Das politische Subjekt Palästinenser*innen

⋄ Die Palästinenser*innen kommen im politischen Diskurs häufig als Projektionsfläche linker Befreiungshoffnungen oder rechter Kulturalismustheorien vor.

⋄ Die
Critical Sociology widmete ihre aktuelle Ausgabe einer ausgiebigen Diskussion des politischen Subjekts Palästinenser*innen.

⋄ So wurde die Konstituierung dieses politischen Subjekts im Spannungsfeld von osmanischer und britischer Kolonialherrschaft, sowie Ost-West-Spannungen erörtert.

⋄ Es wurde auch ein Blick auf die Sozialstrukturierung geworfen und welche besonderen Charakteristika die Frauen oder die Jugend haben.

⋄ Abschließend wurde problematisiert, welche Stereotype den akademischen und politischen Diskurs prägen und wie sie zustande kamen.

Die Frage, seit wann es eigentlich das palästinensische Volk gibt, ist nur in zweiter Linie eine historische. Sie ist eine politische. Zionistische Vertreter*innen haben über die Jahrzehnte hinweg das Narrativ verbreitet, ein Volk ohne Land habe Israel auf einem Land ohne Volk errichtet. Und noch bis heute wird in höheren Kreisen die Auffassung vertreten, dass die Palästinenser*innen ja eigentlich Araber*innen seien und damit auch überall im Maghreb oder im Nahen Osten glücklich werden könnten. Das Beharren auf das kleine Stückchen Land zwischen Jordan und Rotem Meer sei damit nur durch einen tief verwurzelten Antisemitismus zu verstehen. Doch wie nicht wenige Völker haben sich die Palästinenser*innen durch den Kampf als politisches Subjekt konstituiert. Dass es dieses Volk gibt, ist abseits historiographischer Debatten genauso Fakt, wie die Existenz des israelischen.

Mit der Struktur und Entwicklung dieses politischen Subjektes hat sich die aktuelle Critical Sociology auseinandergesetzt. In mehreren Beiträgen beschreiben die Autor*innen, wie Rassifizierung, Kolonialismus, Sexismus, aber auch Solidarität unter Arbeiter*innen die heutigen Palästinenser*innen geprägt hat. Es wird damit versucht, ein vielschichtigeres Bild zu entwerfen, als dass der bloßen passiven Opfer oder hamasfanatisierten Täter*innen.

Zur kolonialistischen ursprünglichen Akkumulation in Palästina

Nahla Abdo warf zunächst einen Blick in die Geschichte. Die Enteignung der Palästinenser*innen ist eng mit den Prozessen der ursprünglichen Akkumulation verbunden als Abkehr von Herrschaft per Landbesitz hin zur Herrschaft per Geldbesitz. Bereits das Osmanische Reich, welches bis zu seiner Auflösung über Palästina herrschte, verkaufte Ländereien an die jüdischen Siedlungsprojekte, um an liquide Mittel zur Kriegsführung zu gelangen. Die ehemaligen Pächter*innen des Landes wurden so billige Arbeitskräfte, die jedoch keine moralischen und historischen Rechte mehr auf das Land beanspruchen konnten. Die Einhegung der Ländereien durch die jüdischen Siedler*innen verhinderte die Fortführung der nomadischen Lebensweise vieler Menschen, die nun ebenfalls als Lohnarbeiter*innen auf den Markt kamen. Die britische Herrschaft setzte später ein für Kolonialmächte beliebtes Mittel zur weiteren Enteignung ein. Hohe Steuern konnten insbesondere von den Bäuer*innen nicht mehr bezahlt werden, die subsidär für den eigenen Bedarf wirtschafteten. Sie verschuldeten sich und mussten häufig als letzte Einkommensquelle ihr Land verkaufen. Nur die Palästinenser*innen behielten ihr Land, die sich bereits als kleine und mittlere Kapitalisten betätigen konnten, was zur Erosion der traditionellen gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Spannungen führte. Das gemeinsame Schicksal der nun proletarisierten Palästinenser*innen einte diese jedoch auch als politisches Subjekt, dass mit Streiks, Besetzungen und militantem Kampf die britische Kolonialherrschaft herausforderte.

Die Nakba markierte 1948 nicht nur wegen der zahlreichen Verluste an Menschenleben eine Katastrophe der palästinensischen Konstituierung. Sie teilte erneut das politische Subjekt in zwei ungleiche Teile, von denen einer sich entschloss als Bürger*innen zweiter Klasse weiter in Israel zu leben und der andere in die Emigration floh, um sich nach Bündnispartnern umzusehen oder schlicht der physischen Vernichtung zu entgehen.

Dabei blieb die ursprüngliche Akkumulation nicht allein auf die arabischen Mitbürger*innen begrenzt. Durch den Zuzug der Jüd*innen aus aller Welt – darunter auch aus vor- und frühmodernen Gesellschaften – wurde die Kohärenzkraft des israelischen Staates auf die Probe gestellt. Diese Verwerfungen führten auch zu einer rassistischen Politik innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die sich zum Beispiel gegen die äthiopisch- oder jemenitisch-stämmigen Israelis richtete. Obwohl Abdo zwar die Versuche israelischer Lobbyorganisation, die rassistischen und kolonialistischen Elemente der israelischen Politik und Vergangenheit zu beschönigen, gesondert herausstellt, zeigt er durch einen Vergleich zum kanadischen Umgang mit der indigenen Bevölkerung auf, dass es sich hier keineswegs um einen zionistischen Exzeptionalismus handelt. Die Art und Weise der israelischen und prä-israelischen ursprünglichen Akkumulation ist nur ein Spiegel ähnlicher Prozesse in Nordamerika oder den Kolonien. Der Mantel der Schweigens über deren Brutalität dient dem gemeinsamen Interesse.

Die palästinensische Frauenbewegung

Eine besondere Spannung besteht im Verhältnis palästinensischer Frauen zu internationalen Frauenorganisationen. Auf der einen Seite versucht Israel, sich als Vorreiter universeller westlicher Werte inklusive Gleichheit der Frau und LGBTQI-Rechten darzustellen. Auf der anderen Seite nahmen und nehmen Frauen trotz inegalitärer Geschlechtsverhältnisse am Widerstand gegen die Besatzung Teil. Tanetta Andersson rollte die Frage auf.

Seit dem Beginn der britischen Kolonialherrschaft nahmen Frauen aktiv am antikolonialen Kampf teil. Sie schmuggelten Waffen, sicherten Versorgungswege und manche Frauen der bürgerlichen Eliten nahmen auch an bewaffneten Auseinandersetzungen teil. Insbesondere in der Streikbewegung zwischen 1936 und 1939 nahmen Frauen eine prominente Rolle ein und gründeten durch das wachsende politische Bewusstsein zahlreiche Frauenverbände. Es sollte die Nakba und die israelische Staatsgründung sein, die einen tiefen Einschnitt in die stärker werdenden Strukturen bedeutete. In den jordanischen oder libanesischen Flüchtlingslagern waren die Untergrundparteien von der Toleranz und Unterstützung der einheimischen Eliten abhängig, die sich jedoch auch für eine Stärkung eines patriarchalen Rollenbildes einsetzten. So konnten Frauen in der Regel nur niedere administrative Arbeiten im Widerstand übernehmen. Dennoch konnten viele in den 70er Jahren eine höhere Bildung erwerben und eine neue Avantgarde bilden. Durch die Fraktionierungsprozesse zwischen PLO, kommunistischer Partei und PFLP wurden diese Kader stark umworben, da die weibliche Bevölkerung ein immenses politisches Potential barg. Diese Nachfrage wiederum nutzen die palästinensischen Frauen zur Durchsetzung egalitärer Forderungen in den Programmen. Ihren Höhepunkt erreichte die Partizipation von Frauen an der Befreiungsbewegung während der ersten Intifada, als diese ganze parallelgesellschaftliche Strukturen mit aufbauten. Mit der Stagnation der Kämpfe setzten sich jedoch die konservativen und islamistischen Kräfte durch, die autoritär-populistische Regime errichteten. Die im Zuge des Olsoer Abkommens einsetzende NGOisierung der palästinensischen Ökonomie setzte auf Kooperation mit diesen Regimen und macht eine ganze Gesellschaft von beiden abhängig. Die durch NGOs vermittelte Hilfe setzt entweder von westlicher Seite eine Anerkennung des Status Quo voraus oder von arabischer Seite ein Bekenntnis zu traditionellen Rollenbildern.

Die beste Hilfe für die palästinensische Frauenbewegung sei daher, den imperialistischen Status Quo zu brechen. Anstatt sich von äußeren Geldgebern abhängig zu machen, müsse der palästinensische Widerstand wieder auf den Schultern der eigenen Bevölkerung stehen, deren integraler Bestandteil Frauen seien. Das Resultat sei ein neuer okzidentaler Feminismus, der sowohl dem kapitalistischen Universalismus als auch dem islamistischen Scheintraditionalismus feindlich gegenüberstehe. Anstatt dessen beklagen Autor*innen wie Lazreg, dass internationale Organisationen einen patriarchalen „feministischen Tourismus“ betrieben, der sich allein auf Mitleid der aktuellen Situation beschränke. Rettungsrhetorik wird beklagt, obwohl die palästinensischen Frauen nicht gerettet werden müssten; sie müssten in die Lage versetzt werden, zu kämpfen. Das heißt im Übrigen nicht, dass die Einschränkung von Frauenrechten, Gewalt und Femizide in den palästinensischen Gebieten nicht real wären, sondern dass der Ausweg nicht über einen westlichen neokolonialen Feminismus führe.

Die Jil Oslo – die Osloer Jugend

Der Friedensprozess von Oslo ab 1993 beendete die erste Intifada. Die israelische Regierung erkannte die PLO als legitime Vertreterin der Palästinenser*innen an und es wurde eine Plan zur Ausweitung der palästinensischen Selbstverwaltung ausgearbeitet. Der Prozess wurde immer wieder unterbrochen und mündete in die Einteilung in A-, B- und C-Zonen, in denen die palästinensische Autonomiebehörde unterschiedliche Befugnisse genießt. A-Zonen stehen komplett unter palästinensischer Kontrolle und machen mit einigen Städten der Westbank 3% des Territoriums aus. In weiteren 24% teilen sich Israel und die PA die Befugnisse, während der Rest der Westbank von Israel kontrolliert wird. Der Gazastreifen ist seit der Abriegelung ohnehin ein Fall für sich. Diese Struktur hat die junge Generation an Palästinenser*innen geprägt, wie Bhoomi K. Thakore aufzeigt.

Der Friedensvertrag von Oslo konstatierte einen Status Quo, welcher zum einen zwar den Grundstein der heutigen korrupten Strukturen von Hamas und Fatah legte, aber auch zumindest theoretisch völkerrechtlich einklagbare Rechte definierte. Davon stechen zwei heraus. Erstens das Recht auf Rückkehr, das nach Ansicht der Palästinenser*innen Bestandteil des Vertragswerks sei. Zweitens sah die Zoneneinteilung nur einen Übergang hin zu einer vollständigen Übergabe der Regierungsgewalt über Westbank und Gaza an die PLO vor. Dem entgegen steht, dass schätzungweise 60% der C-Zone von israelischen Siedlern kontrolliert wird. Diese meist neuen und durch reiche US-Amerikaner geförderten Siedlungen hegen nicht die Absicht, sich palästinensischer Autorität zu beugen. Im Gegensatz zur geplanten Autonomie betreiben die israelischen Behörden zum vermeintlichen Schutz hunderte von Checkpoints, an denen Palästinenser*innen schikaniert und bestohlen werden.

Sowohl die Verweigerung des Rückkehrrechts als auch die Zersiedelung der Westbank stellen mehr oder weniger klare Vertragsbrüche des Osloer Abkommens dar. Und in Palästina wächst eine Generation, die diese Rechte einklagen will, die Jil Oslo. Diese Bevölkerungsgruppe wurde im Kindesalter während der ersten Intifada sozialisiert, hegte Hoffnungen in die versprochene palästinensische Autonomie und sah sich seit dem frühen Arbeitsleben den Schikanen der israelischen Besatzungsmacht ausgesetzt. Die Schlagworte dieser 18- bis 35-jährigen Generation sind Repräsentation, Engagement und Veränderung. Viele engagieren sich in NGOs, wie der UN Relief and Works Agency, auch wenn diese eine Verstetigung der Abhängigkeit ausländischer Spendengeber bedeutet. Sie versuchen, internationalen Druck aufzubauen und wenden sich an eine Weltöffentlichkeit. Organisation und Kampagnen wie BDS fordern keineswegs zum Kampf gegen Israel auf, sondern zur Durchsetzung völkerrechtlich verbindlicher Zusagen. Durch die öffentlichkeitswirksame Inszenierung des Nakba-Tages versuchen sie, ohne unmittelbare Gewalt auf die Situation der Palästinenser*innen aufmerksam zu machen.

Denn im völkerrechtlichen Anspruch der Palästinenser*innen auf die Zusagen des Osloer Abkommens gibt es ein Problem. Dank der Rückendeckung der USA kann niemand Israel zur Einhaltung der Zusagen zwingen. Entsprechende UN-Resolutionen werden zwar fast von der ganzen Welt unterstützt, hängen aber am Gusto der jeweiligen Mehrheiten der Knesset. Die meisten Nachbarn haben ihren Frieden mit dem Land gemacht und eine Durchsetzung der Rechte mit Gewalt ist aussichtslos. Also netzwerken die jungen, medienaffinen Menschen zunehmend über Radiosender, Internetseiten und soziale Netzwerke. Sie entstammen häufig den Universitäten, insbesondere der Birzeit Universität bei Ramallah. Politisch sind sie in der Regel distanziert von den herrschenden PLO-Fraktionen. Insbesondere im Gaza-Streifen, wo die Hamas den öffentlichen Raum dominiert, ist der virtuelle Raum ein bedeutendes Organisationsfeld. Doch nicht nur nach außen, auch nach innen hin organisiert diese Generation Solidaritätsstrukturen. Und es entsteht eine eigene Subkultur, die westliche Kulturformen mit den politischen Forderungen der Palästinenser*innen vereint.

Doch der Kampf ist ermüdend und wird von israelischer Seite aus torpediert. Anstatt anzuerkennen, dass die Jugend ihre Anliegen nicht mehr durch gewaltsamen Kampf ausdrückt, sondern durch internationale Vernetzung und Akkommodation westlicher Kulturformen, werden diese friedlichen, völkerrechtsbasierten Protestformen im Westen skandalisiert. Es ist aber auch klar, dass die einfache Unterdrückung palästinensischer Stimmen keine Probleme löst und wenn friedliche Wege scheitern, bleibt nur der Weg der Gewalt. Es wäre also besser, jetzt zuzuhören.

Zur Prägung des Diskurses

Drei weitere Aufsätze haben sich damit beschäftigt, wie in den USA eigentlich ein Diskurs entstanden ist, der die Palästinenser*innen rassifiziert, marginalisiert und ihre Ansprüche delegitimisiert.

Der Kampf um die Narrative wird zum Beispiel auf akademischer Ebene geführt. Melissa Weiner untersuchte die Darstellung des Nahost-Konflikts in gängigen US-Lehrbüchern der Soziologie, welche zwischen 2010 und 2019 erschienen. Ganze 80% der Bücher stellten Israel als modern und demokratisch den terroristischen Palästinenser*innen gegenüber. 77% betrachteten Israel/Palästina als seit jeher jüdisch und nur 26% der Bücher konnten eine halbwegs adäquate Geschichte der Palästinenser*innen ohne Stereotype erzählen. Insbesondere Primitivität, Andersartigkeit und antidemokratische Einstellungen charakterisieren die Darstellungen der palästinensischen Bevölkerung. Für den Konflikt machte nur ein Buch den israelischen Siedlerkolonialismus verantwortlich, während 30% diesen in religiösen Konflikten und 26% im palästinensischen Terrorismus begründet sahen. Mit ihrer Untersuchung dürfte Weiner wohl das Vorurteil widerlegen, dass eine linke Bildungselite antizionistische Propaganda in akademische Kreise trage. Das Gegenteil dürfte wohl eher der Fall sein.

Den Wandel in der Wahrnehmung Israels in den antikolonialen Befreiungsbewegung illustrierte Nadia Alahmed am Beispiel des bekannten Soziologen W.E.B. du Bois. Anfangs begrüßte du Bois die Gründung Israels aus drei Gründen. Erstens empfand er die Rückgabe eines Landes auf Grund einer jahrtausendelangen Tradition als Analogie für die Forderungen indigener Communities. Zweitens sah er Israel als Eindämmung des Islams praktikabel an, den er für einen Großteil der Rückwärtsgewandtheit schwarzer Bewegungen in Afrika verantwortlich machte. Und drittens stellte er die schwarze Befreiungsbewegung im Anschluss an sein antifaschistisches Engagement während des Dritten Reiches in die Nachfolge des jüdischen Widerstandes, wie er in seiner Rede „Die Schwarzen und das Warschauer Ghetto“ 1952 ausführte. Auch machte der Kuklux-Clan in den USA sowohl gegen Schwarze als auch gegen Jüd*innen mobil. Du Bois änderte seine Ansichten jedoch mit dem Aufstieg des Nasserismus. Abdel Nasser wurde in den USA zur Symbolfigur schwarzer Selbstermächtigung und Israel stellte sich im Konflikt mit Ägypten zur Enttäuschung du Bois’ auf die Seite der imperialistischen Mächte Großbritannien und Frankreich. Seine Ansichten verarbeitete Du Bois 1956 in einem Gedicht über die Suez-Krise mit folgenden Zeilen:

„Young Israel raised a mighty cry:
‘Shall Pharaoh ride anew?’
But Nasser grimly pointed West,
‘They mixed this witch’s brew!’ […]

Old Britain would be great again
With War on Earth, the bad will to men!
And France would civilize the dead
And make the black Sahara red.!“

zitiert nach Alahmed (2023), S.1062f.

Einen Blick auf ein fast vergessenes Kapitel der Diskursprägung warf Maha Nassar von der Universität Arizona. Sie analysierte den Roman Exodus von Leon Uris aus dem Jahre 1958. Dieses Buch war seiner Zeit das meistverkaufte Buch in den USA seit „Vom Winde verweht“ (1936). Allein in den ersten Jahren wurden fünf Millionen Ausgaben verkauft und das Bild vom jungen israelischen Staat in den USA geprägt. Bis 1970 schwoll der Absatz auf 20 Millionen Exemplare an, ein teurer Hollywood-Film folgte und selbst Ben Gurion lobte die Wirkung des Buches auf die amerikanische Gesellschaft. Nassar identifizierte in dem Buch drei palästinensische Stereotype, welche die Debatte in der Zukunft prägen sollten. Erstens mangele es den Palästinenser*innen an Zivilisation, was die israelischen Siedler*innen im Namen des Fortschritts zur Landnahme berechtige. Zweitens würde es keine historische Verbindung zwischen den Palästinenser*innen und ihrem Land geben. Und drittens hätten ruchlose, antisemitische Führer das einfache Volk hinters Licht geführt, aufgestachelt und eine friedliche Koexistenz verhindert. Diese drei Topoi mündeten in einer Leugnung der Nakba, für welche die junge israelische Gesellschaft keine Schuld trage und eine Verbesserung des Lebens der Palästinenser*innen bedeutet habe, die sich mit den politischen Veränderungen abgegeben hätten. Dass diese Klischees nur eine durch den osmanischen und britischen Kolonialismus hervorgebrachte prekäre Situation der Palästinenser*innen widerspiegelte, macht der Aufsatz von Abdo deutlich. Nassar zeigt jedoch auch, dass das Buch zwar einen Einfluss auf die heutige Rentner*innengeneration gehabt habe, der Einfluss auf die jüngere Generation jedoch begrenzt sei. So wachse die Solidarität mit den Palästinenser*innen in den jüngeren Jahrgängen zusehends.

Zusammenfassung

Die akademische Debatte um den Nahostkonflikt wird in den USA wesentlich härter geführt als in Deutschland. Im Land der Urheber der Shoah, dem bedeutendsten Gründungsmythos des Staates Israel, lässt sich eine radikale Israelkritik leicht in die antisemitische Ecke rücken und manchmal kommt sie tatsächlich daher. Amerikanische Autor*innen sind hier freier und die Härte der Kritik manches Aufsatzes wirkt hierzulande befremdlich. Der entscheidende Aspekt ist jedoch, dass die Palästinenser*innen als ernsthaftes politisches Subjekt wahrgenommen werden müssen und dass die marxistische Debatte ihre Klassenstrukturen und soziologischen Determinanten untersuchen muss, um sich adäquat im Nahostkonflikt positionieren zu können. Stereotypisierungen befördern nur die Aufrechterhaltung des kapitalistischen und imperialistischen Status Quo. Die Drei-D-Regel – die Ablehnung von Delegitimierungen, Dämonisierungen und Doppelstandards – muss für die Analyse Israels wie der Palästinenser*innen gelten. Doch auch eine undifferenzierte Heroisierung des palästinensischen Widerstands, die nicht mehr nach dem Wie und Wohin fragt, stärkt die reaktionären Kräfte in der Region. Weder die israelische oder palästinensische Arbeiter*innenklasse darf aus dem proletarischen Internationalismus herausdividiert werden. Nur die Linke ist in der Lage, die Widersprüche auf nationaler Ebene im gemeinsamen Klassenkampf aufzuheben. Bis wir dahin kommen, ist jedoch noch viel Erkenntnisarbeit notwendig.

Literatur:

alle Artikel in: Critical Sociology, Jahrgang 49, Ausgabe 6.

Artikel:

Abdo, N. (2023): The Palestine Exception, Racialization and Invisibilization: From Israel (Palestine) to North America (Turtle Island). S.967-989.

Alahmed, N. (2023): From Black Zionism to Black Nasserism: W.E.B. Du Bois and the Foundations of Black Anti-Zionist Discourse. S.1053-1064.

Andersson, T. (2023): ‘Knowing’ Palestinian Women: Interrogating Western International Feminist Assumptions, Governance, and Social Science Discourses. S.1021-1036.

Nassar, M. (2023): Exodus, Nakba Denialism, and the Mobilization of Anti-Arab Racism. S.1037-1051.

Thakore, B. (2023): Jil Oslo Generation Palestinians and the Fight for Human Rights. S.1009-1019.

Weiner, M. (2023): Palestinian Erasure and Dehumanization in Introductory Sociology Texts. S.991-1008.


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