Zur Geschichte hinter „Free Palestine“ (1/2)

⋄ Der Krieg in Gaza hat in Deutschland zu scharfer Repression gegen die arabische Bevölkerung und einer wachsenden Marginalisierung der palästinensischen Perspektive geführt.

⋄ Um international mehr Verständnis für diese Perspektive zu erreichen, hat der Haymarket Books Verlag drei E-Books kostenlos zum Download angeboten.

⋄ Eines dieser Bücher ist der Sammelband
Palestine – A Socialist Introduction.

⋄ Die Autor*innen beschreiben die Genese des palästinensischen Widerstands, sozialistische Perspektiven und die Rolle der internationalen Solidarität.

⋄ Die wichtigsten Thesen der Autor*innen werden heute und morgen vorgestellt.

„Free Palestine“ ist eine Parole, die sich gerade massiver Kritik ausgesetzt sieht. In den Medien wird sie mit der Zustimmung zur Hamas, islamischem Antisemitismus und vor allen Dingen vermeintlich fehlendem Wissen assoziiert. Während die gleichen Medien die massive Repression, die durch Abschiebeforderungen, Vereins- und Veranstaltungsverbote, sowie Racial Profiling ausgeübt wird, mit keinem Wort erwähnt, wird bei jeder Kundgebung genau Buch geführt, ob sich ein*e Redner*in nicht deutlich genug von Terror distanziert hat. Es bleibt meist bei der Verurteilung einzelner Wortfetzen; die ganze Geschichte, die von Palästinenser*innen erzählt wird – und die man am Ende immer noch kritisieren könnte – bleibt für die Mehrheitsgesellschaft unerzählt. Um die Wissenslücken zu füllen, entschloss sich der linke Haymarket-Verlag, drei E-Books für begrenzte Zeit zum kostenlosen Download anzubieten (Link). Eines davon ist Palestine – A Socialist Introduction. An dieser Stelle sollen einige Thesen des Buches dargestellt werden.

Zur Klarstellung: Das Buch ist bewusst einseitig. Es soll einen bzw. mehrere historisch begründete Narrative zur politischen und historischen Analyse der palästinensischen Befreiungsbewegung darstellen und füllt damit eine im deutschen Diskurs anzutreffende Leerstelle. Selbst unter palästinasolidarischen Linken sind viele Sachverhalte und Einschätzungen nur wenig bekannt. Dass konkurrierende Narrative und deren materielle Grundlage hier mal nicht zu Wort kommen, ist so gewollt, da es um eine spezifisch palästinensische Perspektive geht. Die fehlenden Perspektiven sind andernorts hinreichend abgedeckt.

Zionismus, Siedlerkolonialismus & Bolschewismus

Sumaya Awad & Annie Levin beginnen zunächst mit einer rhetorisch bebilderten Warnung vor einer Romantisierung der gesellschaftlichen Beziehungen vor der Gründung Israels. Sie heben jedoch hervor, dass es beweits vor der Gründung Israels ein palästinensisches Volk gab, auch wenn dieses nicht wie ein modernes Staatsvolk Ländergrenzen und kulturelle Homogenitäten transzendierte. Historisch nicht korrekt lassen die Autorinnen die jüdische Besiedelung Palästinas mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts beginnen, da die die Balfour-Erklärung ihrer Meinung nach eine wesentliche Triebfeder darstellte. Die britische Verwaltung betrieb mit dieser eine Bodenpolitik, die perspektivisch auf die Errichtung eines rein jüdischen Staates zielen sollte. Palästinenser*innen wurden dabei weniger unmittelbar enteignet, sondern Gebiete, die vorher Pachtland oder Allmende waren, wurden eingehegt und die arabische Bevölkerung so von den Mitteln ihrer Reproduktion getrennt. Während der UN-Teilungsplan ohne Beteiligung der arabischen Bevölkerung und gegen den Willen der anrainenden Staaten beschlossen wurde, lag es in den Händen jüdischer bewaffneter Organisationen, diese Teilung real durchzusetzen. Zwischen 1947 und 1948 seien 400 palästinensische Dörfer zerstört und teilweise durch illegale Siedlungen ersetzt worden. Die Autorinnen gingen explizit auf die Geschehnisse im Dorf Tantoura ein, in dem während der Nakba hunderte Einwohner*innen ermordet wurden. Dem Argument, dass zwischen den Jüd*innen und Palästinenser*innen ein Krieg mit Verbrechen auf beiden Seiten vorgelegen habe, begegnen sie mit dem Verweis darauf, dass man kaum von einem gleichberechtigten Krieg sprechen könne, wenn die einheimische Bevölkerung zum Teilungsplan gar nicht gefragt worden sei und gegen eine entsprechendes internationales Machtungleichgewicht hätte ankämpfen müssen.

Als zu kritisierenden Zionismus verstehen die Autorinnen nicht die prinzipielle jüdische Einwanderung oder jüdisches Leben in Palästina, sondern den dezidiert jüdischen Charakter des israelischen Staates, der andere Volksgruppen per definitionem abwerte, was sich in der Abwertung der arabischen Sprache gegenüber der hebräischen oder der staatliche Förderung des jüdischen Siedlungsbaus gegen die Vereinbarungen von Oslo manifestiere. Historisch sehen sie den Zionismus eingebettet in die allgemeine kolonialistische Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als europäische Mächte nur die Form der bürgerlichen Industriegesellschaft als Zivilisation anerkannten und andere Lebensformen – wie kleinbäuerliche oder nomadische in Palästina – marginalisierten. Zum Imperialismus habe der Zionismus ein besonderes Verhältnis. Die Suche nach finanziellen Mitteln, um in den imperialistischen Kriegen mithalten zu können, habe das Osmanische Reich dazu bewegt, Pachtland an jüdische Siedler*innen zu verkaufen, ohne auf die Einschnitte in die Lebensbedingungen der einheimischen Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. Dass dieses Reich den Ersten Weltkrieg auch noch verlor und Palästina unter die Verwaltung des ebenso imperialistischen Großbritanniens stellte, stellte sich dann als doppeltes Unglück für die indigene Bevölkerung Palästinas dar. Mit einem Zitat aus Churchills „Zionismus gegen Bolschewismus“ illustrieren sie die Interessen des Empire in ihrem Mandatsgebiet. Churchill sah unter der jüdischen Bevölkerung Europas einen Herd des Bolschewismus, dessen er sich gerne durch Übersiedlung nach Palästina entledigen wollte.

Der Shoa als Gründungsmythos des Staates Israel komme deshalb so eine große Bedeutung, weil sie die Spaltung der zionistischen Bewegung überwunden hätte. Während noch zu Zeiten des Hitlerfaschismus Kontroversen darüber geherrscht hätten, ob man überhaupt eine Heimat aller Jüd*innen – auch der verarmten osteuropäischen oder kulturell stark unterschiedenen afrikanischen sein wolle – hätte erst das singuläre Verbrechen der Shoa hier Kohärenz geschaffen; allerdings zu dem Preis, dass auch die unterlassene Hilfeleistung während der Shoa zum Erbe der zionistischen Bewegung gehöre.

Shireen Akram-Boshar ging in einem Folgebeitrag noch etwas genauer auf die historischen Verbindungen zwischen Israel und den USA ein. Anfangs sei das Verhältnis durchaus ambivalent gewesen, da man sich von den nationalistischen arabischen und panarabischen Bewegungen ein Bündnis gegen die Sowjetunion erhoffte. Erst als Nasser seine Fühler Richtung Osten ausstreckte, nicht ohne gleichzeitig hunderte ägyptische Kommunist*innen verhaften zu lassen, habe sich die US-Politik an die Seite Israels gestellt, das im Sechs-Tage-Krieg den USA die Aufgabe einer militärischen Eindämmung dankenswerterweise abnahm. Die folgende Zusammenarbeit sei eine Win-Win-Situation gewesen. Während Israel die bedeutendste Militärmacht der Welt im Rücken hatte, war es zugleich für die USA ein Anker politischer Interessen über die Region hinaus. Israel knüpfte stets schnell Kontakte zu international geächteten Regimen wie nach dem Massaker in Indonesien, dem Putsch in Chile oder zum Apartheidsregime in Südafrika. Allerdings mache es die Destabilisierung der Region in Folge des Arabischen Frühlings für die USA überhaupt schwer, eigene Interessen zu identifizieren, wodurch Israel momentan wesentlich größere Autonomie genießt als früher.

Zur politischen Genese der Hamas

Das Buch präsentiert auch einen aktualisierten Text Mostafa Omars über die Klassenfrage im arabischen Raum. Er beginnt zunächst mit einer recht allgemeinen Feststellung: Sowohl an die Sowjetunion angelehnte kommunistische Parteien als auch progressive bürgerliche Regime seien beim Versuch gescheitert, den arabischen Arbeiter*innen demokratische Kontrolle über die von ihnen produzierten Güter zu verschaffen. Diese waren jedoch die zwangsläufigen Verbündeten der Palästinenser*innen, was der Sache immerhin die Anerkennung in der globalen Linken verschaffte, diese jedoch in ihr Scheitern mit einbezog.

Omar setzt bei dem Generalstreik 1936 an, der gerade deswegen gescheitert sei, weil die armen palästinensischen Arbeiter*innen zu schwach und die reichen arabischen Familien zu abhängig von der britischen Verwaltung waren, um gemeinsame Interessen zu formulieren. Die Kommunistische Partei Palästinas, die sich als Kominterngründung ursprünglich für ein bireligiöses sozialistisches Palästina einsetzte, spaltete sich über Stalins Zustimmung zum UN-Teilungsplan. Jenseits moralischer Wertungen bedeutete die Nakba eine tiefgreifende Zäsur für die palästinensische Arbeiter*innenklasse, da sie nun zu 70% aus Geflüchteten in zumeist autoritären Regimen bestand. Letztere zeigten sich aber unwillig, die palästinensische Frage zu lösen, weshalb sich unter Yasser Arafat die Fatah gründete. Obwohl sich diese im Sechs-Tage-Krieg einige Anerkennung als Guerillaorganisation sicherte, repräsentierte sie doch nur die Interessen der sie stützenden wohlhabenden Palästinenser, die in der Emigration immer noch ein gutes Leben führten. Die Interessen der Mehrzahl der palästinensischen Geflüchteten und Arbeiter*innen repräsentierte sie nur in der Propaganda. Da zum Beispiel die Nachbarstaaten nicht erneut in einen kostspieligen Konflikt mit Israel hineingezogen werden wollten, proklamierte die PLO seit den 70ern die Politik der Nichteinmischung. Ohne diese war die PLO jedoch kaum in der Lage, mehr als eine kaum realisierbare Zweistaatenlösung zu forcieren und 1993 in den Osloer Verträgen festschreiben zu lassen.

Doch auch die linke Opposition scheiterte. Die 1967 gegründete PFLP sah sich selbst als Teil einer globalen antikolonialen Bewegung, die im Gleichschritt mit der Revolution auf Kuba oder dem antiimperialistischen Kampf in Vietnam marschierte. Sie kritisierte das Konzept der Nichteinmischung und argumentierte, dass der Weg nach Jerusalem in Kairo beginne. Dies äußerte sich zum Beispiel darin, dass sie auch jordanische Landarbeiter*innen für den Guerillakampf agitierte. Die DFLP wiederum war die erste palästinensische Widerstandsorganisation, die auch mit der israelischen Linken kooperierte. Beide Gruppen schlossen jedoch nach dem Schwarzen September 1970, der Zerschlagung des palästinensischen Widerstands in Jordanien als Machtfaktor, die Reihen mit der PLO. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem langsamen Niedergang der Guerillabewegungen im Trikont verloren sie zudem ihre internationale Basis.

Während die bürgerliche PLO und die kommunistischen Gruppen sich durch die Fokussierung auf den Widerstand nur in Palästina selbst schwächten, waren es die islamistischen Gruppen, welche durch die religiöse Ideologie per definitionem internationalistisch ausgerichtet waren. Die beiden wichtigsten Gruppen waren die Muslimbrüder, die ein riesiges transnationales Solidaritätsnetzwerk darstellten und der Ägyptische/ Palästinensische Jihad, der für eine verstärkte Politisierung und Militarisierung eintrat. Die Hamas war eine Gründung der Muslimbrüder, welche durch ein politisch-militantes Programm dem Jihad die Mitglieder abgraben wollte. Die in kurzen Auszügen sehr bekannte Charta der Hamas muss in diesem Kontext interpretiert werden, sowie vor dem Hintergrund des Scheiterns der diplomatischen Bemühungen der PLO. Mit der Absehbarkeit des Scheiterns des Osloer Abkommens und der israelischen Besetzung des Gazastreifens gewann die Hamas immer mehr an Popularität.

Die Hamas vertrete nach Omar dabei eine ambivalente Rolle zum Weltimperialismus. Auf der einen Seite ist sie ein Gegner der wichtigsten Stütze Israels, des US-Imperialismus. Auf der anderen Seite ist sie nicht abgeneigt, die Imperative des IWF oder der Weltbank zu akzeptieren, die für Millionen arabischer Arbeiter*innen ein großes Unglück bedeuteten. Die Klassenbasis der Hamas ist dabei die gleiche wie die der PLO, sodass die Interessen der Arbeiter*innen und Geflüchteten permanent unter die einer bürgerlichen untergeordnet werden. Sowohl Fatah als auch Hamas hätten durch die Monopolisierung der Macht die Arbeiter*innen zwar abhängig von sich gemacht, seien jedoch nicht in der Lage ihre Interessen konsequent zu vertreten, weshalb beide ein demokratisches Votum fürchten.

Omar schließt mit der Perspektive des palästinensischen Widerstands ab. Eine neue Intifada als Massenbewegung ist unter Führung von Fatah oder Hamas unrealistisch, da sie Macht an die Arbeiter*innenklasse abtreten müssten. Ebenso fürchten autokratische umliegende Regime einen Volksaufstand, da dieser stets droht, auch auf die Arbeiter*innen und Bäuer*innen der Nachbarländer überzugreifen. Der Konflikt sei letztendlich kein territorialer, sondern ein politischer. Durch Unterstützung der palästinensischen Arbeiter*innenklasse in ihren tagtäglichen Kämpfen müsse sich eine neue sozialistische Bewegung aufbauen, die mit anschwellender Macht Israel als monoethnischen und kapitalistischen Staat nicht militärisch, sondern politisch in die Knie zwingen könnte.

Die israelische Arbeiter*innenklasse

Daphna Thier versuchte im Anschluss auszuloten, inwiefern die israelische Arbeiter*innenklasse ein Verbündeter der palästinensischen Arbeiter*innenklasse sei. Denn schließlich sollten sie nach marxistischer Theorie mehr gemeinsame Interessen teilen als mit ihren jeweiligen nationalen Bourgeoisien. Sie setzt dabei bei einem Artikel von Moshe Machover (Näheres hier & hier) und Akiva Orr aus dem Jahre 1969 an. Sie argumentierten darin, dass der Siedlerkolonialismus relative Autonomie gegenüber der Klassenfrage besitze und das israelische Proletariat große Vorteile aus diesem zöge, die es an das zionistische Regime binde. So beruhe die Leistungsfähigkeit des israelischen Sozialstaats auf billiger palästinensischer Arbeit und nur die Hilfe der USA mache die enormen Militärausgaben für die Arbeiter*innenklasse kaum spürbar. Ein Sonderfall Israels sei es, dass in der ersten und zweiten Alijah Arbeiter*innenorganisation und die Kibbutzim-Bewegung aktiv an der ursprünglichen Akkumulation beteiligt waren. Der Kapitalismus in Israel entwickelte sich unter der Führer der mittlerweile verschwundenen Arbeiterpartei Ben-Gurions. Und das hat Auswirkungen auf die Klassenstruktur.

Der Anteil an White-Collar-Jobs der jüdischen Lohnabhängigen stellt mit 57% im Jahre 2016 einen weltweiten Spitzenwert dar. Demgegenüber hat die arabische Bevölkerung einen viermal so hohen Anteil an der niedrig qualifizierten Arbeit. Der Anteil der jüdischen Arbeiter*innenklasse, der unmittelbar Anteil am Schicksal der arabischen hat, schrumpft also. Es ist jedoch dieser Teil, der sich in der Vergangenheit wenigstens im Kleinen durch persönliche und verhaltene politische Solidarität auszeichnete. Dabei ist die jüdische Gesellschaft dennoch so ungleich wie nie zuvor. Insbesondere das Leben der ärmeren Arbeiter*innenklasse hängt massiv von staatlichen Förderungen ab; und die werden ethnisch unterschiedlich verteilt. Der Staat gibt 35% mehr pro jüdische*r Bürger*in aus als pro arabischer. Hinter der Zustimmung zum dezidiert jüdischen Charakter des Staates steht also auch ein materielles Interesse gerade des Teils der Arbeiter*innenklasse, die sich noch am ehesten mit der Situation der Palästinenser*innen identifizieren kann. Darüber hinaus ist die wichtigste Aufstiegsmöglichkeit von Jugendlichen aus der ärmeren Bevölkerung der Komplex der israelischen Streitkräfte, einschließlich ideologischer Indoktrination.

Dennoch gibt es auch positive Beispiele für einen gemeinsamen Kampf jüdischer und palästinensischer Arbeiter*innen in Israel. Zu nennen wäre hier die Bewegung der Mizrachi Israeli Black Panthers, einer marginalisierten jüdischen Gruppe, die ihre Anerkennung mit der der Palästinenser*innen verband. Oder die Zeltbewegung 2011, wo alle Teile der jugendlichen Arbeiter*innen gegen die sich verschärfende Wohnungsnot protestierten. Und auch die Anti-Netanyahu-Proteste 2017 und 2022/23 offenbarten zumindest Anknüpfungspunkte für einen gemeinsamen Kampf gegen eine Rechte, die durch ihren Machtgewinn drohte, selbst die israelische demokratische Mitte zu entmachten. Es ist jedoch bezeichnend, dass keine dieser Bewegungen die heißen Phasen des nationalen und kolonialen Konflikts zwischen israelischem Staat und palästinensischer Bewegung überlebte.

Fortsetzung morgen

Literatur:

Awad, S. (Hrsg.) & bean, b. (Hrsg.): Palestine. A Socialist Introduction. Chicago: Haymarket Books.

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