Zur Geschichte hinter „Free Palestine“ (2/2)

Fortsetzung vom Vortag

Oslo und die Schwäche der PLO

Toufic Haddad analysierte die Rolle der PLO beim Osloer Abkommen und die daraus folgenden Probleme. Er erinnerte daran, dass das Osloer Abkommen in einer Zeit der Schwäche der PLO zustande kam. Mit dem Ostblock und der Blockfreien Bewegung verlor sie die beiden wichtigsten Bündnispartner und finanziell stand sie zwei Monate vor der Insolvenz. Ein für heute nicht uninteressantes Detail: Zum Zeitpunkt des Abkommens erkannten weder Israel noch die USA die PLO als legitime Vertreterin der Palästinenser*innen an, sondern führten sie als Terrororganisation. Mit Terroristen scheint man doch verhandeln zu können und das garnichtmal schlecht. Denn in dieser Situation stimmte die PLO zu, dass die palästinensichen Gebiete weder über volle Autonomie verfügten, noch der Siedlungsbau gestoppt werde. Fast noch schlimmer: mit der Rückkehr der PLO aus dem Exil verlor sie ihren Mythos. Die palästinensische Bevölkerung erlebte eine Organisation, die sich in der Regierung erst einmal wieder selbst finanziell konsolidieren musste und der israelischen Besatzung weder politisch noch militärisch etwas entgegenzusetzen hatte.

Für die arabische Bevölkerung Israels entstand zudem ein neuer Rechtfertigungsdruck, warum sie weiterhin außerhalb der ihnen zugewiesenen Gebiete lebten. Ihr Verbleib wurde durch die staatliche Propaganda dahingehend instrumentalisiert, dass selbst ein jüdischer Staat besser die muslimische Bevölkerung versorgen könne als die Autonomiebehörde. Letztendlich waren aber die zersiedelte Westbank und der abgeschottete Gazastreifen als politische Entität nie lebens- oder regierungsfähig. Zwar wurde der Bruch des Völkerrechts durch die Nichtumsetzung der palästinensischen Autonomie mehrfach durch die Vereinten Nationen festgestellt, gegen den Willen der USA konnte der Rechtsanspruch der PA jedoch nicht verwirklicht werden.

Vielmehr sollte der völkerrechtswidrige Frieden durch symbolische und materielle Anreize gesichert werden. Arafat erhielt den Friedensnobelpreis und die internationale Gemeinschaft ermöglichte mit Almosen ein Überleben in den Gebieten; jedoch ohne Selbstbestimmung und ohne Perspektive. Die westliche Hilfe für das Westjordanland stärkte die Behörden und schwächte kommunale und linke Selbstverwaltungs- und Solidaritätsstrukturen. Die Hamas hingegen verstand es besser, die Hilfsgelder über das für die Muslimbrüder etablierte Netzwerk zielgerecht zu verteilen. Israel hingegen setzte seine Interessen unter einen alles verbindenden Kampfbegriff: „Sicherheit“. Anlass war eine Zahl von Selbstmordattentaten in den 90er Jahren, die von Gruppen verübt wurden, die mit dem Friedensschluss der PLO unzufrieden waren und Arafat aus der Reserve locken wollten. Erreicht wurde das Gegenteil und Arafat musste beim Camp David-Treffen 2000 in allen strittigen Punkten Zugeständnisse machen, da die PLO ganz offensichtlich keine Kontrolle über die palästinensische Bewegung besaß.

In dieser Situation der Unzufriedenheit mit dem schwachen Verhandlungsergebnis der PLO brachte der Besuch Ariel Sharons in der Al-Aqsa-Moschee das Fass zum Überlaufen. Mit 1000 Soldat*innen und Polizist*innen demonstrierte der Oppositionsführer die neue Machtstellung Israels nach den Verhandlungen. Sein Auftritt konnte selbst für die israelfreundliche Berichterstattung im Westen nicht anders als eine provokative Demütigung der Palästinenser*innen empfunden werden. Die zweite Intifada polarisierte erneut die palästinensisch-israelische Gesellschaft und gab Israel den Anlass, das bis heute etablierte Militärregime im Westjordanland und die Abriegelung des Gaza-Streifens zu etablieren.

Bei all den Fehlern Arafats hat er zumindest die palästinensische Befreiungsbewegung durch seine Person weitgehend zusammenhalten können. Nach seinem Tod 2004 zerfiel sie in weitestgehend parallele Teile, die Fatah, die Hamas, die kleineren linken Gruppen und den an Bedeutung gewinnenden Islamischen Jihad. Aus dem Scheitern des Osloer Abkommens lassen sich zwei alternative Lesarten ableiten: Erstens hat Israel seine Chance auf Frieden durch die historisch einmalige Schwäche der PLO politisch bewusst in den Wind geschlagen. Die Palästinenser*innen mussten lernen, dass Israel jede Schwäche nutzen würden, um einen vorteilhaften Kompromiss noch vorteilhafter zu gestalten. Die zweite Lesart ist, dass ein Friedensschluss, der auf einseitiger Schwäche eines Verhandlungspartners beruht, keine Akzeptanz in der Bevölkerung findet.

Palästina und der arabische Frühling

Jehad Abusalim rollte das komplizierte Verhältnis der palästinensischen Befreiungsbewegung zum arabischen Frühling auf. Auf der einen Seite war er eine enorme Demonstration der Selbstermächtigung der arabischen Massen über autokratische Führer, die aus opportunistischen Gründen bereits ihren Frieden mit Israel gemacht hatten. Auf der anderen Seite brachte er die Regime unter Druck, die auch wichtige Geldgeber der palästinensischen Insitutionen waren. Wie bereits dargestellt, waren die Eliten in Hamas und Fatah bürgerlich geprägt und fürchteten selbst einen von ihnen nicht kontrollierten Aufstand.

Diese widersprüchliche Lage spiegelte sich in der unterschiedlichen Bewertung des Syrien-Krieges wider. Während die Hamas den Aufstand gegen Assad unterstützte, da man sich von einer islamistischen Regierung in einem damals noch vergleichsweise wohlhabenden Land mehr Unterstützung erwartete, hatte ausgerechnet die Hamas – die weit mehr Konflikte mit dem Assad-Regime hatte – Vorbehalte. Sie erkannte recht früh, dass sich ein politisches Chaos in Syrien abzeichnete, das auf die PA überzuschwappen drohte. Offiziell gab man sich neutral, inoffiziell rechtfertigte man selbst die Bombardierung eines palästinensischen Flüchtlingslagers in Syrien als notwendig. Linke Gruppen wie die PFLP, die noch traditionelle Verbundenheit zu den einst popularen Regimen pflegten, feierten ganz offen, die Rückeroberung Aleppos und die Beendigung des dortigen IS-Regimes. Die widersprüchliche Haltung der palästinensischen Organisationen zum arabischen Frühling spiegelt die prinzipielle Widersprüchlichkeit der Bewegung ab, die zwischen islamischen Konservatismus, säkularem Nationalismus und politischer Radikalität stets laviert und ihre Kräfte austariert.

Was tun?

Der letzte Teil des Buches behandelte in mehreren Beiträgen, wie konkrete Solidarität mit Palästina unter den ambivalenten Verhältnissen aussehen könnte. Omar Barghouti stellte als einer der Gründer in einem Interview die BDS (Boycott, Divest, Sanction)-Kampagne vor, die in vielen Ländern als sehr umstritten gilt. Ihre drei Hauptziele sind die Beendigung der Besatzung und Kolonisierung, die volle staatsbürgerliche Gleichstellung der arabischen Bürger*innen Israels und ein Rückkehrrecht für die Nachfahren aller vertriebenen Palästinenser*innen. Bis diese Ziele erreicht würden, organisiert BDS Kampagnen, um Firmen, Gewerkschaften und Universitäten dazu zu bewegen, die Zusammenarbeit mit Israel zu beenden oder zu reduzieren. Insbesondere in Bezug auf die deutsche Geschichte sind solche Boykottaufrufe natürlich nicht unproblematisch. Die BDS-Bewegung kann daher auch nur auf gemischte Erfolge zurückblicken. In Amerika war BDS ein Zankapfel innerhalb der sich zuspitzenden politischen Polarisierung. Während eine ganze Generation junger linker Akademiker*innen zwar für die palästinensische Sache gewonnen werden konnte, hat die Rechte ebenso mobil gemacht und die Bewegung teilweise juristisch stark eingeschränkt. Im globalen Süden ist sie hingegen weit tiefer in der Arbeiter*innen- und Bauernbewegung verankert. So habe die größte indische Bauerngewerkschaft die Ziele der BDS-Kampagne implementiert. Überhaupt habe BDS eine vereinigende Plattform für die pro-palästinensische Solidarität geschaffen. Doch die Kampagne krankt an verschiedenen Haltungen zu anderen Konflikten, wo manche Aktivist*innen Positionierungen für Menschenrechte verlangen, während andere sich nur auf die Palästina-Frage konzentrieren wollen. Und letztendlich gibt es nur wenig Konzepte, wie eine praktische Umsetzung der Ziele in einer Art und Weise erfolgen könne, dass sie auch für die israelische Arbeiter*innenklasse tragbar ist.

Nada Elia problematisierte die Sichtweise der internationalen feministischen Bewegung auf die palästinensische Frauenbewegung (dazu auch). Israel stelle sich in einer Pinkwashing-Kampagne selbst als Vorkämpfer für Frauen- und LGBTQ-Rechte dar, während es gelungen sei, die Frauen in Palästina als durch islamistische Kräfte unterdrückt darzustellen. Die lange Geschichte der Kämpfe von Frauen gegen die Besatzung und Vertreibung zeige jedoch, dass es Israel sei, das als größter Unterdrücker von den palästinensischen Frauen wahrgenommen werde. Im Rahmen eines intersektionalistischen Ansatzes könne man einem Regime, welches Frauen auf Grund ihrer ethnischen Abstammung, ihrer Religion oder ihres Wohnsitzes diskriminiere generell keinen feministischen Geist zusprechen.

Khury Petersen-Smith erklärte, warum die BDS-Bewegung so gut mit Black Lives Matter vernetzt ist. Erstens habe der anti-kolonialistische Kampf in der schwarzen Bewegung Amerikas eine lange Tradition. Bereits die Black Panthers organisierten internationale Kongresse mit der arabischen Welt und Malcolm X bereiste selbst Palästina, um sich ein Bild von der dortigen Apartheit zu machen. Zweitens verbinde beide eine ähnliche Erfahrungswelt. Die Gewalt des israelischen Militärs in der besetzten Westbank ähnele in vielerlei Hinsicht der Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA. Beide Gruppen würden medial marginalisiert und ihr Protest von den herrschenden Klassen als Verwaltungsproblem, nicht als legitimer Ausdruck des Kampfes gegen Ungerechtigkeit geframed. Drittens könnte beide Bewegungen nicht siegen, ohne den prinzipiellen Charakter der auf Kolonialismus gegründeten Staaten zu ändern. Ein solch hoch gestecktes Ziel sei nur gemeinsam zu erreichen.

Die Herausgeber*innen Sumaya Awad & brian bean schoben den versammelten Essays ein eigenes Fazit hinterher. Sie betrachten den Kampf als einen der permanenten Revolution im Sinne Trotzkis. Um die Lage der Palästinenser*innen in Israel zu stärken, müsse die bedingungslose Solidarität der USA mit dem Land geschwächt werden. Um dies zu erreichen, müsse wiederum eine linke Bewegung Fuß fassen, die den eigenen siedlerkolonialistischen Gründungsmythos überwinde und den einst Kolonisierten und heute Marginalisierten im Bündnis mit den armen Arbeiter*innen und kleinen Bäuer*innen zur Macht verhelfe. Und umgekehrt versetze jeder Schlag gegen den Unverwundbarkeitsmythos Israels auch einen gegen den der USA. Um wiederum die Vereinten Nationen so zu stärken, dass sie nicht allein durch die USA blockiert würden, müssten die postkolonialen Länder eine stärkere Stimme bekommen.

Zusammenfassung

Das Buch ist all jenen zu empfehlen, die sich aus erster Hand einen Eindruck von der Argumentation der palästinasolidarischen Bewegung machen wollen. Während Israelis oder jüdische Schriftsteller*innen beispielsweise auf der Frankfurter Buchmesse (zu Recht) eine breite Bühne erhielten, um ihre Sichtweisen vorzutragen, wurde die Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli verschoben. Anstatt der billigen Argumentation zu folgen, dass jetzt nicht die richtige Zeit sei, sich mit der palästinensischen Perspektive auseinanderzusetzen, sollte man es gerade jetzt tun. Um diese Perspektiven zu hören, muss man nicht unbedingt A Socialist Introduction lesen, sondern kann zum Beispiel auch den hervorragenden Podcast Parallelwelt Palästina (Link) hören.

Neben einigen Stärken gibt es auch zwei maßgebliche Schwächen des Buches. Erstens ist die jüdisch-israelische Perspektive für eine dialektisch-materialistische Beurteilung des Konflikt nicht vollständig ignorierbar. Auch wenn man der israelischen Arbeiter*innenklasse eine hohe Affinität zu einem rassistischen Staat zuspricht, so handelt diese keineswegs frei, sondern ist selbst den Imperativen der Profitlogik unterworfen. Eine wirkliche anti-koloniale Perspektive Palästinas darf nicht nur die einfache Negation sein, indem sie Jüd*innen aus dem Nahen Osten zu vertreiben versucht, sondern eine doppelt, die den Siedlerkolonialismus als auch das jüdische Proletariat unterdrückend thematisiert. Auch wenn es angesichts der so offenen Gewalt gegen Palästinenser*innen schwer fällt. Und zweitens krankt das Buch an einem typisch trotzkistischen Revolutionsoptimismus. Die BDS-Bewegung stützt sich auf ein junges, wenig gebundenes akademisches Milieu. Eine wirkliche Volksbewegung muss jedoch auch die Teile der Gesellschaft integrieren, die im Kampf um das tägliche Brot für sich und Familie Konzessionen gegenüber dem Aktivismus machen müssen. Es fehlt ein wenig die Stimme der Palästinenser*innen, die nicht kämpfen können oder wollen und dafür auch gute Gründe vorlegen. Dieser Bevölkerungsanteil wächst und sie wird weiter wachsen, wenn praktische mittelfristige Erfolge ausbleiben. Hier tut sich die Analyse noch schwer und wenn man das Buch liest, scheint es diesen Teil nicht zu geben. Wer ihn aber nicht berücksichtigt, wird die eigenen Kräfte überschätzen.

Dennoch ist besonders der erste Teil des Buches zu empfehlen, wenn man sich den realen Widersprüchen im Krieg Israels gegen den Gazastreifen nähern will.

Literatur:

Awad, S. (Hrsg.) & bean, b. (Hrsg.): Palestine. A Socialist Introduction. Chicago: Haymarket Books. Online verfügbar unter: https://www.haymarketbooks.org/blogs/495-free-ebooks-for-a-free-palestine

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