Die temporale Zusammensetzung des Kapitals

⋄ Die Umschlagzeit des Kapitals nimmt eine wesentliche Stellung im zweiten Band des Kapitals ein und hat erhebliche Auswirkungen auf die Profitrate.

⋄ Guido de Marco versuchte, in der
Capital & Class eine allgemeine Theorie der umschlagzeitabhängigen Profitrate aufzustellen.

⋄ Hierbei muss berücksichtigt werden, dass bei schnellerer Umschlagzeit mehr produktives Kapital innerhalb eines festgelegten Zeitraums akkumuliert wird.

⋄ Von der Umschlagzeit hängt auch die Verteilung der verschiedenen Revenuen des Kapitals ab.

⋄ De Marco macht sich in einem Beitrag für eine temporale Interpretation der Marxschen Werttheorie stark, welche die Zeit genauso berücksichtigt, wie die Zusammensetzungen des Kapitals.

Der zweite Band des Kapitals führt bis heute ein Schattendasein. Bereits Friedrich Engels merkte in einem Brief an einen Freund an: „Der 2. Band wird große Enttäuschung erregen, weil er so rein wissenschaftlich ist und nicht viel Agitatorisches enthält.“ Während der erste Band über das Wesen des Werts als Schöpfung der Produktionssphäre aufklärt und der dritte Band mit seiner Theorie der Distributionssphäre inklusive Preisbildung, Profitraten und Rententheorie nah an den ökonomischen Erscheinungen ansetzt, gilt der zweite Band mehr oder weniger als Bindeglied. Dabei ist es jedoch so, dass Produktion, Zirkulation und Distribution alle als Bestandteile eines ganzheitlichen Prozesses zu verstehen sind, der keine Hierarchisierung kennt. Und so hat die Vernachlässigung einiger Phänomene der Zirkulation auch zu einer fehlerhaften Theoriebildung der Produktion und Distribution geführt.

Das behauptet jedenfalls Guido de Marco in der aktuellen Capital & Class. Er bemängelt insbesondere das fehlende Verständnis der Umschlagzeiten und versucht, ein allgemeines Modell der Umschlagzeiten zu entwickeln. Und er zeigt auf, welche Folgen dieses Modell für wichtige Fragen der marxistischen Debatte hat.

Die Bedeutung der Umschlagzeit

Zu einigen Grundlagen der Umschlagszeit wurde vor wenigen Wochen eine kurze Zusammenfassung gegeben (siehe hier). De Marco hat sich jedoch darüber hinaus auch angeschaut, wie Marx und Engels die Bedeutung der Umschlagzeit in ihrem Werk charakterisiert haben. Die Verwandlung des Mehrwerts in Profit ist nach Marx Ergebnis der Einheit von Produktion und Zirkulation. Die gesamte Umschlagzeit zerfällt in die Produktionszeit und die Zirkulationszeit. Erst wenn das Kapital beide Prozesse durchlaufen hat (zusätzlich die Distribution der einzelnen Kapitalbestandteil unter den Interessengruppen Finanzkapital, Rentiers, etc.), kann mit dem erweiterten Geldbetrag ein neuer Verwertungszyklus begonnen werden. Sinkt also die Zirkulationszeit, kann die Produktion schneller von neuem beginnen, was die Produktivität maßgeblich erhöht. Die Zirkulation selbst kann also der Ware keinen weiteren Wert hinzufügen, sie beeinflusst aber die Zeit, in welcher eine neue Verwertung beginnen kann. Anderweitig müsste sich das industrielle Kapital neues Geldkapital von den Finanzmärkten leihen, um die neue Produktion bereits dann anzukurbeln, bevor der Wert der ersten Produktion realisiert ist. Damit würde sich das Finanzkapital jedoch einen Teil des Mehrprodukts sichern, dass der weiteren Produktion und Zirkulation entzogen wäre. Es gibt also zwischen den einzelnen Kreisläufen zeitlich festgelegte Kausalitäten, die nicht unabhängig voneinander aufgelöst werden können.

Die Bedeutung für die Profitratengleichung

Eigentlich müsste man bei Marx zwei Profitraten unterscheiden. Die reale Profitrate wird durch die bekannte Gleichung

r=s/(c+v)

ausgedrückt, die angibt, wieviel Mehrwert pro aufgewandtem variablem (Löhne) und konstanten (Produktionsmittel) erzielt wurde. Die Notation ist die englische, wobei r die Profitrate und s der Mehrwert ist. Dies gilt aber nur für einen Verwertungsprozess, unabhängig von seiner Dauer. Da die Verwertungsprozesse jedoch sehr unterschiedliche Umschlagzeiten haben können (ein Mozzarella muss schneller produziert und konsumiert werden als ein Porsche), müsste man noch eine zeitliche und aus praktischen Gründen die jährliche Profitrate unterscheiden, die man mit

p=s’*n*v/(c+v)

schreiben könnte, wobei s’ die Mehrwertrate (Näheres hier) und n die Anzahl der Produktionsprozesse pro Jahr ist.

Wenn wir also davon sprechen, dass sich Profitraten angleichen, müssten wir unterscheiden, welche Raten sich denn nun angleichen. Da häufig konstante Umschlagzeiten angenommen werden, würden beide identisch sein. An Hand der zweiten Gleichung sieht man jedoch, dass eine Verkürzung der Produktions- und/oder der Zirkulationszeit eine Steigerung der jährlichen bei konstanter realer Profitrate bedeuten würde.

Die Umschlagzeit in der erweiterten Reproduktion

Nun bleibt es leider nicht bei diesen einfachen Gleichungen, denn sie gelten nur für die einfache Reproduktion des Kapitals. In der Realität verhält es sich jedoch eher so, dass ein Kapitalist, der schneller sein Geldkapital erweitert zurück erhält, dieses in eine Erweiterung der Produktion investieren wird, entweder durch einfache Ausdehnung oder durch Investition in neue Produktionsmittel, die wiederum den Produktionsprozess beschleunigen. Hierzu haben Passarella und Baron 2015 bereits eine Lösung vorgelegt:

β ist hierbei der Anteil, der vom Gesamtmehrwert wieder dem produktiven Kapitalisten zufließt. Wir sehen, dass sich der produktive Mehrwert sowohl auf die produktiven Teile des Kapital (Index p), als auch auf die unproduktiven Teile des Kapitals (Index u) angerechnet werden muss, während sich der dem produktiven Kapital zugeschlagene Anteil exponentiell erhöht. Da sowohl eine Verringerung der Umschlagzeit t als auch eine Vergrößerung des produktiven Anteils beta die Profitrate der Gesamtökonomie erhöhen, nennen die Passarella und Baron β auch die temporale Zusammensetzung des Kapitals (das Verhältnis aus Produktions- und Zirkulationszeit).

Wäre diese Gleichung nicht schon kompliziert genug, so beinhaltet sie noch einen entscheidenden Mangel. Zwischen dem fixen und und dem zirkulierenden Kapital wird nicht unterschieden. Dies macht jedoch insbesondere bei Berücksichtigung der Umschlagzeit einen enormen Unterschied aus (Näheres hier). Zudem wird die Umschlagzeit als konstant angenommen, während sie sich bei Akkumulation des Kapitals und der Erneuerung der Maschinen als sinkend erweisen sollte. Und auch das variable und konstante Kapital bleiben nicht konstant, sondern sind von der Umschlagzeit betroffen.

Die Idee hinter einer vollständigen Gleichung der Profitrate

Es hätte nun wenig Sinn, hier einfach de Marcos Lösung einer adäquaten Profitratengleichung aufzuschreiben, da sie über sehr viele Zwischenschritte neue Variablen herleitet, durch die dann die Profitrate ausgedrückt werden kann. Aber hier sollen doch einige Gedanken de Marcos bei der Herleitung dargestellt werden.

Zum Beispiel führt er zwei Ausdrücke für die temporale Zusammensetzung des Kapitals ein. Die gesamte Umschlagszeit lässt sich ja in Produktionszeit und Zirkulationszeit aufteilen. Das Verhältnis zwischen beiden drückt er als γ aus. Ist γ größer als 1, dann dauert die Produktion zu lange und Investitionen müssen dort stattfinden. Ist γ kleiner als 1, dann kann die produzierte Ware nicht genauso schnell abgesetzt werden, wie sie hergestellt wird und die Kosten für Werbung etc. steigen. Ganz generell spielen Veränderungen in der Distribution des Mehrwerts eine erhebliche Rolle, da nur Investitionen in das produktive Kapital die Produktionszeit führen und nur Investitionen in die Zirkulation die Zirkulationszeiten senken. Die Anteile für Grundrente oder Zinsen für Banken hingegen senken die produktive Profitrate, ohne die Umschlagzeit zu senken.

Bei der Erneuerung der Produktionsmittel stellt de Marco fest, dass diese sich in der Regel nicht nur auf die Produktion beschränken, sondern auch mit einer Beschleunigung der Zirkulation einhergehen. So diente die Massenfertigung von Smartphones als Grundlage für moderne Versanddienstleister oder die digitale Plattformökonomie (Näheres hier).

Bei dem vielen Nachdenken über die Umschlagzeit darf natürlich nicht vernachlässigt werden, dass auch die reale Profitrate von diversen Faktoren abhängig ist, wie der Verlängerung des Arbeitstages, dem Wechsel der organischen Zusammensetzung oder der Intensität bzw. Produktivität der Arbeit. Diese Wechsel wiederum wirken sich wiederum auf die Umschlagzeiten aus. Man merkt also, dass de Marco sehr viele Effekte mit berücksichtigt hat, wobei noch gar nicht mal alle hier genannt wurden. Die finale Gleichung ist demgemäß auch wenig anschaulich und empirisch quasi unbrauchbar.

Umschlagzeit: einfach nicht vernachlässigbar

Dennoch lohnt es sich, einige theoretische Folgen näher zu beleuchten. Zunächst einmal untermauert de Marco mit seinem Modell einen Mangel der bürgerlichen Kritik am Marxschen Preisbildungsprozess. Die an von Bortkiewicz anschließende Kritik hatte aus dem Prozess der kapitalistischen Akkumulation gerade ein prozessfreies Gleichungssystem machen wollen. Das konnte nur fehlerhaft werden. Damit wurde eine identische Umschlagszeit aller Waren unterstellt, ohne diese Unterstellung zu begründen oder auch nur zu explizieren. Darüber hinaus ließ sich das Gleichungssystem, mit dem Bortkiewicz die Mängel der Marxschen Preistransformation sichtbar machen wollte, nur auch die einfache Reproduktion des Kapitals, nicht jedoch auf die erweiterte Reproduktion anwenden. Letztere ist jedoch der Standardfall in kapitalistischen Ökonomien. Darauf, dass man die Unterschiede in den Umschlagzeiten des Kapitals nicht vernachlässigen darf, wies schon der zweite Kapital-Band hin:

„Bei der Verteilung des gesellschaftlichen Mehrwerts unter die in verschiednen Betriebszweigen angelegten Kapitale wirken Differenzen in den verschiednen Zeiträumen, wofür Kapital vorgeschossen wird (also z.B. die verschiedne Lebensdauer bei fixem Kapital), und verschiedne organische Zusammensetzungen des Kapitals (also auch die verschiedne Zirkulation von konstantem und variablem Kapital) gleichmäßig mit bei Ausgleichung der allgemeinen Profitrate und bei Verwandlung der Werte in Produktionspreise.“

MEW 24, S.218,

Wenn wir uns jedoch anschauen, wie viel über die organische Zusammensetzung und wie wenig über die „Differenzen in den verschiedenen Zeiträumen“ bisher diskutiert worden ist, wird die Lücke in der marxistischen Debatte sehr augenscheinlich. Aber was passiert nun, wenn Umschlagzeiten unterschiedlich sind?

Erstens deutet ein schnellerer Umschlag eine höhere Nachfrage und damit eine volle Geltung der vergegenständlichten Arbeit als gesellschaftlich notwendig an. Zweitens verringert eine Verringerung der Umschlagzeit den eingehenden Wertbestandteil des fixen Kapitals, wodurch bei alter Umschlagzeit der Konkurrenz ein Surplusprofit erzielt oder der Produktionspreis unter den durchschnittlichen Kostpreis gesenkt werden kann, um die Konkurrenz zu ruinieren. Und drittens ist die Umschlagzeit ein Freiheitsgrad für Unternehmen mit geringerer organischer Zusammensetzung, den Werttransfer in die technologisch überlegenen Sektoren zu begrenzen.

Die Umschlagzeiten und der allgemeine Charakter des Kapitalismus

De Marcos Betrachtungen schaffen auch ein wenig Klärung zum Charakter der durchschnittlichen Profitrate. Zunächst einmal sei angemerkt, dass der Begriff Durchschnittsprofitrate nur dort Sinn ergibt, wo nicht alle Profitraten gleich sind. Die Durchschnittsprofitrate bildet aber den perspektivischen Punkt, der darüber bestimmt, welcher Anteil am Gesamtprofit welcher Sphäre zukommt. Und hier spielt das Verhältnis der Zeiten eine wichtige Rolle. Akkumuliert die Produktion zu stark, kann die Zirkulation ihre Kapazitäten nicht entsprechend erweitern. Akkumuliert die Zirkulation zu schnell, kann sie bald keine Waren mehr absetzen. Ist der Anteil an Renten und Zinsen zu hoch, dann drückt dies die gesamte Umschlagzeit und die Kapitalakkumulation verläuft langsamer. Die Durchschnittsprofitrate spielt hier eine ausgleichende Rolle. Kann der Produktionssektor seine Waren nicht mehr absetzen, dann sinkt auch die durchschnittlich enthaltene notwendige Arbeitszeit und die Profite sinken. Das Kapital sucht sich nun neue Anlagemöglichkeiten in der Zirkulation, um den Absatz zu beschleunigen. So manifestiert sich aus der Konkurrenz der Kapitale auch ihr gemeinsames Interesse.

Die Umschlagzeit spielt auch für die Geschwindigkeit, mit der sich Profitraten angleichen, eine Rolle. Wo stark in das fixe Kapital investiert werden muss, also Produktionsanlagen, die 10, 20 oder vielleicht sogar 30 Jahre halten sollen, da lassen sich weniger schnell Korrekturen vornehmen. Wo hingegen viel Geld in variablem oder zirkulierendem Kapital steckt, lassen sich die Profitraten wesentlich schneller anpassen, was man zum Beispiel an den sehr sprunghaften Entwicklungen in der Softwareindustrie sehen kann.

De Marco macht in Hinblick auf seine Überlegungen auch noch einen Gedanken stark, der mit der Debatte über die Beziehung von Erzeugung und Realisierung des Mehrwerts verknüpft ist. Der Wert und der Mehrwert wird nicht erst am Ende des ganzen Verwertungsprozesses realisiert, sondern während des Prozesses selbst. Der produktive Kapitalist verkauft sein Produkt meist an das Handelskapital, dass seinen Anteil erst im Nachhinein abzweigt. Nachdem der produktive Kapitalist seine Ware verkauft hat, zahlt er bereits seine Auslagen bei der Bank oder die Zinsen zurück, während der Handelskapitalist noch auf seinen Erlös wartet, um dann wiederum seine Schulden zu begleichen. Häufig streicht die Bank bereits die ersten Zinsen ein, bevor auch nur die erste Schraube gesetzt ist. Die trinitarische Formel des dritten Bandes darf also nicht den Anschein erwecken, erst mit der Distribution werde über Werte, Preise und die Verteilung der Profite entschieden, sondern sie ist eine Zusammenfassung des Gesamtprozesses.

Zusammenfassung

Guido de Marco hat die Leser*innen auf einen Parforceritt durch die Hintergründe und Folgen der Umschlagzeit mitgenommen. Seine letztendliche mathematische Formulierung ist zwar ein Ungetüm ohne praktischen Gebrauchswert, aber die Zwischenschritte und Überlegungen, welche dahinterstehen, verdeutlichen die Bedeutung des temporalen Charakters der Gesamtreproduktion des Kapitals. Dass de Marco ein Kind der Temporal-Single-System-Interpretation im Sinne Freemans, Klimans oder Carchedis (Näheres hier) ist, verheimlicht er dabei nicht. Diese Schule findet immer mehr zu sich selbst und ihr gelingt es zusehends, ihr Hauptargument, den Prozesscharakter der kapitalistischen Produktion in das Zentrum zu stellen, elaboriert herauszuarbeiten.

Leider zeigt gerade der Artikel de Marcos auch das einhergehende Problem an. Die Theorie wird immer komplexer und wenn bereits ohne die Dimension der Zeit die Erklärungen der kapitalistischen Phänomene sehr kompliziert sind, dann werden sie durch die Ergänzungen nicht leichter. Man mag nun einwenden, dass viele Erklärungen nur deshalb so kompliziert seien, weil es eben der zeitlichen Dimension ermangele. Dennoch muss die TSSI langsam schauen, wo sie nicht nur ergänzt, sondern auch ersetzt, wo sie das Verständnis erleichtert und wie sie ihre Theorie auch benutzerfreundlicher formuliert, ohne sich sektenhaft von den anderen Interpretation der Marxschen Theorie abzukoppeln. Das ist kein leichter Schritt, aber ein notwendiger, wenn die wichtigen Gedanken der temporalen Interpretation der Marxschen Theorie nicht unter dem Berg der Unverständlichkeit begraben werden sollen.

Literatur:

De Marco, G. (2023): Marx’s general rate of profit: How turnover time, accumulation and rate of surplus value affect the formation of prices of production. In: Capital & Class. Online First. DOI: oi.org/10.1177/03098168231179975.

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