebnissen. Per Hand ordnete er die knapp tausend Umbenennungen von Straßen nach dem PiS-Gesetz den Wahlkreisen zu und verglich die Veränderung mit denen mehrerer Kontroll-Variablen (z.B. den Auswirkungen des Familiengesetzes). Das Problem war dabei, dass sich manchmal auch der Name des Wahlkreisbüros selbst änderte, wenn zum Beispiel eine Schule im Rahmen des Gesetzes umbenannt worden ist. Das Ergebnis war jedenfalls robust. Die PiS schnitt sich jedoch zumindest auf kommunaler Ebene ins eigene Fleisch. Lag eine umbenannte Straße direkt im Wahlkreisbüro, lagen die Ergebnisse der Regierungspartei 3,4%-4,6% unter dem Erwartungswert umliegender Wahlkreise. War der Bezirk betroffen, dann waren es noch im Schnitt 1,5%.

Woran lag es nun? Schließlich genoss die Volksrepublik einer Umfrage von 2016 folgend in 81% der Bevölkerung ein überwiegend negatives Image. Während vor 2016 die Umbenennungsdebatten unter Einbeziehung der Bürger*innen geführt wurden, kamen die Beschlüsse nun aus der Hauptstadt. Die Anwohner*innen hat kaum noch Einfluss, aber die Kosten zu tragen. Diese entstanden insbesondere für Gewerbetreibende in nicht vernachlässigbarer Höhe. Registereinträge mussten kostenpflichtig geändert werden, Briefköpfe neu erstellt und Handelspartner über die Änderungen unterrichtet werden. Darüber hinaus entstand größeres Chaos, da Kartenmaterial schnell veraltete. Dass die Umbenennungen also an Fahrt verloren, lag nicht in der Verschwörung ehemaliger kommunistischer Eliten begründet, sondern in dem sinkenden Willen der Bevölkerung gewohnte Straßennamen unter finanziellen Lasten aus ideologischen Gründen zu ändern. Manche Pragmatiker*innen wollten auch die Vergangenheit nicht auslöschen und ihren Kindern Beispiele kommunistischer Propaganda zeigen können, um die eigene Erfahrungswelt zu erhalten. Wieder andere sahen die Volksrepublik mit gemischten Gefühlen und verwiesen auf die sozialen Errungenschaften oder intellektuelle Beiträge.

Ob das Gesetz insgesamt ein Rückschlag für die PiS gewesen war, lässt sich dennoch nicht mit Sicherheit sagen. Die Verluste in den untersuchten Wahlkreisen könnten durch Gewinne in anderen, wo die Maßnahmen ohne Betroffenheit größere Zustimmung genossen, ausgeglichen worden sein.

Zusammenfassung

Łukasz Wiktor Olejnik zeigte auf. Selbst im streng antikommunistischen Polen befürworten die Bürger*innen einen pragmatischen Umgang mit dem sowjetischen und proxysowjetischen Erbe. Die Menschen stellen durchaus pragmatische Gründe über ideologische und Regoerungsparteien werden würde die Kosten verantwortlich gemacht. Auch Gegener*innen des Kommunismus sind nur bedingt daran interessiert, die Vergangenheit einfach auszulöschen anstatt sie womöglich neu zu kontextualisieren. Letzteres kann unter den Bedingungen autoritärer kapitalistischer Regime schon schlimm genug sein. Selbst in der Ukraine protestieren Menschen gegen die Entfernung von Kunstwerken, Denkmälern oder Symbolen, deren künstlerischer Wert noch geschätzt wird und deren Kosten sie nicht einsehen wollen. Und es sei gehofft, dass die Träger*innen des neuen reaktionären Geistes in Deutschland diese Studie zur Kenntnis nehmen, und die letzten Orte der Erinnerung an die DDR oder an die Befreiung Deutschlands durch die Rote Armee aus Eigeninteresse nicht antasten.

Literatur:

Olejnik, L. (2023): How street name changes can affect electoral results: evidence from Polish decommunisation. In: European Politics and Society. Online First. DOI: 10.1080/23745118.2023.2244383.

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